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Matthias P. Gibert

Eiszeit

Lenz’ vierter Fall

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Katja Ernst

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Hannele / photocase.com

ISBN 978-3-8392-3372-6

1

Montag, 6. Juli 2009
oder 140 Stunden bis zum Abflug

 

Hauptkommissar Paul Lenz sah aus dem Fenster und betrachtete den blauen Himmel. Der laue Sommerabend lud zu einem Besuch im Biergarten ein, doch Lenz war dafür zu müde. Am Vormittag hatten er und sein Team von K11, der Kasseler Mordkommission, den seit langer Zeit gesuchten Mörder zweier Frauen gefasst. Der Kommissar hatte seit knapp 30 Stunden nicht mehr geschlafen und freute sich auf sein Bett.

»Soll ich dich mitnehmen?«, fragte Oberkommissar Thilo Hain, nachdem er angeklopft und den Kopf ins Zimmer geschoben hatte.

»Lass mal, ich will lieber noch ein paar Schritte zu Fuß gehen. Die Luft wird mir guttun.«

Hain deutete auf die Stadt.

»Die Luft da draußen ist zum Schneiden und wird dir innerhalb von Sekunden den Schweiß aus allen Poren treiben. Aber wie du willst. Dann sehen wir uns morgen früh. Machs gut.«

»Ja, bis morgen«, wollte Lenz antworten, doch Hain hatte schon die Tür ins Schloss gezogen und war verschwunden. Allerdings tauchte er keine drei Sekunden später wieder auf.

»Und, schon im Urlaubsfieber?«

Lenz bedachte ihn mit einem ungläubigen Blick.

»Bist du zurückgekommen, um mich zu fragen, ob ich Urlaubsfieber habe?«

»Klar. Mein geliebter Chef hat in den letzten drei Jahren, also solange ich ihn kenne, nie länger als eine Woche Urlaub am Stück genommen. Und jetzt gleich drei Wochen! Da ist die Frage doch mehr als berechtigt.«

Lenz dachte einen Moment nach.

»Also erstens habe ich noch die ganze Woche zu arbeiten, bis es so weit ist, und zweitens fühle ich mich akut ganz und gar nicht nach Urlaub. Aber das ist nach dem Verlauf des heutigen Tages auch nicht zu erwarten, oder?«

»Nein«, bestätigte Hain. »Weißt du denn endlich, wo du hin willst?«

Lenz ließ den Kopf nach hinten fallen.

»Gar nichts weiß ich.«

Kurze Pause.

»Oder halt, ich weiß doch was. Nämlich, dass ich mich darauf freue, drei Wochen lang um diesen Bunker hier einen großen Bogen zu machen.«

»Das kann dir niemand verdenken. Vielleicht …« Weiter kam der Oberkommissar nicht, weil das Telefon auf dem Schreibtisch seines Chefs klingelte.

»Ja, Lenz«, meldete sich der Hauptkommissar.

»Hier ist Wischnewski von der Pforte, Herr Lenz. Neben mir steht ein Herr Ia…«

»Iannone«, kam es leise aus dem Hintergrund.

»Also, hier steht ein Herr Iannone und würde gerne mit Ihnen sprechen. Was soll ich mit ihm machen?«

»Worum gehts denn?«

»Das will er mir nicht sagen.«

Lenz warf einen Blick auf seine Uhr.

»Ich schicke den Kollegen Hain, der soll ihn raufbringen. Danke, Herr Wischnewski.«

Thilo Hain warf seinem Chef einen missbilligenden Blick zu.

»Fauler Sack!«

Kurze Zeit später klopfte es höflich an der Tür und Hain führte einen etwa 60 Jahre alten Mann mit grau melierten Haaren ins Zimmer. Der Oberkommissar verbeugte sich leicht und lächelte dabei.

»Das ist Signore Iannone, Herr Hauptkommissar«, erklärte er mit devotem Unterton in der Stimme. »Wenn Sie erlauben, werde ich mich dann zurückziehen.«

»Schönen Feierabend«, wünschte Lenz, kam um den Schreibtisch herum, stellte sich vor und schüttelte dem Mann mit dem dunklen Teint die Hand.

»Salvatore Iannone«, antwortete der und erwiderte den Händedruck.

»Bitte, Herr Iannone, nehmen Sie doch Platz. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wasser vielleicht?«

»Nein danke.«

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Lenz, nachdem sein Gast sich gesetzt und Hain die Tür zugezogen hatte.

»Sicher fragen Sie sich, was ein alter Italiener wie ich von dem Chef der Mordkommission will, Herr Lenz«, begann der Mann mit leichtem Akzent. »Aber ich weiß mir sonst nicht mehr zu helfen.« Sein ›helfen‹ klang ein bisschen wie ›elfen‹.

»Deswegen habe ich vorhin Uwe Wagner, Ihrem Kollegen, der seit ganz vielen Jahren ein Stammkunde ist, mein Leid geklagt. Und der hat gesagt, ich soll mich an Sie wenden.«

»Hm«, machte Lenz. »Worum geht es denn überhaupt, Herr Iannone?«

Der Italiener griff mit beiden Händen an den Stuhl, setzte sich aufrecht und hob den Kopf.

»Ich betreibe das Eiscafé La Gondola in der Wilhelmshöher Allee, an der Ecke zur Humboldtstraße. Meine Frau und ich sind seit 18 Jahren dort und wir mögen es, genau wie die Leute uns mögen. In den letzten Jahren haben wir sogar über Winter nicht zugemacht, weil immer mehr Leute bei uns ihren Kaffee trinken und Kuchen oder Waffeln essen. Genau wie in einem Eiscafé in Italien.«

Lenz nickte. Er wollte nach Hause.

