„Der junge Mann“ von Annie Ernaux



„Der junge Mann“ von Annie Ernaux

Nobelpreisträgerin Annie Ernaux erzählt auf nur wenigen Seiten die Geschichte einer Frau und ihrer ‚skandalösen‘ Liebesbeziehung zu einem deutlich jüngeren Mann. Tabubruch oder längst überfällig? Unsere Meinung lest ihr hier.

Annie Ernaux – Worum es in Der junge Mann geht

Die Ich-Erzählerin ist Mitte 50 und beginnt eine Beziehung mit einem 30 Jahre jüngeren und dazu sogar noch vergebenen Mann. Die beiden lieben sich leidenschaftlich und unternehmen viel miteinander. Unsere Protagonistin fühlt sich lebendig und erlebt Dinge mit A., von denen sie nicht glaubte, sie noch ein weiteres Mal erleben zu dürfen.

„Er begegnete mir mit einer Leidenschaft, wie ich sie mit vierundfünfzig Jahren noch bei keinem Mann erlebt hatte.“

 A. trennt sich schließlich sogar von seiner Freundin und schmiedet Zukunftspläne. Kann die Ich-Erzählerin ihm das bieten, was er sich wünscht? Will sie es überhaupt?

Schließlich ist er auch immer wieder aus den unsinnigsten Gründen eifersüchtig. Dabei ahnt er nicht, dass der einzig mögliche Grund für seine Eifersucht nicht in der Gegenwart liegt und auch mit keinem anderen Mann zu tun hat. 

„Er entriss mich meiner Generation, aber ich gehörte nicht zu seiner.“

 

Wie uns das neue Buch von Annie Ernaux gefällt

Auf diesen 48 Seiten schafft Annie Ernaux es nicht nur, uns vollkommen in ihren Bann zu ziehen, sie gibt uns auch wirklich viel Stoff zum Nachdenken. Nicht jede Schriftstellerin schafft es, so viel Gewicht in so wenig Text zu legen und die Emotionen so pointiert herüberzubringen.

„A. machte mich darauf aufmerksam, dass wir anstößiger waren als ein homosexuelles Paar.“

Warum ist es noch immer so verpönt, wenn eine ältere Frau mit einem jüngeren Mann zusammen ist? Umgekehrt ist es doch auch nicht so, war es nie. Die Blicke, die das Paar in der Öffentlichkeit erntet, sagen da ja schon alles. Doch anders als noch vor einigen Jahren – beispielsweise als Teenager mit der angeblich falschen Kleidung - fühlt sich unsere Protagonistin heute nicht mehr schlecht dabei. Und das sollte sie unserer Ansicht nach auch nicht.

„Ein Blick, der mich gerade nicht mit Scham erfüllte, sondern mich darin bestärkte, meine Beziehung zu einem Mann, der »mein Sohn hätte sein können«, nicht zu verstecken, wenn jeder Mittfünfzigjährige eine junge Frau an seiner Seite haben konnte, die offensichtlich nicht seine Tochter war, ohne Missbilligung zu erregen.“

 

Annie Ernaux erzählt so viel ganz klar und in wenigen Worten. Das ist eine wahre Kunst. Nicht nur die Gefühle, die A. in unserer Protagonistin auslöst, und wie sie sich entsprechend verhält, sind Themen. Auch die Rückblicke in ihre eigene Vergangenheit, die Veränderung der Protagonistin und der Gesellschaft sowie auch eine mögliche Zukunft spielen hier eine zentrale Rolle.

Es ist wichtig, sich niemals für sich selbst schämen zu müssen – schon gar nicht wegen Verhaltensweisen, die die Gesellschaft aus uns unerfindlichen Gründen als unangebracht abtut. Wir sind weiter als noch vor 30 Jahren, schlauer und mutiger. Der junge Mann passt also perfekt in die heutige Zeit, um auch dieses letzte (scheinbare) Tabu zu brechen.

„Ich hatte den Eindruck, wieder das skandalöse junge Mädchen von damals zu sein. Doch diesmal ohne die geringste Scham, mit einem Triumphgefühl.“

 



Über Annie Ernaux

Annie Ernaux bezeichnet sich als „Ethnologin ihrer selbst“ und begeistert schon seit etlichen Jahren ihre Leser*innen. Ihr literarisches Werk ist primär autobiografisch geprägt und zeigt ihr Leben und ihre Entwicklung vom Arbeiterkind in der Normandie bis hin zur bekannten Autorin. Annie Ernaux ist Mutter zweier Söhne und lebt in der Nähe von Paris.

Die französischsprachige Schriftstellerin begeistert ihre Leserschaft und wird von der Kritik gefeiert. Nicht umsonst wurde sie so zahlreich ausgezeichnet, 2022 sogar mit dem Nobelpreis für Literatur.

 

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