Wolfgang Schmidbauer
Das kalte Herz
Von der Macht des Geldes und dem Verlust der Gefühle
Wolfgang Schmidbauer
Das kalte Herz
Von der Macht des Geldes und dem Verlust der Gefühle
Einleitung
1. Das kalte Herz
2. Depression als Volkskrankheit
3. Gefühlskälte, Geld und Größenwahn
4. Das Erkalten der Liebe
5. Geld oder Leben
6. Szenen des Empathieverlusts: Mobbing und Stalking
7. Evolution und Empathie
8. Die empathische Versagung
9. Vom Narzissmus zur Empathie
10. Empathie und Migration
11. Empathie und Macht
12. »Wehret den Anfängen« – Empathie und Justiz
13. Ausblick
Literatur
Anmerkungen
Der Autor
Impressum
In dem Märchen Das kalte Herz schildert Wilhelm Hauff den heimlichen Raub am Zentrum der Emotionen. Die Zerstörungen des Kapitalismus machen nicht nur gerodete Wälder und tote Flüsse aus, »autogerechte« Städte und das von Müll und Erdöl verschmutzte Meer. Sie treffen auch unsere Innenwelt. Das geschieht auf dem Weg über die Familien, über die Art, wie Eltern ihre Kinder erziehen und Kinder ihre Eltern nicht mehr als Vorbilder brauchen können, sondern sich Surrogaten aus Ware und medial vermitteltem Bild zuwenden. Es geschieht in den erotischen Beziehungen, wenn Liebende beginnen, Empathie in ihr Gegenüber durch trendige Normierung zu ersetzen. Nicht weniger gefährlich sind die Veränderungen in den Betrieben, in denen Rücksichtslosigkeit gegen fremde und eigene Gefühle als Zeichen von Einsatz und Flexibilität gelten.
Im Turbo-Dating ist so wenig Platz für Empathie wie in den mechanischen Ritualen der Pornographie, die Internetnutzern in tausendundeiner Variante zugänglich sind. Weniger sichtbar sind die Depressionen, wenn die Illusion einer Liebesbeziehung zerbrochen ist und die Kraft fehlt, sich zu trennen und neu zu orientieren.
Der Mensch ist hier Täter und Opfer zugleich. Unter dem Einfluss der Geldwirtschaft entstehen seelische Filter, welche jene Aspekte unserer Emotionen begünstigen, die zu den Kapitalinteressen passen. »Wer zahlt, schafft an« – Geld kappt die Wurzeln des Geistes in den Emotionen. Indem es potenziell jedes Ding, jede Handlung und Eigenschaft eines Menschen mit einer Zahl verbindet, unterwirft eine an Macht und Gier orientierte Zweckmäßigkeit die Vielfalt unserer Träume und Leidenschaften. Oscar Wilde hat von Menschen gesprochen, »die von allem den Preis und von nichts den Wert kennen«.[1]
Je mehr uns die Unübersichtlichkeiten der Globalisierung verwirren und bedrücken, desto bedeutungsvoller wird die große Vereinfachung, die das Geld ermöglicht, desto attraktiver die falsche Sicherheit, die ein schneller Gewinn mit sich bringt. Solche Hintergrundmotive machen es schwer, Reformen durchzusetzen, die auf langfristige Stabilität zielen.
In der von Spekulation und Wette beschleunigten Wirtschaft spitzt sich gegenwärtig ein Prozess zu, den bereits Marx beschrieben hat: eine wachsende Rastlosigkeit, bedingt durch Zwänge des Kapitals, sich selbst immer wieder neu zu erfinden. Die Guten besiegen nicht mehr die Schlechten, sondern die Schnellen die Langsamen.
Die psychologische Folge ist eine Rückentwicklung. Die primitiven, »schnellen« Affekte von Angst und Wut sowie deren manische Abwehr überwältigen die differenzierten Leistungen der Psyche, den Reichtum an zweckfreien Träumen, an emotionaler Nähe und der Bereitschaft, langfristige Folgen zu bedenken. »Was hilft mir Einfühlung, was nützt mir Weisheit, was habe ich von der Sorge um die Zukunft, wenn sie mir Entscheidungen nahelegen, die mich Geld kosten oder Macht?«
So scheinen sich die (Kapital-)Mächtigen der Gegenwart zu fragen. In den Zentren des Kapitalismus werden Politiker vor allem aufgrund ihrer Fähigkeiten gewählt, eine manische Abwehr zu festigen. So ist es nur logisch, dass ihre Beliebtheit nach triumphalen Wahlsiegen schnell abnimmt. Das ist so in der Tat allen amerikanischen Präsidenten in den letzten Jahrzehnten ergangen, sobald sie die Macht in Händen hielten. Wer Barack Obamas emotionalen Ausdruck in seinen öffentlichen Auftritten verfolgt hat, erkennt den Verschleiß an Freude und Zuversicht: So erfolgreich wie ein Kandidat wird ein Präsident niemals sein.
Wie jede Sucht macht auch die Sucht nach Geld den Menschen zunächst auf lügnerische Weise stärker. Psychologisch handelt es sich dabei um die Abwehr einer untergründigen Trauer. Jeder Süchtige meint, ein Mittel in Händen zu haben, mit dessen Hilfe er sich von Unsicherheit befreien kann. Als hätten sie Hauff gelesen, wurde cool in den USA zum Signum eines fortschrittstauglichen Charakters nicht nur unter den Junkies, aber von ihnen ausgehend.