»Und jetzt haben Sie Probleme?«

»Ja, Herr Kommissar. Große Probleme sogar. Vor zwei Jahren hat der Eigentümer des Hauses gewechselt. Der alte Verpächter war ein ganz feiner Mann, aber eben schon ziemlich alt, und ist vor drei Jahren gestorben. Die Erben haben sich ein Jahr lang furchtbar gestritten und dann an den jetzigen Eigentümer verkauft, Jochen Mälzer. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört.«

Und ob Lenz von Jochen Mälzer gehört hatte. Immer wieder tauchte der Name des Großinvestors und Projektentwicklers in der Zeitung auf.

»Ja, ich kenne natürlich den Namen. Aber welche Schwierigkeiten macht Mälzer Ihnen denn genau?«

»Wie gesagt, große. Es hat alles damit angefangen, dass er direkt nach dem Kauf in mein Eiscafé gekommen ist und mir 30.000 Euro auf die Theke geknallt hat. Einfach so. ›Nehmen Sie das und verschwinden Sie, mehr werden Sie nie mehr kriegen‹, hat er gesagt. Aber ich hatte gerade für 40.000 Euro eine neue Eismaschine gekauft, außerdem ist allein die Theke das Doppelte wert. Also habe ich nein gesagt, und das hat ihn, glaube ich, sehr verärgert. Seitdem habe ich einen Prozess nach dem anderen von ihm an den Hals gehängt bekommen, dazu gab es ein Mahnschreiben nach dem anderen.«

Er atmete tief durch. »Und immer war es unbegründet. In der ganzen Zeit hat er nicht einmal gegen mich gewonnen vor Gericht.«

»Das tut mir leid für Sie, Herr Iannone, aber gegen solche Methoden kann ich leider nichts tun. Am besten nehmen Sie sich einen Anwalt, der Ihre Interessen vertritt.«

Iannone hob abwehrend die Hände.

»Seit der Streit mit Mälzer losgegangen ist, habe ich vier Anwälte verschlissen, Herr Kommissar. Und jeder einzelne hat sein Mandat niedergelegt, weil er sich vor Mälzer gefürchtet hat. Jetzt habe ich einen jungen, der sich traut, diesem Mann die Stirn zu bieten, aber in einem Punkt kann er mir trotzdem nicht helfen.«

»Und?«, machte Lenz, nachdem der Italiener nicht weitersprach.

»Ich glaube, Mälzer will mir etwas antun.«

Lenz musterte ihn irritiert.

»Und was bringt Sie zu diesem Schluss, Herr Iannone?«

Der Mann starrte zur Decke und blickte Lenz danach lange in die Augen.

»Ich weiß, es klingt ziemlich dumm, wenn ich Ihnen das so sage, aber es ist mehr ein Gefühl. Außerdem bekommen meine Frau und ich seit ein paar Tagen nachts anonyme Anrufe.«

»Und was will der Anrufer?«

»Er sagt nichts. Er atmet in den Hörer, bis wir auflegen.«

Lenz war sichtlich bemüht, sachlich zu bleiben.

»Aber direkt gedroht hat Herr Mälzer Ihnen nicht?«

Iannone lächelte schief.

»Das würde er nie machen, Herr Lenz, dafür ist er viel zu schlau. Aber er hat seine Methoden, das können Sie mir glauben.«

Nun musste der Kommissar den Italiener ein wenig bremsen. »Das, was Sie hier unterstellen, ist ein schwerer Vorwurf, Herr Iannone, und es braucht zur Beweisführung schon etwas mehr als eine vage Vermutung oder Intuition, wie Sie es nennen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich würde gerne etwas für Sie tun, aber ich sehe keinen Ansatzpunkt. Ihre zivilrechtlichen Differenzen müssen Sie vor Gericht ausfechten, und wenn jemand Sie konkret bedroht, schreitet die Polizei natürlich ein, jedoch sicher nicht wegen einer bloßen Vermutung oder ominösen nächtlichen Anrufen.«

Iannone nickte.

»Ich kann verstehen, dass es Ihnen schwerfällt, mir zu glauben. Aber Sie können sicher sein, dass meine Vermutung nicht aus der Luft gegriffen ist.«

»Was macht Sie denn so sicher?«

»Mälzer hat die Genehmigung, das Haus, in dem sich unser Eiscafé befindet, abzureißen, weil er dort ein riesiges Outlet-Center hinstellen will. Mit allen anderen Mietern hat er Vereinbarungen getroffen, die sind schon ausgezogen. Wir wollen das aber nicht, wir wollen unser Eiscafé an dieser Stelle behalten.« Er lächelte erneut. »Ich weiß sogar aus sicherer Quelle, dass er schon einen Vertrag mit einem Italiener wegen einer Eisdiele in dem Neubau geschlossen hat.«

»Haben Sie sich denn um einen neuen Vertrag bemüht?«

»Das musste ich nicht, denn meiner läuft noch fast fünf Jahre. Danach wollen meine Frau und ich zurück nach Italien. Wir haben keine Kinder und freuen uns auf einen Lebensabend im warmen Sizilien, wo ein Großteil unserer Freunde und Verwandten lebt.«

Lenz kratzte sich am Kinn und schielte dabei verstohlen auf die Wanduhr hinter dem Kopf des Italieners.

