
Inhaltsverzeichnis
Titel
Impressum
Vorwort
Die Musikalische Grundschule in Kürze
Die Idee hinter dem Projekt
Erfahrungen aus Hessen und Berlin
Zur Publikation
Entwicklung kann Sprünge machen – Das Beispiel Liebfrauenschule
Schulentwicklung mit Musik – Die Perspektive der wissenschaftlichen Evaluation
Die Projektziele aus Sicht der Evaluation
Schulentwicklung von unten – Der theoretische Bezugsrahmen
Schulentwicklung von unten – Die Praxis
Die Rolle der Musik
Musik um ihrer selbst willen
Selbstständigkeit fördern und trotzdem steuern? Die Perspektive des Kultusministeriums
Das Konzept der Musikalischen Grundschule
Die Akteure: Beteiligung als Erfolgsfaktor
Der Entwicklungsprozess in den Schulen
Die Fortbildungen für Musikkoordinatoren
Unterstützungsstrukturen sichern Qualität und Nachhaltigkeit
Das Potenzial der Musikalischen Grundschule
Wie Musik auf Kinder wirken kann
Im Kollegium voneinander lernen
Lernen in neuen Zusammenhängen
Musik zum Hören und »Sehen«
Schule öffnet sich
Die Projektbeteiligten in Hessen
Weiterführende Literatur
Materialien
Vorwort
Seit ihrem Start im Jahre 2005 hat die Musikalische Grundschule in Hessen eine ungewöhnlich positive Resonanz erfahren: »Wenn es die Musikalische Grundschule nicht gäbe, müsste man sie erfinden«, schrieb uns ein Schulleiter. Streng genommen haben die Schulen genau das getan. Denn am Anfang stand kein Rezept zum Nachmachen, sondern eine Idee: Musik soll in den Unterricht aller Fächer hineinwirken und zum Lernprinzip und Gestaltungselement im gesamten Schulalltag werden. Dieses Schulentwicklungsprojekt im Zeichen der Musik hat die beteiligten Schulen nicht nur äußerlich sichtbar und hörbar verändert, sondern auch ihre innere Entwicklung, also das Klima, die Atmosphäre und den Zusammenhalt nachhaltig beeinflusst.
Ganz im Sinne der wachsenden Selbstständigkeit hessischer Schulen kann und muss dabei jede Schule ihr eigenes Konzept entwickeln. Aber schulische Weiterentwicklung ist kein Selbstläufer: Entwicklungsprozesse erfordern zum einen Zeit. Zum anderen sollten sie begleitet werden durch eine qualifizierte Fortbildung, die den Schulen hilft, die eigenen Potenziale möglichst produktiv zu nutzen.
Eine Bewegung braucht auch klare Ziele: Im Spannungsfeld von individueller Entwicklung und schulübergreifenden Leistungsansprüchen entstanden daher im Laufe von fünf Jahren praxisnahe Qualitätskriterien als Basis für Selbstreflexion und externe Zertifizierung.
So ist aus einem zunächst eher quantitativen Motto (»Mehr Musik vermittelt von mehr Beteiligten in mehr Fächern zu mehr Gelegenheiten«) ein Qualitätssiegel geworden, das auch für Eltern klar erkennbar werden lässt, wie vielseitig eine Musikalische Grundschule die Entwicklung ihres Kindes unterstützt.
Ein Erfolg hat immer viele Mütter und Väter. Bei der Musikalischen Grundschule ist dieser Satz absolut berechtigt und durchaus wörtlich zu nehmen. Sehr herzlich möchte ich den vielen Akteuren danken, die in diesem Projekt zusammengewirkt haben: den Kolleginnen, Kollegen, Schulleitungen und Eltern der mehr als 90 Schulen, die mit ihrer intensiven und konsequenten Arbeit eine Idee für »ihre« Kinder zum Leben erweckt haben, dem Steuerungsteam, das dieses facettenreiche Projekt klug begleitet und strukturiert hat, den Dezernentinnen und Dezernenten der regionalen Schulaufsicht, die es von Anfang an engagiert unterstützt haben, und dem Evaluationsteam der Universität Kassel, das die Prozesssteuerung durch Wirkungsanalysen und Beobachtungen maßgeblich beeinflusst hat.
Mein größter Dank gilt aber unserem Partner, der Bertelsmann Stiftung.