Abhängigkeit von der Droge des Kapitalismus schwächt die Kraft, anders als panisch auf drohende Einschränkungen zu reagieren. So sind die Industriegesellschaften Produzenten wachsender Ängste geworden. In Umfragen wird das Jahr 2000 zum Wendepunkt, von dem an mehr als einer Hälfte der Bevölkerung mulmig wird. 2010 fürchten sich bereits zwei Drittel der Bürger vor einer ungewissen Zukunft.[2] Die manische Abwehr wird von der Einsicht gekippt. Eine Wirtschaft, die für ihre ökologische Stabilität vier und mehr Planeten von der Größe der Erde bräuchte, kann uns kein sicheres Leben bieten.
Ein Zeichen für den wachsenden Bedarf nach Stützen der manischen Abwehr ist ein penetranter Eventhunger. Er durchdringt alle Zweige des öffentlichen, aber auch privaten Lebens, vom Tod des Papstes bis zur Olympiade, vom Selbstmord eines Prominenten bis zur Rettung von verschütteten Grubenarbeitern.[3]
Je weiter Spezialistenwissen unsere Welt in immer kleinere Teile auflöst, desto stärker wächst das Bedürfnis nach Vereinfachung. Der Wunsch nach Synthese lässt uns nach psychologischen Begriffen suchen, die eine neue und gute Einheit unter den Menschen versprechen. Nach der »emotionalen Intelligenz« und dem »positiven Denken« – beides Widersprüche in sich – gerät gegenwärtig die Empathie in Mode.
Jeremy Rifkin behauptet in seinem jüngsten Buch Die empathische Zivilisation, es gebe etwas wie eine zwangsläufige Entwicklung zu einem globalen, von Einfühlung beherrschten Bewusstsein. Unser Einfühlungsvermögen habe sich über die Jahrhunderte hinweg entfaltet. Es wachse parallel zur kulturellen Entwicklung, werde vielfältiger, beziehe sich genauer auf die Individuen.
Rifkin scheint mir hier den Glauben an den Slogan science is power zu übertreiben.[4] Wenn wir mehr wissenschaftliche Texte über die sozialen Seiten des Menschen, sein Bedürfnis nach Empathie, seine Freude am Austausch mit seinesgleichen haben, ist das zunächst einmal nicht viel folgenreicher als Schillers Ode an die Freude[5], die ja durchaus Ähnliches sagt. Rifkin unterschätzt die Macht der Gegenkräfte und die Tatsache, dass Einfühlung nur unter günstigen Bedingungen funktioniert. Und er erinnert sich zu wenig an die Möglichkeiten des Missbrauchs der Empathie, auf die Ernst Bloch hingewiesen hat: Nazis sprechen betrügend, aber zu Menschen, die Kommunisten völlig wahr, aber nur von Sachen.[6]
In ihrer Rhetorik scheinen sich inzwischen alle Politiker einig darüber zu sein, dass es wichtig ist, sich in ihre Wähler einzufühlen. Freilich führt das eher dazu, ihnen gefährlich lange unangenehme Wahrheiten zu ersparen. Eine Rede, die Mühe, Schweiß und Tränen verspricht, wie sie Churchill 1940 gehalten hat, würde heute am Einspruch der Medienberater scheitern. Ist das die Anwendung der Empathie, die wir uns wünschen?
Einfühlung setzt ein entspanntes Erlebnisfeld voraus. Wo Angst oder Wut dominieren, hat die Empathie keinen Platz mehr, so wünschenswert und hilfreich sie wäre. Konflikte in Familien oder am Arbeitsplatz entstehen immer dann, wenn die Gegner sich nicht mehr »verstehen«, das heißt sich nicht in den jeweils anderen versetzen können. Angesichts der krassen Einfühlungsmängel, welche die jugendlichen Amoktäter in Erfurt und Winnenden auszeichneten, rufen manche im Kontext des Empathiebooms nach Unterricht in dieser Kunst. Tun das die gleichen Bildungspolitiker, die seit Jahren die musischen Fächer zugunsten der mathematisch-technischen zurückfahren? Kindliche Empathie muss nicht aktiv gefördert werden; sie entfaltet sich, wenn angstfreie Räume zur Verfügung stehen. Wo Leistungsforderungen dominieren, schwindet Einfühlung. Alles, was mit Spiel, mit Kreativität zu tun hat, stimuliert die Einfühlung. Solche Einsichten der psychologischen Forschung stecken schon in wohlbekannten Sprichwörtern wie dem, das dem deutschen Dichter Johann Gottfried Seume zugeordnet wird:
»Wo man singt, da laß dich ruhig nieder,
böse Menschen haben keine Lieder.«
Ein Chor, eine aus unterschiedlichen Nationalitäten zusammengesetzte Fußballmannschaft oder einer der interkulturellen Gärten, welche von Stiftungen gefördert werden, sind Beispiele für soziale Orte, in denen Empathie wachsen kann. Wenn Schulen sich der Aufgabe stellen wollen, Einfühlung zu vermehren, wäre ein fachübergreifendes Projekt mit Künstlern oder Handwerkern sicher sehr viel angebrachter als eine Unterrichtseinheit mit diesem Titel, in der ein Biologielehrer über Spiegelneurone doziert.
Heinrich von Kleist hat schon früh die Frage beantwortet, wie wir empathiefähige Kinder erziehen können; in seiner charakteristischen Art tat er es ironisch:
»Die unverhoffte Wirkung
Wenn du die Kinder ermahnst, so meinst du,
dein Amt sei erfüllet.
Weißt du, was sie dadurch lernen? –
Ermahnen, mein Freund!«[7]
Einfühlung ist ein spontanes Geschehen; wer sie erlernen will, muss nichts tun, sondern etwas geschehen lassen. Er muss starre Vorstellungen von richtig und falsch aufgeben und versuchen, in den Schuhen eines anderen zu gehen. Das ist nicht immer leicht, vor allem dann nicht, wenn dieser andere ein Feind ist.