»Wenn ich Sie richtig verstehe, kann Herr Mälzer mit dem Abriss des jetzigen Gebäudes beginnen, sobald Sie ausgezogen sind?«

»Exakt. Wir und unser Eiscafé stehen einem großen Geschäft des Signore Mälzer im Weg. Und weil er alle juristischen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, glaube ich, dass er uns etwas antun wird.«

Wieder kratzte Lenz sich am Kinn.

»Bei allem Respekt, Herr Iannone, wir leben in Kassel, nicht in Catania oder Palermo. In Deutschland werden Streitigkeiten dieser Art nicht nach Methoden der Mafia beigelegt.«

Der Italiener stand auf.

»Hoffentlich haben Sie recht, Herr Kommissar. Wenn es anders kommen sollte, denken Sie bitte an meinen heutigen Besuch.« Er reichte Lenz mit gesenktem Kopf die Hand. »Und wenn nicht, war es mir eine Freude, Sie kennengelernt zu haben.«

Die Körpersprache des Mannes, der jetzt auf die Tür zustrebte, drückte maßlose Enttäuschung aus. Enttäuschung und Ernüchterung.

»Vielleicht kann ich ja mal ein ernstes Wort mit Herrn Mälzer reden. Das sollte ihn davon abhalten, Ihnen in welcher Form auch immer zu nahe zu treten«, schickte der Polizist ihm hinterher, als der schon die Türklinke in der Hand hatte. Daraufhin drehte sein Besucher sich noch einmal um.

»Wenn Sie das tun könnten, Herr Kommissar, würde ich mich sehr freuen.«

2

 

»14 Tage Sommer, Sonne und die nackte, blanke Erholung«, frohlockte Maria Zeislinger und drückte sich noch ein wenig enger an Lenz.

»Nun mach mir keine Angst, Maria. Es ist schon schlimm genug für mich, in ein Flugzeug steigen zu müssen.«

»Ach, Paul, du hast keine Ahnung, wie geil das ist. Leider kann ich aus nachvollziehbaren Gründen in der Luft noch nicht deine Hand halten, aber spätestens, wenn wir drüben sind, klappt auch das.«

»Mein Gott, ›wenn wir drüben sind‹, wie das klingt. Als ob wir sterben müssten.«

»›Drüben‹ bedeutet, dass wir fast zwei komplette Wochen zusammen ins Bett gehen und gemeinsam aufwachen können. Das sollte dir doch die Mühen des Fluges wert sein, meinst du nicht?«

Er legte die Stirn in Falten.

»Na ja, irgendwie schon. Ist denn wenigstens das Wetter in Ordnung?«

»Bestens. Nicht so heiß, wie bei uns hier, aber Sonne, so weit das Auge reicht. Und das Schönste an der ganzen Sache ist, dass wir nach menschlichem Ermessen keine Angst haben müssen, von irgendwem erwischt zu werden, weil in diesem Teil der Staaten, wenn überhaupt, nur Amerikaner Urlaub machen.«

»Wo genau ist das noch mal?«

»Maine. Wir fliegen nach New York und fahren dann weiter nach Maine. Sag mir jetzt nicht, dass du noch nicht in das Buch geschaut hast, das ich dir geschenkt hab?«

Sie hatte ihm etwa einen Monat zuvor einen Wälzer mit dem Titel ›Gottes Werk und Teufels Beitrag‹ mitgebracht und ihm erklärt, dass darin eine Menge zu lesen wäre über ihr gemeinsames Urlaubsziel. Lenz hatte kurz hineingeschaut und beschlossen, dass es sich dabei um ziemlich schwer verdauliche Kost handelte. Seitdem lag das Buch von John Irving unangetastet neben seinem Bett.

»Nur kurz, um ehrlich zu sein. Aber das kann ich ja im Flugzeug nachholen. Es hat sich ein bisschen … zäh angelassen, fand ich.«

»Das kann sein. Halt einfach die ersten 200 Seiten durch, der Rest ist ein Vergnügen.«

Der Kommissar dachte an die ersten 20 Seiten und hatte keine Ahnung, wie er es bis Seite 200 schaffen sollte.

»Wenn du meinst …«

Sie spielte mit den Haaren auf seiner Brust, küsste seinen Hals und sah dabei auf die Uhr an der Wand.

»Wenn du vor der großen Reise und dem Sprung auf 12.000 Meter Höhe noch einmal mit mir vögeln willst, hast du jetzt die letzte Chance dazu«, gab sie ihm mit kehliger Stimme zu verstehen. »In einer halben Stunde muss ich los, wenn ich vor Erich zu Hause sein will, und das will ich heute ganz bestimmt.«

Er drehte sich auf die Seite, legte den Kopf zwischen ihre Brüste und fuhr mit der Zunge über ihre nackte Haut. »Und warum willst du das unbedingt?«

Maria atmete schwer und schloss die Augen. »Wir hatten heute ziemlichen Ärger, und ich habe keine Lust, dass er im Wohnzimmer auf mich wartet, um mich mit weiteren Vorwürfen und Beschimpfungen zu beglücken.«

Sein Mund hatte den Weg zu ihrer Brustwarze gefunden. »Und das macht er nicht, wenn du vor ihm zu Hause bist?«

Sie stöhnte lustvoll auf. »Entweder, du machst weiter, oder du fragst weiter, Paul. Beides zusammen geht nicht.«

»Machen«, flüsterte er und fuhr mit der Zunge auf ihrem Bauch entlang abwärts.