Ihnen, sehr geehrte Frau Mohn, und Ihren Mitarbeiterinnen danke ich dafür, dass wir über fünf Jahre hinweg gemeinsam ein Projekt entwickeln durften, das zeigt, wie die Gestaltungskraft von Schulen sich im Zusammenwirken mit externer Unterstützung optimal entfalten kann – ein großer Schritt auf dem Weg zur selbstständigen Schule in Hessen.
Dorothea Henzler
Hessische Kultusministerin
»Mit Musik geht alles besser« – wir wollten wissen, ob das auch bei der Weiterentwicklung von Grundschulen gilt, und haben deshalb 2005 das Projekt Musikalische Grundschule mit dem Hessischen Kultusministerium gestartet. Die Erfahrungen zeigen: Musik macht Freude und ist bestens geeignet, mehr Klangfülle in die Schulen zu bringen. Sie stärkt das Gemeinschaftsgefühl von Kindern wie auch Kollegien und übt einen positiven Einfluss auf das Schulklima aus. Darüber hinaus kann der vielfältige Einsatz von Musik im Schulalltag auch dazu beitragen, verkrustete Organisationsstrukturen aufzubrechen, Arbeitsstile zu verändern oder die schulübergreifende Zusammenarbeit in einer Region zu fördern.
Musik ist also ein hilfreiches Mittel, das die Schulen heutzutage viel zu wenig nutzen. Im Gegenteil: Der Musikunterricht wurde in allen Bundesländern immer weiter eingeschränkt. Dabei zeigen jüngste Forschungsergebnisse, dass Erwachsene gern und oft auf ihre musikalischen Erfahrungen aus der Kindheit aufbauen. Sie pflegen damit nicht nur die eigene Kultur, sondern finden über Musik auch oft Kontakt zu anderen Menschen und Kulturen. Eine repräsentative Umfrage der Bertelsmann Stiftung zeigte im Juni 2010, dass 96 Prozent der Befragten den frühen Musikunterricht in Kindertageseinrichtungen und Grundschulen für wichtig halten – ein überzeugendes Votum, das uns in diesem Projekt bestärkt.
Die Musikalische Grundschule bietet nicht nur qualitativ hochwertigen Musikunterricht, sondern nutzt die Kraft der Musik, vermittelt von mehr Lehrkräften in mehr Fächern und zu mehr Gelegenheiten.
Der Erfolg des Projekts in Hessen macht uns Mut, es auch in andere Bundesländer zu übertragen. In Hessen sind bereits 90 Schulen, also mehrere Tausend Kinder und über tausend Lehrkräfte an dem Projekt beteiligt. Das Land Berlin knüpft seit 2009 an die Erfahrungen Hessens an. Ich wünsche mir, dass diese Publikation weitere Bundesländer dazu anregt, die Idee der Musikalischen Grundschule für die Entwicklung ihrer Schulen zu nutzen. Mit Fortbildungsmaßnahmen und kleinen Zeitressourcen können sie dazu beitragen, dass noch viel mehr Kinder in den Genuss der positiven Wirkungen von Musik kommen.
Liz Mohn
Stellvertretende Vorsitzende
der Bertelsmann Stiftung
Die Musikalische Grundschule in Kürze
Musik und eigenes Musizieren bieten viele Chancen: Die Verbindung von Kreativität und konzentrierter Übung, die Möglichkeit, Empfindungen über Musik Ausdruck zu verleihen oder sie mitzuerleben, die Gelegenheit, gemeinsam an einem größeren Musikprojekt zu arbeiten und dabei sich und die anderen ganz neu zu erleben – diese und viele weitere Aspekte sprechen dafür, der musikalischen Bildung im schulischen Kontext mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Vor diesem Hintergrund startete das Land Hessen in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung 2005 das Projekt Musikalische Grundschule. Es hat den Anspruch, der musikalischen Bildung einen besonderen Stellenwert im Grundschulalltag zu verleihen und die ganze Schule im wörtlichen wie im übertragenen Sinn in Bewegung zu versetzen.
Die Idee hinter dem Projekt
Im Unterschied zu Konzepten, die vor allem auf die Verstärkung des Fachs Musik ausgerichtet sind, zielt die Musikalische Grundschule darauf, dass Musik in den Unterricht aller Fächer und in den gesamten Schulalltag hineinwirkt. Das bedeutet: Mehr Musik wird von mehr Lehrern in mehr Fächern und zu mehr Gelegenheiten vermittelt. Es geht nicht um punktuelle Impulse, sondern um einen längerfristigen Schulentwicklungsprozess, der vom ganzen Kollegium mitgetragen und gemeinsam gestaltet wird.