Je mühsamer es ist, sich eine soziale Rolle anzueignen und sie zu bewahren, desto weniger Kraft bleibt übrig, um sich in andere zu versetzen und der eigenen emotionalen Schwingungsfähigkeit ihren Platz zu lassen. Wer sehr verängstigt, traumatisiert, durch Fanatismus eingeengt ist, hat wenig von dem inneren Raum, in dem die Probe-Identifizierungen der Empathie stattfinden können. Es ist leicht, von Eltern zu verlangen, sie sollten sich doch bitte daran erinnern, wie es sich anfühlt, Kind zu sein. Es ist billig festzustellen, dass Eltern, die das können, ihre Kinder müheloser erziehen. Aber wenn sich Eltern unter heftigem Konkurrenzdruck fühlen, wird ihnen das Ergebnis (etwa die Schulnote) immer wichtiger, und der Raum für die Einfühlung schwindet.
Wie wahr Brechts brutal klingender Spruch Erst kommt das Fressen, dann die Moral ist, hat der amerikanische Anthropologe Colin Turnbull 1972 an einem ganzen Volk demonstriert. Er schildert den Untergang der Ik, einer marginalisierten, vertriebenen, durch Hungersnöte geschwächten Ethnie in Tansania. Er hat mit den Ik gelebt und beschreibt seine Erschütterungen angesichts der seelischen Verwüstungen, welche ein extremer kultureller Niedergang anrichtet.[8] Der einzige positive Affekt, den Turnbull unter diesen gebrochenen Menschen beobachtete, war die Schadenfreude – Ik-Mütter lachten, wenn sich ihr Kind am Lagerfeuer verbrannte.
Seine Beschreibung erinnert an Primo Levis Notizen zum psychischen Notprogramm der Auschwitz-Häftlinge. Ich glaube nicht an den so augenfälligen und einfachen Schluss, dass der Mensch von Natur aus so brutal, egoistisch und töricht sei, wie er sich zeigt, wenn ihm jeder zivilisatorische Überbau entzogen wird, und dass der Häftling demzufolge nichts anderes sei als der Mensch ohne Hemmungen. Ich glaube lediglich, man kann hier schlussfolgern, dass Entbehrung und größtes körperliches Leiden viele Gewohnheiten und viele soziale Regungen zum Verstummen bringen.[9]
In Hauffs Kunstmärchen geht es vor allem um den Gegensatz zwischen Gefühl und Geld. Wer sich Anerkennung, hilfreiche Dienste, vielleicht sogar Freundschaft und Liebe kaufen kann, gefährdet die emotionalen Bindungen zwischen den Menschen. Er reduziert sie auf ein Machtkalkül. Geld gleicht dem abgrundtiefen Zauber des Bösen in Tolkiens Geschichte vom Herrn der Ringe.
Was Tolkiens Heldensage über seine Vorgänger und Epigonen in der Welt der Fantasy-Literatur erhebt, ist das postmoderne Grundthema. Es geht nicht um ein Mehr, sondern um ein Weniger, es geht nicht darum, Reichtum anzusammeln, sondern die Verführung der Macht loszuwerden. Das wirkt auf den ersten Blick angesichts der Übermacht des Feindes (welche nichts anderes ist als die eigene Gier) hoffnungslos. Es gelingt aber doch, bezeichnenderweise durch die Fähigkeit, Grenzen der eigenen Voraussicht anzunehmen und in unsicherem Gelände den Mut nicht zu verlieren.
Wer sich aus der Zwangsjacke befreien will, in die uns die Angst vor Armut und die Gier nach Teilhabe an den verrückten Ansprüchen der Konsumgesellschaft fesseln, muss nichts aufregend Neues erwerben. Das wäre eine ähnliche Illusion wie die des Kohlenmunk-Peters, dem doch auch ein Herz versprochen wird, das besser funktioniert.
Es geht eher darum, sich unerschrocken der Banalität zu stellen, dass wir alle Menschenkinder sind, angewiesen auf einen einzigen geschundenen Planeten. Und herauszufinden, welchen Reichtum an Mitgefühl, Phantasie, Intuition und Sinnlichkeit jeder von uns in sich trägt, sobald er lernt, jene leise innere Stimme wieder zu hören, die Angst und Gier widersteht.
Aber ein Köhler hat viel Zeit zum Nachdenken über sich und andere, und wenn Peter Munk an seinem Meiler saß, stimmten die dunklen Bäume umher und die tiefe Waldesstille sein Herz zu Tränen und unbewußter Sehnsucht. Es betrübte ihn etwas, es ärgerte ihn etwas, er wußte nicht recht was.
Von den früh vollendeten Dichtern, deren Tod Phantasien weckt, was alles aus ihnen hätte werden können, ist Wilhelm Hauff einer der weniger bekannten. Er starb 25 Jahre alt, frisch promoviert, jung verheiratet, wenige Tage nach der Geburt einer Tochter. Die Erkältung, welche sich zu einem Nervenfieber verschlechterte, hatte Hauff sich auf dem Begräbnis von Wilhelm Müller (1794 – 1827), dem Dichter der von Schubert vertonten Winterreise, zugezogen.
Hauffs bekanntestes Werk, der Roman Liechtenstein, schildert bereits den Zusammenprall der Bauernaufstände mit einer noch idealisierten feudalen Tradition. Das Buch bewog einen schwäbischen Fürsten, die geschilderte mittelalterliche Feste detailgetreu nachzubauen, noch lange bevor Ludwig II. von Bayern durch solche Inszenierungen von sich reden machte.