 

*

 

»Wow«, hauchte sie eine Viertelstunde später kaum hörbar. »Wenn du mir versprichst, dass das unser Programm der nächsten Wochen ist, kommen wir garantiert nicht dazu, uns die Sehenswürdigkeiten von Maine anzuschauen.«

Er strich mit der flachen Hand über ihren schweißnassen Rücken. »Vergiss es, ich will Urlaub machen. Außerdem sind wir nicht verheiratet, was in manchen amerikanischen Bundesstaaten zu schweren juristischen Konsequenzen führen kann.«

»Ich erzähls keinem.« Sie machte sich von ihm frei, stand auf und sammelte ihre bunt auf dem Boden verstreuten Klamotten ein. »Aber jetzt muss ich los, auch wenn es dramatisch unromantisch ist.«

Lenz setzte sich aufrecht und sah ihr beim Anziehen zu.

»Warum habt ihr gestritten?«

Sie nahm einen Kamm aus der Tasche, fuhr sich durch die Haare und lächelte ihn an. »Deinetwegen.«

Er musterte sie zweifelnd. »Erzähl keinen Scheiß.« Der Kamm wanderte zurück in den Lederbeutel. »Erich hat mir mal wieder Vorhaltungen gemacht, weil ich allein nach Amerika fliege. Ich hatte keine Lust auf diese Diskussion und hab ihm eigentlich gar nicht zugehört, und das hat ihn dann richtig gallig gemacht. So kam eins zum anderen und am Ende flogen halt Tassen.«

»Er hat mit Tassen geworfen?«

»Nein, das war ich.«

»Du wirfst mit Tassen?«

»Manchmal, ja. Aber nur, wenn mir die Argumente ausgehen oder ich mich in die Ecke gedrängt fühle. Heute wäre es gar nicht nötig gewesen, aber irgendwann war mir einfach danach. Dann ist er abgehauen.«

»Wollte er, dass du nicht wegfährst?«

»Hm«, nickte sie. »Er kann Judy nicht leiden, deshalb findet er es doof, dass ich in ihrem Haus Urlaub mache.«

Judy Stoddart, Marias beste Freundin, hatte das Ferienhaus von ihrer im Jahr zuvor verstorbenen Mutter geerbt.

»Aber du bist sicher, dass er nicht eines Tages vor der Tür steht, weil er dich im Urlaub überraschen will?«

Sie band sich die Haare zu einem Pferdeschwanz, beugte sich zu ihm hinunter und küsste seine Nase.

»Da kannst du ganz beruhigt sein, mein Geliebter. Judy würde sich lieber erschießen lassen, als ausgerechnet Erich zu verraten, wo das Haus steht. Außerdem hat er keine Zeit.«

Er zog sie zu sich, küsste sie auf den Mund und ließ sich zurückfallen.

»Nächster Treffpunkt Flughafen Frankfurt«, erklärte sie im Tonfall einer Bahnhofsdurchsage. »Und wehe, du stehst am Sonntag nicht spätestens um halb zwölf in der Schlange vor dem Lufthansa-Schalter, dann kannst du dir eine andere suchen, die sich dir hingibt. Verstanden?«

»Verstanden«, murmelte er und sah ihr dabei zu, wie sie nach einem letzten gehauchten Kuss durch die Tür schlüpfte.

 

*

 

Auf der Fahrt von Fritzlar nach Kassel entdeckte er am nächtlichen Himmel zwischen den Sternen die Blinksignale mehrerer Flugzeuge.

Amerika, dachte er. Mit Maria. Nicht schlecht.

 

*

 

Die beiden folgenden Tage verbrachte Lenz in einer Mischung aus Dienst nach Vorschrift und permanent steigendem Reisefieber. Am Mittwochabend ging er bei seinem Hausarzt vorbei, um sich ein Beruhigungsmittel gegen eventuell einsetzende Flugangst verschreiben zu lassen. Danach begann er, die für die Reise notwendigen Kleidungsstücke zu sortieren.

3

Donnerstag, 9. Juli 2009
oder 78 Stunden bis zum Abflug

 

Der Wecker klingelte gegen halb sechs. Zumindest in Lenz’ Fantasie. Er öffnete ein Auge, blinzelte auf die Uhr und schnaufte. Das Geräusch, das sich in sein Ohr bohrte, war nicht das Klingeln des Weckers, sondern die Melodie des Mobiltelefons neben dem Bett. Er griff danach und drückte die grüne Taste.

»Lenz«, knurrte er in das kleine Mikrofon.

»Tut mir leid, dass ich dich wecken muss, aber wir haben zwei Tote.«

Der Hauptkommissar kniff die Augen zusammen und stöhnte. »Ach, Thilo, lass mich doch mit so was in Ruhe. Morgen ist mein letzter Tag, dann hab ich drei Wochen Urlaub. Ich will mir jetzt nicht noch zwei Tote anschauen, die mich dann den ganzen Urlaub nicht in Ruhe lassen. Nimm dir die Jungs vom Kriminaldauerdienst und kümmer dich drum, du hast mein volles Vertrauen.«

Hain machte eine kurze Pause, bevor er antwortete.

»Glaub mir, Paul, das hätte ich alles ganz genau so gemacht, aber wegen der Identität der Opfer klappt das nicht.«

Nun wurde Lenz hellhörig.