Das kalte Herz wird kunstvoll in die Rahmenerzählung Das Wirtshaus im Spessart eingeschachtelt. Oberflächlich gesehen ist es eines der zahlreichen Märchen über den Pakt mit dem Bösen, gefärbt vom romantischen Optimismus: Rettung aus dem Abgrund, weil der nach Geld und Erfolg bei den Frauen gierende Kohlenpeter eine treue Ehefrau und einen hilfreichen Gegenzauber findet.
Hauff war ein Getriebener, er arbeitete rastlos. Er gönnte sich während seiner Infektion keine Ruhe, das mag seinen Tod beschleunigt haben. Auf jeden Fall spricht es dafür, dass er die Ängste, welche die Geschichte durchziehen, aus eigenem Erleben kannte: narzisstische Ängste, die er seinen Helden aussprechen lässt: Und wenn Peter Munk, rein gewaschen und geputzt, in des Vaters Ehrenwams mit silbernen Knöpfen und mit nagelneuen roten Strümpfen erscheint, und wenn dann einer hinter mir hergeht und denkt, wer ist wohl der schlanke Bursche? und lobt bei sich die Strümpfe und meinen stattlichen Gang – sieh, wenn er vorübergeht und schaut sich um, sagt er gewiß: »Ach, es ist nur der Kohlenmunk-Peter.«
Peter Munk will nicht nur mehr sein, als er ist; er will auch etwas anderes sein. Wir können ihn uns als ödipalen Sieger vorstellen: früh verwaist, einziger Sohn einer Mutter, die ihn verehrt und ihm die Wünsche von den Augen abliest, ihn in seinen Größenwünschen unterstützt, ohne ihm den Halt zu bieten, den der Vater geben könnte. Wunder freilich kann sie nicht tun. Sie kann ihrem Liebling kein neues, anderes, besseres Leben schenken.
Das können die beiden Waldgeister, die zugleich für das natürliche Kapital des Waldes stehen: das Glasmännlein für die Glashütten, die im Schwarzwald wie im Bayerischen und Böhmerwald entstanden und dort frühe Formen der Industrialisierung schufen, der Holländer-Michel aber für die Flößerei. Wem es gelang, hohe Tannenstämme rheinabwärts bis nach Holland zu flößen, der kehrte mit hohem Gewinn zurück und konnte diesen über die Jahre hin verdoppeln, ganz anders als der Holzhändler vor Ort.
Hauffs Geschichte ist nicht naiv, obwohl sie den tragischen Niedergang der traditionellen Wirtschaft märchenhaft auflöst. Der Dichter zeigt die Verführung der Menschen durch die neuen Verdienstmöglichkeiten. Während das Glasmännlein darauf besteht, dass Peter mit den geschenkten Möglichkeiten vernünftig umgeht, nutzt sie der böse Holländer-Michel, um dem gescheiterten Glasmacher sein fühlendes Herz abzuluchsen.
Was Peter Munk ins Verderben stürzt, ist sein Neid auf den reichen Ezechiel, einen erfolgreichen Floßherrn, der im Wirtshaus mit Goldstücken um sich wirft, ansonsten aber hartherzig und geizig ist, und sein Neid auf den Tanzbodenkönig, der von allen Frauen nicht nur als Tänzer begehrt wird. Wie der Leser nach und nach erfährt, sind die beiden längst dem Teufel verschrieben, in ihrer Brust sitzt ein Herz aus Stein. Indem er ihnen nacheifert, versäumt Peter, die schöne Glashütte recht zu versorgen, die ihm das Glasmännlein geschenkt hat.
Dieser gute Waldgeist hat Peter ermahnt, er müsse sich auch den rechten Verstand wünschen, nicht nur das eindrucksvolle Gewerbe. Ihr seid ein sonderbar Geschlecht, ihr Menschen! Selten ist einer mit dem Stand ganz zufrieden, in dem er geboren und erzogen ist, und was gilt’s, wenn du ein Glasmann wärest, möchtest du gern ein Holzherr sein, und wärest du Holzherr, so stünde dir des Försters Dienst oder des Amtmanns Wohnung an. Aber es sei: Wenn du versprichst, brav zu arbeiten, so will ich dir zu etwas Besserem verhelfen, Peter. Ich pflege jedem Sonntagskind, das sich zu mir zu finden weiß, drei Wünsche zu gewähren. Die ersten zwei sind frei; den dritten kann ich verweigern, wenn er töricht ist.
Aber statt Verstand wünscht sich Peter, stets so viel Geld zum Würfelspiel in den Taschen zu haben wie Ezechiel und besser tanzen zu können als der Tanzbodenkönig. So wird er der Spielpeter und der Tanzbodenkaiser genannt und ist jeden Tag im Wirtshaus, bis er dem Ezechiel in größter Gier alles Geld im Spiel abgewinnt – und mit einem Schlag selbst nichts mehr in der Tasche trägt.
Die Glasbläser in Peters Hütte haben gearbeitet, ohne dass jemand darauf achtete, ob ihre Werke auch verkäuflich seien. Am Ende erdrückt die Schuldenlast das Gewerbe, Peter wird mit Schande davongejagt. Jetzt liefert er sich dem Bösen aus. Der Holländer-Michel geht geschickt vor; er lädt Peter in sein Haus ein und erzählt ihm in leuchtenden Farben von seinen Reisen. Dann redet er ihm zu, doch einmal recht zu bedenken, dass es sein Mitgefühl, Mitleiden, seine Ängste und Rücksichtnahmen gewesen seien, die ihn ins Unglück gestürzt hätten.
Du hast, nimm es mir nicht übel, hundert Gulden an schlechte Bettler und anderes Gesindel weggeworfen; was hat es dir genützt? Sie haben dir dafür Segen und einen gesunden Leib gewünscht; ja, bist du deswegen gesünder geworden? Um die Hälfte des verschleuderten Geldes hättest du einen Arzt gehalten. Segen, ja ein schöner Segen, wenn man ausgepfändet und ausgestoßen wird! Und was war es, das dich getrieben, in die Tasche zu fahren, so oft ein Bettelmann seinen zerlumpten Hut hinstreckte? – Dein Herz, auch wieder dein Herz, und weder deine Augen noch deine Zunge, deine Arme noch deine Beine, sondern dein Herz; du hast dir es, wie man richtig sagt, zu sehr zu Herzen genommen.
So wird Peter neugierig und möchte wissen, was er denn tun kann gegen seine lästigen Gefühle. Aber wie kann man sich denn angewöhnen, daß es nicht mehr so ist? Ich gebe mir jetzt alle Mühe, es zu unterdrücken, und dennoch pocht mein Herz und tut mir wehe.
So kommt Peter in die Kammer, wo der Böse die Herzen aufbewahrt, die er ihren Trägern abgeluchst hat. Auf mehreren Gesimsen von Holz standen Gläser, mit durchsichtiger Flüssigkeit gefüllt, und in jedem dieser Gläser lag ein Herz; auch waren an den Gläsern Zettel angeklebt und Namen darauf geschrieben, die Peter neugierig las; da war das Herz des Amtmanns in E, das Herz des dicken Ezechiel, das Herz des Tanzbodenkönigs, das Herz des Oberförsters; da waren sechs Herzen von Kornwucherern, acht von Werbeoffizieren, drei von Geldmaklern – kurz, es war eine Sammlung der angesehensten Herzen in der Umgebung von zwanzig Stunden.
»Aber was tragen sie denn jetzt dafür in der Brust?« fragte Peter, den dies alles, was er gesehen, beinahe schwindeln machte.
»Dies«, antwortete jener und reichte ihm aus einem Schubfach – ein steinernes Herz.
»So?« erwiderte er und konnte sich eines Schauers, der ihm über die Haut ging, nicht erwehren. »Ein Herz von Marmelstein? Aber, horch einmal, Herr Holländer-Michel, das muß doch gar kalt sein in der Brust.«
»Freilich, aber ganz angenehm kühl. Warum soll denn ein Herz warm sein? Im Winter nützt dir die Wärme nichts, da hilft ein guter Kirschgeist mehr als ein warmes Herz, und im Sommer, wenn alles schwül und heiß ist – du glaubst nicht, wie dann ein solches Herz abkühlt. Und wie gesagt, weder Angst noch Schrecken, weder törichtes Mitleiden noch anderer Jammer pocht an solch ein Herz.«
Peter Munk lässt sich das kalte Herz einsetzen, geht auf Reisen, freut sich über nichts, fürchtet sich vor nichts. Um sich abzulenken, wird er ein erfolgreicher Wucherer, bei dem der halbe Schwarzwald Schulden hat. Er kümmert sich nicht um seine alte Mutter, die ein Bettelweib geworden ist, und heiratet Lisbeth, eine liebliche, arme Häuslerstochter, die auf seinen Befehl hin alle Bettler abweisen soll, aber dennoch dem als Bettler verkleideten Glasmännchen hilft. Das erzürnt den Kohlenmunk-Peter so sehr, dass er sie mit dem Griff seiner Peitsche erschlägt.
Logisch ist diese Wendung der Geschichte nicht. Wie kann denn ein kaltes Herz derart in Wut geraten? Psychologisch macht sie Sinn: Indem er sich mit Lisbeth verbindet, die ein warmes Herz hat, muss Peter entweder um jeden Preis durchsetzen, dass ihr Herz genauso kalt wird wie das seine, oder aber er muss dafür sorgen, dass sein Herz wieder warm wird. Es quälte ihn auch nachts im Traume, und alle Augenblicke wachte er auf an einer süßen Stimme, die ihm zurief: »Peter, schaff dir ein wärmeres Herz!«
So gerät Peter in ein unerklärliches Zwischenreich, in dem er an dem Mangel an Warmherzigkeit zu leiden beginnt, ohne recht zu verstehen, wie das möglich sein soll. Er sucht die Hilfe des Waldgeistes, der ihm einen Trick verrät, den Bösen zu übertölpeln. Am Ende gelingt es ihm, sein fühlendes Herz zurückzugewinnen und dem wütenden Holländer-Michel dank eines Amuletts zu entrinnen. Ein Blitz zerstört allen angehäuften Reichtum, aber Peter Munk ist jetzt mit seiner Kohlenmacherei zufrieden und freut sich des Lebens mit der vom Waldgeist wiederbelebten Lisbeth und seiner Mutter. So lebten sie still und unverdrossen fort, und noch oft nachher, als Peter Munk schon graue Haare hatte, sagte er: »Es ist doch besser, zufrieden zu sein mit wenigem, als Gold und Güter haben und ein kaltes Herz.«
Hauffs Märchen verarbeitet den Zusammenprall der traditionellen bäuerlich-handwerklichen Kultur, in der des Köhlers Sohn wieder Köhler werden muss, mit den Möglichkeiten des Kapitalismus. Das Glasmännlein steht für dessen gute Seiten, für die redliche Erweiterung der Verdienstmöglichkeiten und bedachtes Wirtschaften; der Holländer-Michel aber für Rücksichtslosigkeit, für offenen und verdeckten Betrug, für grenzenlosen Wohlstand, reine Macht.
Die Glashütte produziert im Land und schafft dort Arbeitsmöglichkeiten; Holzhandel und Geldverleih aber leiten einen Verfall der guten Sitten ein, den der nationale Narzissmus schon immer als Import beschreiben wollte: Hier haben die Flößer Trinken, Rauchen, Kartenspiel und Hurerei aus Holland mitgebracht.