»Wieso das denn? Wer ist es?«

»Signore Iannone und seine Frau.«

Der Hauptkommissar brauchte einen Augenblick, bis er den Namen mit einem Gesicht in Verbindung bringen konnte.

»Ach, du Scheiße«, murmelte er.

 

*

 

Die Sonne war längst aufgegangen an diesem lauen Sommermorgen, als Hain mit seinem kleinen Cabrio auf die Kreuzung zurollte. Lenz sprang in den Wagen und schnallte sich an.

»Moin«, begann Hain vorsichtig.

»Fahr los. Weißt du schon was?«

»Sie wurden erschossen; die Putzfrau hat sie gefunden. Sie ist ebenfalls Italienerin und schon auf dem Weg in die Psychiatrie. Die uniformierten Kollegen vor Ort sagen, sie sei völlig durchgedreht.«

»Das ist alles?«

Hain verzog das Gesicht. »Ja, Paul, das ist alles. Allerdings könntest du mich kurz darüber informieren, was er am Montag eigentlich von dir wollte.«

»Jetzt nicht.«

»Jetzt nicht?«

Der Hauptkommissar nickte abwesend.

Den Rest der Fahrt sagte keiner der beiden mehr etwas. Lenz sah aus dem Fenster und kaute dabei nervös auf seiner Unterlippe.

Vor dem dreistöckigen Haus, in dessen Erdgeschoss sich das Eiscafé befand, drängelten sich trotz der frühen Tageszeit Massen von Gaffern und ›Adabeis‹. Zwei uniformierte Polizisten waren damit beschäftigt, den Eingangsbereich mit Trassierband weiträumig abzusperren. Hain parkte den kleinen Japaner auf der gegenüberliegenden Straßenseite, stieg aus und warf Lenz, der keine Anstalten machte auszusteigen, einen auffordernden Blick zu.

»Was ist?«, fragte der Oberkommissar irritiert.

Lenz fixierte einen imaginären Punkt im Fußraum des Mazdas.

»Er hat sich bedroht gefühlt«, erklärte er seinem Kollegen leise. »Und ich fühle mich total scheiße, weil ich ihn nicht ernst genommen habe.«

Hain ertastete mit dem Daumen den Druckpunkt auf dem Schlüssel, ohne jedoch die Fernbedienung der Zentralverriegelung auszulösen.

»Nun hör auf zu jammern und komm aus der Karre raus. Wir wissen zwar beide, dass die Chance dafür hart bei null ist, aber vielleicht wurden die beiden ja einfach überfallen und ausgeraubt.« Er ging um den Wagen herum und hielt Lenz die Tür auf. »Von wem hat er sich denn bedroht gefühlt?«

»Von seinem Vermieter, einem Herrn Mälzer.«

Hain schaute ihn erschrocken an.

»Jochen Mälzer?«

»Ja, Jochen Mälzer. Was ist daran so erschreckend?«

»Erzähl ich dir später. Komm jetzt!«

Lenz schälte sich mühsam aus dem Auto, sah hinüber zum Eiscafé und setzte sich langsam in Bewegung. Hain folgte ihm über die vierspurige Straße mit den Straßenbahnschienen in der Mitte und hielt das Trassierband hoch, als sie vor dem Haus angekommen waren. Lenz schlüpfte darunter durch, nickte den Uniformierten zu und betrat das Eiscafé. Dort kniete Dr. Peter Franz, der Rechtsmediziner, neben der Leiche von Salvatore Iannone, der vor dem Tresen lag und mit seinen toten Augen die Decke anstarrte. Sein Kopf wurde von einer Blutlache umrahmt, und mitten auf der Stirn entdeckte der Hauptkommissar ein dunkel schimmerndes Einschussloch.

»Morgen, Herr Kommissar«, begrüßte Franz den Polizisten, ohne sich in seine Richtung umgedreht zu haben.

»Erkennen Sie mich jetzt schon an dem Geklapper meiner Schuhe, Herr Doktor?«

Der Mediziner hob den Kopf und hielt ihm den Arm zur Begrüßung hin.

»Wie es aussieht, ja«, erwiderte er und lächelte dabei kaum wahrnehmbar. »Aber im Ernst, ich hab Sie und Ihren Kollegen gesehen, als Sie die Straße überquerten. Und außerdem: Wer außer Ihnen darf dem Tatort so nah kommen?«

Lenz war verwundert, wie gesprächig und wohlwollend Dr. Franz an diesem Morgen war. Er hatte ihn bei diversen Anlässen schon ganz anders erlebt.

»Wobei«, fuhr der Arzt fort, »es mich durchaus wundert, Sie hier zu sehen. Ich wähnte Sie im Urlaub.«

»Noch nicht. Ab übermorgen.«

»Und dann tun Sie sich so eine Sache wie die hier noch an? Erstaunlich.«

Lenz verschwieg Franz die genauen Hintergründe seines Erscheinens am Tatort.

»Können Sie schon irgendwas sagen?«

Der Mediziner nickte. »Erschossen, beide. Die Frau haben sie mit einem Kopfschuss getötet, bei ihm hier haben sie eine zweite Patrone investiert.«

Der Hauptkommissar betrachtete den Leichnam näher.