Der wichtigste Gedanke Hauffs ist aber, dass die Faszination durch den Reichtum die Menschen mehr kostet, als sie wahrhaben wollen. Gefühle, Beziehungen, Empathie werden bedeutungslos. Es geht allein um den Kick des zum Suchtmittel gewordenen Geldes, um die manische Abwehr der inneren Leere und Erstarrung eines steinernen Herzens, das Elend und Macht kapitalistischer Grandiosität symbolisiert.
Wie sehr die Autoren in den ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts von der wachsenden Macht des Kapitals und der Industrie fasziniert wurden, hat Hans Christoph Binswanger in seiner Analyse von Goethes Faust gezeigt. Faust scheitert daran, den Weltgeist zu beschwören und zu verstehen. Er sucht Zuflucht in der Magie. Von Mephistopheles unterstützt, entdeckt Faust das Papiergeld und die Ausbeutung der Natur. »Durch die Reduktion der Welt auf die Quintessenz des Geldes wird die Welt vermehrbar: Sie wächst mit dem wirtschaftlichen Wachstum.«[10]
In Versen wie »Daß sich das größte Werk vollende – genügt ein Geist und tausend Hände« oder aber auch »Es kann die Spur von meinen Erdentagen – Nicht in Äonen untergehn« wird gegen Ende von Faust II deutlich, dass der Stein der Weisen in der Wirtschaft, das Geldkapital, nichts anderes ist als Fausts grandioses Selbst. »So vollendet sich das große Werk der Alchemie der Wirtschaft, das größer ist als dasjenige der Wissenschaft, als dasjenige der Kunst, und daher auch von Faust als das ›größte Werk‹ bezeichnet wird, in der Verewigung des eigenen ›Ich‹.«[11]
Er fuhr zwei Jahre in der Welt umher und schaute aus seinem Wagen links und rechts an den Häusern hinauf, schaute, wenn er anhielt, nichts als das Schild seines Wirtshauses an, lief dann in der Stadt umher und ließ sich die schönsten Merkwürdigkeiten zeigen. Aber es freute ihn nichts, kein Bild, kein Haus, keine Musik, kein Tanz; sein Herz von Stein nahm an nichts Anteil, und seine Augen, seine Ohren waren abgestumpft für alles Schöne. Nichts war ihm mehr geblieben als die Freude an Essen und Trinken und der Schlaf, und so lebte er, indem er ohne Zweck durch die Welt reiste, zu seiner Unterhaltung speiste und aus Langeweile schlief.
In welche Begriffe würden wir heute die Geschichte vom kalten Herzen kleiden? Es liegt auf der Hand: Die Gefühle oder genauer: die Gefühllosigkeit des Kohlenmunk-Peter entsprechen dem, was wir heute Depression nennen.
Die Depression wird mehr und mehr zur Volkskrankheit. Sie nimmt in allen Altersgruppen zu; es gibt depressive Kinder so gut wie depressive Greise. Ihr zentrales Symptom ist die Unfähigkeit, sich über etwas zu freuen. Kohlenmunk-Peter leidet nach unserem heutigen Modell an einer mittelschweren Depression; Schönes bewegt ihn so wenig wie Grauenvolles. Er kann sich nicht in seine Mitmenschen einfühlen, aber immerhin kann er noch arbeiten, seine Reisen organisieren, sein Geschäft führen. Das Essen schmeckt ihm, er nimmt, innerlich teilnahmslos, äußerlich am Leben teil. Er fürchtet den Tod und ersehnt ihn nicht, wie das schwer Depressive tun.
Der in seinem Selbstgefühl stabile Mensch kann Kränkungen verarbeiten, indem er sie realistisch einschätzt: Hier habe ich einen Fehler gemacht, dort nicht, in vielen Bereichen bin ich in Ordnung. Die narzisstische Störung hingegen führt dazu, dass ein einzelner Fehler nicht in seinem realen Umfang wahrgenommen wird, sondern als Symbol für die Mangelhaftigkeit der ganzen Person.
Das hängt mit Störungen der Aggressionsverarbeitung zusammen, mit dem Teufelskreis des Perfektionismus. Wer als Kind so massiv gekränkt wurde, dass er seine eigene Wut als mörderisch erlebte (und dadurch auch seine Bezugspersonen als mordlustig imaginieren musste), sucht später den perfekten Frieden, die perfekte Harmonie. Dann gibt es aber keine kleinen, harmlosen, gut lösbaren Streitigkeiten mehr, sondern nur noch Katastrophen.
Ich arbeitete einmal mit einem Arztehepaar. Die Frau litt darunter, dass sich ihr Mann oft tagelang in ein Schweigen zurückzog, das er ihr nicht erklären konnte. Als er mehr Vertrauen geschöpft hatte und bemerkte, dass ich mich auch für Kleinigkeiten interessierte, gestand er einen – so seine Worte – völlig lächerlichen und ganz bestimmt bedeutungslosen Anlass für einen dieser Rückzüge. Seine Ehefrau hatte ihn beim Frühstück zur Rede gestellt, weil er die Butter im Papier ließ und nicht auf ein Tellerchen legte.
Er korrigierte den Fehler und verstummte, ohne zu erkennen, weshalb, es war schließlich eine Kleinigkeit – aber eben ein Symbol dafür, dass seine Frau ihn nicht »verstand«, nicht würdigte und nicht liebte und er sie deshalb hasste, sie ihn auch hassen musste. Von einer Minute zur nächsten, für viele Tage anhaltend, hatte er ein kaltes Herz bekommen, unter dem er mindestens ebenso litt wie seine Partnerin – »ich kann dann nicht anders«, sagte er.
Die Depression wurzelt oft in perfektionistischen Ansprüchen an das eigene Ich. Der Arzt in unserem Beispiel kann sich den kleinsten Fehler nicht verzeihen – und er kann seine Frau nicht als liebevoll erleben, wenn sie ihm sagt, wie er den Tisch schöner decken könnte. Sie erscheint ihm wie eine strafende Gouvernante, eine Hexe, der es niemand recht machen kann.
Die genaue Untersuchung erkennt in solchen Versteinerungen den lebensfeindlichen Wunsch, keinen Fehler zu machen. Leistung und Erfolg werden absolut gesetzt und sollen das ganze Leben prägen. Typisch ist, dass die zyklischen Formen des Erlebens durch lineare Spaltungen ersetzt werden. Der Depressive ist nicht in der Lage, um Menschen, aber auch um eigene Qualitäten oder Aufgaben gewissermaßen herumzugehen und alle ihre Seiten wahrzunehmen. Er spaltet sie auf; daher kippt auch seine Stimmung von dem manischen Überschwang, er könne alles schaffen und richten, in die depressive Verzweiflung, ihm gelinge das Einfachste nicht und er sei ein ganz hoffnungsloser Fall.
Diese primitive Spaltung hängt mit unbewussten Ängsten zusammen. Angst ist ein Affekt, der uns zwingt, möglichst schnell und möglichst nachdrücklich aus einer gefährlichen, kränkenden Situation herauszukommen und eine gute, sichere Situation zu erreichen. Das ist unter einfachen Lebensumständen in der Savanne, wo unsere Ahnen als Jäger und Sammler lebten, angesichts der meisten Gefahren zu bewältigen. In einer Zivilisation wird es viel schwieriger. Wir können vor dem Partner, der uns unter Leistungsdruck setzt, so wenig fliehen wie vor dem Prüfer im Examen oder dem Chef im Büro. Wir können die Angst auch nicht durch wütenden Angriff auf ihre Quelle beseitigen. Wir müssen lernen, sie zu ertragen, und uns anstrengen, alles so gut, so richtig zu machen, dass wir die Prüfung bestehen, der Chef zufrieden ist, der Lebenspartner nie Kritik äußert. Das ist mühsam genug und erzeugt oft, wie auch bei dem Arzt in unserem Beispiel, eine innere Anspannung, die sich dann angesichts von Kleinigkeiten entlädt.
Das Selbstgefühl des Menschen, der narzisstische Kränkungen durch Perfektionismus ausgleicht und sich nur sicher fühlt, solange er gar keinen Fehler macht, gleicht einer gespannten Blase, die durch einen Nadelstich zerreißt. Die innere Welt der Depression gibt Personen mit stabiler Kränkungsverarbeitung viele Rätsel auf. Sie sind überzeugt, dass – um im Bild zu bleiben – ein Dolchstoß bei jedem Menschen viel mehr Schaden anrichtet als ein Nadelstich. Aber eben diese Verhältnismäßigkeit geht in der narzisstischen Störung verloren.
Depression, Angst, Freudlosigkeit und Empathiemangel hängen zusammen. Wenn Bert Brecht sagt: Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, drückt er eine Einsicht derber aus als das römische Sprichwort von der Liebe, die ohne Brot und Wein erfrieren muss.[12] Die Forschung lehrt, dass Einfühlung ebenso wie die differenzierte Freude an schönen Dingen nur dann gedeihen kann, wenn sich Menschen sicher fühlen, wenn sie keine Angst vor Not und Hunger haben.
Starke Angst raubt uns die Empathie und macht rücksichtslos. Das zeigen zu Tode getrampelte Kinder, wenn eine von panischer Angst bewegte Menge sich durch enge Gänge quetscht. Wenn Männer Frauen oder Eltern Kinder misshandeln, tun sie das aus einer brisanten Mischung von Angst und Wut heraus, jenem Stoff, aus dem Einfühlungsmangel und Depression gemischt sind. Sie gehorchen dem Impuls, um jeden Preis eine verlorene Sicherheit zurückzugewinnen, innere Unruhe und Unsicherheit, koste es, was es wolle, zu überwinden.
Um diese Destabilisierung zu verstehen, müssen wir ein wenig ausholen. Wenn wir uns den Urmenschen vorstellen, Jäger und Sammlerin auf der Suche nach Nahrung und Wasser in der Steppe, dann wird uns deutlich, dass unser Nervensystem in der Evolution zwei zentrale »schnelle« Funktionen ausbilden musste: Kampf und Flucht, Beute machen und verhindern, Beute zu werden. Die erste Funktion zentriert sich um Wut und Aggression, die zweite um Angst und Flucht. Diese schnellen Funktionen entsprechen den Notstandsgesetzen in einem geordneten Gemeinwesen: Sie setzen außer Kraft, was »normalerweise« gilt. Dabei ist die Angst allgemeingültiger als die Aggression. Sie gleicht in ihrer universell lebenserhaltenden Funktion dem Schmerz. Wie wir für ihn immer empfänglich sind, für Lust aber nur unter günstigen Umständen, so empfinden wir alle Angst und müssen lernen, sie zu beherrschen, ehe wir Kämpfer und Krieger werden.
Die Dynamik der Angst verlangt nach einer Lösung; ehe diese Lösung nicht erreicht ist, schwindet die Vielfalt der Emotionen. Der von empathischer Aufmerksamkeit erfasste Bereich schrumpft und engt sich ein. Alle Wahrnehmungen, Emotionen und Pläne richten sich nur noch darauf, wie aus der Angst wieder Sicherheit werden kann, wie eine Beute, die zu entkommen scheint, doch noch gewonnen, oder eine Drohung, die überwältigen könnte, doch noch besiegt werden kann.