»Ich sehe nichts. Wohin ging der zweite Schuss?«

»In den geöffneten Mund, das Projektil ist hinten ausgetreten. Danach wurde der Mund zugedrückt.«

»Merkwürdig. Welcher kam zuerst?«

»Vermutlich der obere, danach der in den Mund.«

Lenz richtete sich auf und sah sich in dem Eiscafé um. Die Frau lag hinter dem Tresen, ebenfalls in einer Blutlache. Auch ihre Stirn war mit einem Loch verziert. Lenz schätzte sie auf etwa 50 bis 55 Jahre. Ihre blutverkrusteten, grauen Haare klebten im Gesicht, auch die Hände waren voller Blut. Über dem hochgerutschten schwarzen Rock trug sie eine kleine weiße Schürze.

»Sie war vermutlich nicht sofort tot und hat noch versucht davonzukriechen«, erklärte Franz, der sich neben Lenz stellte.

»Aber das kann nur eine Sache von ein paar Sekunden gewesen sein, bei der massiven Hirnverletzung.«

»Wann ist es passiert?«

»Vor etwa fünf bis sieben Stunden.«

Lenz ging vorsichtig um den Leichnam herum und zog mit einem Stift die ein paar Millimeter offen stehende Schublade der Registrierkasse heraus. Bis auf ein paar wenige Kleingeldmünzen war sie leer.

Hain kam mit Rolf-Werner Gecks im Schlepptau auf ihn zu.

»Moin, Paul«, begrüßte der altgediente Hauptkommissar seinen Chef.

»Morgen, RW. Bist du schon länger hier?«

»Ich schon, aber die Frage des Tages ist eher, was du hier machst? Thilo wollte nicht damit rausrücken, was dich am Tag vor deinem Urlaub hierher treibt.«

Lenz presste die Lippen zusammen.

»Ich erkläre es dir später. Hast du schon was rausgefunden?«

»Nicht wirklich. Draußen steht ein Herr Stehl, der ausgesagt hat, dass er gestern als einer der Letzten die Eisdiele verlassen hat. Er wohnt auf der anderen Straßenseite und ist Stammgast hier.« Gecks klappte einen Notizblock auf. »Er ist eine Viertelstunde vor Mitternacht gegangen. Zu diesem Zeitpunkt haben die beiden noch gelebt. Normalerweise, sagt er, haben sie nach Feierabend die Stühle hochgestellt, das Eis aus der Verkaufstruhe nach hinten geräumt und die Theke gewienert. Wie es aussieht, waren der oder die Täter die letzten Gäste.«

»Die Allerletzten«, murmelte Lenz vieldeutig.

»Gefunden wurden die beiden um kurz vor fünf von der Putzfrau. Die ist in der Psychiatrie und im Moment nicht vernehmungsfähig, weil sie völlig zusammengeklappt ist.«

In diesem Moment betraten Heini Kostkamp von der Spurensicherung und zwei seiner Männer das Café, begrüßten die Anwesenden und fingen an, sich umzuziehen.

»Raus hier!«, bellte Kostkamp kurz angebunden, nachdem er einen blendend weißen Tyvek-Anzug und blaue Füßlinge übergestreift hatte. »Ihr habt vermutlich schon genug Unheil angerichtet mit eurem Rumgerenne.«

»Schon gut, Heini«, erwiderte Hain und ging Richtung Ausgangstür. Die anderen beiden folgten ihm, nur Dr. Franz blieb im Raum.

Die Menge der Gaffer vor der Absperrung war kleiner geworden. Offenbar hatte der eine oder andere den Weg zur Arbeit angetreten. Lenz holte tief Luft und legte die Stirn in Falten.

»Das ist echt blöd gelaufen, RW. Der tote Herr Iannone da drin war vor ein paar Tagen bei mir im Präsidium und hat sich über seinen Vermieter beschwert, Jochen Mälzer.«

Gecks pfiff leise durch die Zähne. »Jochen Mälzer …«

»Genau. Dabei hat er auch erwähnt, dass er sich von ihm bedroht fühlte. Allerdings hat er das, bis auf ominöse nächtliche Anrufe, bei denen der Anrufer nichts gesagt hat, in keiner Weise präzisieren können. Es sei mehr so ein Gefühl, sagte er.« Lenz schluckte. »Und jetzt liegt er erschossen da rum.«

»Das kommt wirklich nicht gut, Paul. Wenn er dir allerdings nur ein Gefühl geschildert hat, weiß ich nicht, was du hättest anders machen sollen.«

»Ich hab ihm, als er gegangen ist, gesagt, dass ich mal mit Mälzer sprechen würde. Und das habe ich vergessen. Es war einfach nicht mehr in meinem Kopf.«

»Wie auch immer. Vielleicht gibt es ja gar keinen Zusammenhang zwischen seinem Besuch bei dir und seinem und dem Tod seiner Frau.«

»Möglich, aber nicht wahrscheinlich; den Rest werden hoffentlich die Ermittlungen klären. Natürlich kommt auch ein Raubmord infrage, zumal die Kasse leer geräumt ist. Mir wäre es am liebsten, du würdest hierbleiben und dich darum kümmern, dass die Nachbarn befragt werden. Thilo und ich fahren zu Mälzer und fühlen ihm auf den Zahn.«

Gecks nickte. »Aber fang besser nicht an zu bohren, mit dem Mann ist nicht gut Kirschen essen, außerdem hat er erstklassige Kontakte zu Politik und Justiz, soweit ich weiß.«

»Ja, das habe ich auch gehört. Trotzdem werden wir ihn befragen.«

»Du weißt, wo er seinen Firmensitz hat?«

Lenz sah fragend zu Hain, der nickte.