Normal ist, dass Atmung und Kreislauf der gerade ausgeübten Tätigkeit entsprechen und wir bedacht, mit Einsicht und Einfühlung, unsere Aufgaben erledigen. Diese Normalität ist lebendig, zyklisch, das heißt ermüdbar – sie verlangt dann nach Ruhe und Schlaf, um wieder in sich zurückzufinden. In diesem Normalzustand können wir uns einfühlen, einander zuhören, Zärtlichkeiten und erotische Gefühle austauschen.
Wer die Kulturgeschichte unter diesem Aspekt liest, findet bald heraus, dass diese zyklische Normalität mehr und mehr durch eine lineare Normierung ersetzt wird, deren Symbol die Maschine ist.
In einfachen Gesellschaften sind Krieger ein bunter Haufen; die Männer betonen ihre Stärke durch Federschmuck, Tattoos, Körperbemalung. Es gibt unter ihnen keine Anführer, die Sanktionen verhängen können. Wenn der Weg zu weit war oder Beute lockte, verließen indianische Kämpfer auf einem Feldzug ihre Gruppe, ohne dass dies weitere Folgen für sie hatte als den Verlust ihres Anteils an der Beute.
Welche Überraschungen das für die disziplinierten und uniformierten Militärs der Moderne birgt, zeigt eine Szene aus den Befreiungskriegen in Äthiopien: Ein britischer Offizier kämpfte mit einer größeren Gruppe Einheimischer gegen einen unterlegenen Trupp italienischer Soldaten. Sie rückten vor und hatten den Feind fast geschlagen, als es zu regnen begann und der britische Offizier plötzlich zu seinem Entsetzen feststellte, dass er dem Feind allein gegenüberstand.
Seine Verbündeten hatten sich, wie es in ihren Auseinandersetzungen Brauch war, angesichts des schlechten Wetters unter Bäume und Felsen zurückgezogen. Sie wollten erst weiterkämpfen, wenn sie dabei nicht nass wurden. Die Italiener rückten vor und hätten den Briten fast gefangen genommen, als es zu regnen aufhörte und seine amharischen Kämpfer den Feind schlugen.
Armeen zeigen, wie die moderne Normalität entsteht. Sie beginnt mit dem Gleichschritt, der möglichst ausgeprägten Mechanisierung der Bewegungen. Die Krieger traditioneller Kulturen kämpfen aus persönlichen Motiven, wie Rache, Raublust, selbst Zeitvertreib. Moderne Soldaten tragen eine Uniform und kämpfen diszipliniert. Sie handeln möglichst rational, so dass der von einem Vorgesetzten bestimmte Gegner mit möglichst wenig eigenen Verlusten maximal geschädigt wird.
Waffen sind nicht nur die kulturellen Werkzeuge, die Menschen seit jeher am meisten zu einem Teil ihres Selbstgefühls gemacht haben. Das Schwert macht den Ritter; das Gewehr ist die Braut des Soldaten. Ebenso prägen die militärischen Einrichtungen eine Gesellschaft mehr als alle anderen; bis heute unterscheiden Organisationsforscher soziale Gebilde danach, wie stark oder schwach sie in militärischen Traditionen wurzeln.
Hauff war zu jung und als Theologe zu weit entfernt von der Militarisierung, die im postnapoleonischen Deutschland eine zentrale Rolle spielte, um das kalte Herz auf seine militärischen Wurzeln hin zu prüfen. Er sah sie im Kapitalismus: Der Holländer-Michel steht für den Fernhandel, dem der Naturerhalt gleichgültig ist, für eine Geldwirtschaft, in der am besten fährt, wer sich den Wegen des Kapitals am wenigsten in den Weg stellt. Aber schon früher und radikaler hatte die Militarisierung den Menschen ein kaltes Herz in die Brust gesetzt.
Das psychologische Dilemma liegt darin, dass die wachsenden Zwänge zur Selbstkontrolle und Selbstdisziplin im Prozess der Zivilisation[13] dazu führen, dass die Emotionen insgesamt gehemmt, neutralisiert, verdrängt und auf andere Weise abgewehrt werden. Auf diese Weise werden die Menschen zwar als Krieger und Arbeiter verlässlicher, aber sie erleiden auch Einbußen an Empathie und Kreativität.
Diese Entwicklung läuft über einen Umbau der Ängste: Sie warnen mehr und mehr nicht vor äußeren, sondern vor inneren Gefahren. Die Angst alarmiert angesichts drohender Beschämungen, richtet sich auf den Verlust der Selbstachtung, auf die vorweggenommene und verinnerlichte Ächtung durch die Gruppe. Ein erster mächtiger Schub dieser Verinnerlichung von Ängsten erfolgte in grauer Vorzeit, während der sogenannten neolithischen Revolution, in der die Menschheit vom schweifenden Jäger, der an Besitz nur behalten konnte, was er bereit war zu tragen, zum sesshaften Ackerbauern wurde.
Die Zwänge der altsteinzeitlichen Lebensform liegen außen. Wer nichts erbeutet oder sammelt, muss hungern. Bauern und Viehzüchter hingegen brauchen Triebverzicht und langfristige Planungen. Sie dürfen ihr Saatgetreide nicht aufessen und ihre Herden nicht schlachten – sie müssen von Überschüssen leben. In den Jägerkulturen ist die Natur selbst der Speicher; sie muss nicht bewacht werden; der Bauer hingegen braucht Mauern, bald auch Waffen und Soldaten, um seine Kornspeicher zu schützen und womöglich anderen ihren Speicher zu rauben, ehe sie das mit dem seinigen tun.