»Und was ist mit deinem Urlaub?«

»Das weiß ich nicht, RW, und im Moment verschwende ich daran auch keinen Gedanken.«

Damit schob Lenz sich an den verbliebenen Gaffern und der mittlerweile vollzählig versammelten Lokalpresse vorbei und überquerte die vierspurige Straße. Hain folgte ihm langsam.

»Was hat dich so erschreckt, als ich vorhin Mälzers Namen erwähnt habe?«, wollte der Hauptkommissar wissen, während er sich anschnallte.

Sein Kollege startete den Motor, legte den ersten Gang ein und fuhr los. »Ich hatte mal mit ihm zu tun, als Privatmann. Das muss vor etwa …«, er zählte mit den Fingern, »… acht Jahren gewesen sein. Ich war im zweiten Jahr bei der Polizei und hatte mir eine kleine Wohnung genommen. Das Haus gehörte Mälzer, er war der Vermieter. Seitdem weiß ich, dass mit dem Mann nicht zu spaßen ist.«

»Erzähl!«, forderte Lenz interessiert.

»Schon nach ein paar Monaten gab es Ärger. Ich glaube, es ging um die Treppenhausreinigung. Richtig schlimm wurde es aber, als die erste Nebenkostenabrechnung kam. Darin reihte sich ein Fehler an den nächsten, und deswegen hab ich das Ding nicht bezahlt. So nahm das Drama seinen Lauf.«

»Ja, und?«

»Wir haben uns ein paar Mal vor Gericht gesehen, also ich und seine Anwälte. Das Ende vom Lied war dann, dass ich zwar überhaupt nichts nachzahlen musste, es mich aber jede Menge Nerven gekostet hat, die Geschichte durchzustehen. Und wenn ich nicht Polizist gewesen wäre, hätte mich Mälzers Einschüchterungstaktik garantiert ziemlich beeindruckt.«

»Die da war?«

Hain rollte langsam auf eine rote Ampel zu und nahm den Gang heraus. Der morgendliche Berufsverkehr hatte seinen Höhepunkt erreicht.

»Sofort, nachdem ich die Abrechnung moniert hatte, kam ein Mahnbescheid. Das sieht schon mächtig wichtig und ziemlich bedrohlich aus für einen jungen Kerl, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat. Als das nicht gezogen hat, kamen Drohbriefe eines Inkassounternehmens. Zum Glück war der Vater meiner damaligen Freundin Rechtsanwalt, der hat mich immer wieder beraten und auch vor Gericht vertreten. Seitdem weiß ich, was es bedeutet, Mieter bei Jochen Mälzer zu sein.«

»Vielleicht warst du ja ein Einzelfall?«

»Ganz bestimmt«, spöttelte der junge Oberkommissar. »Schon damals, und das ist in der Internetsteinzeit gewesen, gab es Foren, in denen sich Mälzergeschädigte getroffen und ausgetauscht haben. Von wegen Einzelfall …«

»Du bist danach ausgezogen?«

»Schneller, als du gucken kannst. Nachdem die Sache vom Gericht entschieden worden war, hab ich gekündigt und kurze Zeit später meine Koffer gepackt. Das hing allerdings auch damit zusammen, dass mir der Rechtsbeistand abhandengekommen war.«

»Der Rechtsanwaltsvater?«

»Sie war weg, er war weg, also hielt ich es für besser, ebenfalls weg zu sein. Aber ich hätte sowieso nicht weiter dort wohnen wollen.«

»Danach hattest du keinen Kontakt mehr zu ihm?«

Hain wirkte verstört. »Natürlich nicht, wie kommst du denn auf die Frage? Ich war, wie gesagt, froh, dass ich es hinter mir hatte.«

»Freust du dich, ihn wiederzusehen?«

»Das ist so lange her und ich habe das meiste davon ganz sicher verdrängt. Aber den Kerl an den Eiern zu fassen, würde mich bestimmt nicht unglücklich machen. Allerdings solltest du nicht erwarten, dass er uns mit einem schriftlichen Geständnis in der Hand empfangen wird. Der Mann ist durch und durch gerissen, ziemlich clever und dazu noch eine richtig coole Socke. Außerdem hat er, wie RW richtig bemerkt hat, beste Kontakte zu Politik und Justiz. Man munkelt, dass er und der OB ziemlich dicke Freunde seien.«

Er dachte einen Moment nach. »Und wen wir auf keinen Fall ausblenden dürfen, ist seine Frau. Die ist, das habe ich schon damals öfter gehört, die treibende Kraft im Hintergrund. Außerdem ist die gute Molina Mälzer an allen seinen Unternehmungen zur Hälfte beteiligt.«

»Das nenne ich echtes Teamwork. Hast du sie kennengelernt?«

»Ach was, nein. Sie bleibt stets in der zweiten Reihe. Es gibt auch nicht besonders viele Bilder von ihr. Mir ist sie in Erinnerung geblieben wegen eines ziemlich perfiden Marketinggags, den sie sich vor ein paar Jahren hat einfallen lassen. Damals hatten die beiden gerade die Herzogsgalerie in der Innenstadt hochgezogen. Noch vor der Eröffnung wurde das Ding zur schönsten Einkaufsmeile in Europa gewählt. Die beiden sind mit viel Tamtam nach Sevilla geflogen und haben die Auszeichnung entgegengenommen. Später wurde bekannt, dass Molina Mälzer über eine von ihr in England gegründete Firma die Stifterin des Preises war.«

Er hielt schräg hinter einem alten Golf, der eben wegfahren wollte, und stellte sein kleines Mazda-Cabriolet ab.

»Wir sind da«, erklärte er seinem Chef und deutete auf eine herrlich sanierte, riesige Gründerzeitvilla, auf der in großen Lettern ›Mälzer-Bau-Consulting‹ zu lesen war.

»Netter Firmensitz. So was braucht man in dem Business wahrscheinlich.«

Hain sah noch einmal zu dem Haus hinüber und zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht, aber ich vermute, in solch einem Schlösschen zu arbeiten, massiert das Ego kolossal.«

Sie stiegen aus, gingen auf das schmiedeeiserne Tor zu und betrachteten das knappe Dutzend glänzender, goldfarbener Schilder am Sandsteinportal links vom Eingang. Neben der Mälzer-Bau-Consulting GmbH residierten in dem Gebäude unter anderem die Mälzer-Stadtentwicklungs GmbH, die Mälzer-Objektschutz GmbH, die Mälzer-Parkhausbeteiligungs GmbH sowie eine Twin-Otter Ltd.

»Beeindruckend«, stellte Lenz ohne eine Gefühlsregung fest und legte den Finger auf den Klingelknopf neben dem Kamerabullauge.

»Ja, bitte«, kam die prompte Antwort.

»Wir sind von der Kriminalpolizei Kassel und würden gerne Herrn Mälzer sprechen.«

»Das tut mir leid«, antwortete die Frauenstimme aus der Sprechanlage, »aber Herr Mälzer ist nicht im Haus.«

Lenz dachte einen kurzen Moment nach.

»Wann erwarten Sie ihn zurück?«

Kurze Pause. Aus dem Lautsprecher drang leises Gemurmel.

Dann ertönte ein leises Summen und das Tor sprang auf.

»Wenn Sie bitte hereinkommen wollen.«

Die beiden Polizisten blickten sich irritiert an, folgten aber trotzdem dem gekiesten Weg und standen kurze Zeit später einer etwa 45-jährigen, aschblonden Frau gegenüber, die sie in der geöffneten Haustür erwartete. Sie trug ein hellgraues Kostüm, das vermutlich mehr gekostet hatte, als ein deutscher Hauptkommissar im Monat verdiente, ebenso teure italienische Schuhe mit hohen Absätzen und eine dazu passende, anthrazitfarbene Halskette.

»Sie wünschen?«, fragte sie mit schweizerischem Akzent.

Lenz und Hain zogen ihre Dienstausweise aus der Tasche und hielten sie der Frau vor die Nase.

»Mit wem haben wir denn das Vergnügen?«, gab Lenz die Frage zurück.

»Ich bin Molina Mälzer. Darf ich Sie fragen, was die Polizei zu uns führt?«

»Wir würden gerne Ihren Mann sprechen, Frau Mälzer. Wie die Dame an der Sprechanlage uns mitgeteilt hat, ist er nicht im Haus. Vielleicht sagen Sie uns einfach, wann er zurück ist oder wo er sich momentan aufhält, dann werden wir ihn dort aufsuchen.«

Sie verzog das Gesicht. Die Geste kam von oben herab und hatte etwas Schulmeisterliches.

»Das wird schwerlich möglich sein, er hält sich zurzeit nicht in Europa auf.«

Lenz steckte seinen Ausweis zurück in die Jacke und versuchte, ein freundliches Gesicht zu machen.

»Und wo genau ist ›nicht in Europa‹?«

»Mein Mann ist auf einer Geschäftsreise in Asien. Er ist vor …«, sie sah auf ihre Armbanduhr, »vier Stunden in Singapur gelandet und ruht sich jetzt hoffentlich in seinem Hotelzimmer aus, damit er morgen früh Ortszeit frisch und entspannt seine Termine wahrnehmen kann.«

»Seit wann ist er unterwegs?«

Sie bedachte Lenz mit einem tödlichen Blick.

»Ich bin nicht sicher, ob mir Ihr Ton gefällt, Herr …?«

»Lenz. Hauptkommissar Paul Lenz. Es betrübt mich außerordentlich, wenn Ihnen mein Ton nicht gefällt, allerdings gebe ich zu bedenken, dass ich meiner Arbeit nachgehe. Deshalb bitte ich Sie, mir zu antworten.«

Die Frau zwinkerte ein paar Mal mit den Augen, was sicher nichts mit der Sonneneinstrahlung zu tun hatte. »Er ist am Sonntagnachmittag von Frankfurt aus geflogen«, antwortete sie sachlich. »Und nun sagen Sie mir bitte, was Sie von meinem Mann wollen.«

Lenz schüttelte den Kopf. »Das möchte ich ausschließlich mit ihm besprechen. Wann erwarten Sie ihn zurück?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust, was ein klein wenig unpassend wirkte. »Am Sonntag. Ich hole ihn am Sonntagnachmittag in Frankfurt am Airport ab.«

»Dann sehen wir uns spätestens am Montag, Frau Mälzer. Bis dahin eine gute Zeit«, erklärte er ihr und wandte sich zum Gehen. »Aber falls Ihr Mann es sich anders überlegt und eine frühere Maschine nimmt, soll er sich im Präsidium melden. Haupt…«

»Hauptkommissar Lenz, ich habe Ihren Namen verstanden«, unterbrach sie ihn. »Aber er kommt nicht früher zurück, das weiß ich mit Sicherheit.«

»Nun denn, also bis Montag.« Damit nickte er ihr zu und setzte sich in Bewegung.