Die Inhalte der Musikalischen Grundschule gestaltet jede Schule individuell. Sie orientieren sich an den schulischen Möglichkeiten und Interessen sowie den Kompetenzen und Potenzialen der beteiligten Akteure. Initiiert wird der Schulentwicklungsprozess durch qualifizierte Musiklehrkräfte, die im Rahmen des Projekts zu Musikkoordinatoren fortgebildet werden. Die entscheidende Größe im Entwicklungsprozess ist das gemeinsame Interesse eines Kollegiums, sich als Musikalische Grundschule zu profilieren.
Das Konzept der Musikalischen Grundschule richtet sich an interessierte Grundschulen eines ganzen Bundeslandes und braucht die Unterstützung des zuständigen Ministeriums. Weil Vernetzung und regionale Zusammenarbeit der Schulen für die langfristige Implementierung des Projekts in die Regelpraxis eine große Bedeutung haben, ist es unerlässlich, dass eine größere Anzahl von Schulen eines Bundeslandes gemeinsam startet.
Abbildung 1: Die Musikalische Grundschule in Hessen
In ihrem Schulentwicklungsprozess unterstützen sich die am Projekt beteiligten Schulen wechselseitig durch einen engen Ideen- und Erfahrungsaustausch. Die schulübergreifende und netzwerkartige Zusammenarbeit von zertifizierten Musikalischen Grundschulen wird getragen von regelmäßigen Treffen in regionalen Verbünden und einer jährlichen landesweiten Fachtagung. Ein Landeskoordinator ist Ansprechpartner und Berater bei besonderen Belangen der einzelnen Schule. Eine internetbasierte Projektbox macht den schulspezifisch generierten Erfahrungsschatz für alle Projektbeteiligten zugänglich, sodass davon alle profitieren und gemeinsam darauf aufbauen können.
Erfahrungen aus Hessen und Berlin
In Hessen haben mit Ende des Schuljahres 2009/ 2010 insgesamt rund 90 Schulen die Entwicklung zur Musikalischen Grundschule durchlaufen. Seitdem ist das Modellprojekt dort zum Bestandteil schulischer Regelpraxis geworden.
Vorausgegangen war ein fünfjähriger Prozess, den die Kooperationspartner Hessisches Kultusministerium und Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit einer Fortbildungsleitung gesteuert haben. In insgesamt drei Fortbildungsstaffeln wurden Musikfachkräfte für ihre Aufgabe als Musikkoordinatoren qualifiziert, um den Entwicklungsprozess an ihrer Schule gestalten zu können. Das Konzept der prozessbegleitenden Fortbildung befähigte sie, die Idee der Musikalischen Grundschule mit Blick auf die an ihrer Schule jeweils vorhandenen Erfordernisse und Kompetenzen zu initiieren und in Abstimmung mit der Schulleitung sowie der tatkräftigen Unterstützung des Kollegiums passgenau umzusetzen. Parallel dazu wurde in Hessen eine Unterstützungsstruktur für die Musikalischen Grundschulen entwickelt, um das Konzept nachhaltig lebendig zu halten.
In Berlin ist das Projekt 2009 mit 17 teilnehmenden Grundschulen gestartet. Die Besonderheiten eines Stadtstaates, die dortige sechsjährige Grundschulzeit und der Unterricht in teilweise gebundenen Ganztagsschulen machten eine Anpassung der in Hessen entwickelten Projektstruktur erforderlich. Übertragbar waren die Ausgangsidee – Musik als Motor von Schulentwicklung – , die Grundzüge der Fortbildung von Musiklehrkräften zu Musikkoordinatoren, die Orientierung an unterschiedlichen schulischen Aktionsfeldern sowie Ideen und Bausteine zur praktischen Umsetzung der Musikalischen Grundschule. Bei dem Transfer in ein anderes Bundesland hat sich besonders bewährt, dass die Inhalte des Konzepts der Musikalischen Grundschule nur in Teilen vorgegeben sind. So konnte die Entwicklung der einzelnen Schulen auch in Berlin an den vorhandenen Erfordernissen und Kompetenzen ansetzen und die Besonderheiten des Umfelds berücksichtigen. Damit ist auch dort eine wichtige Voraussetzung zur langfristigen Implementierung der Musikalischen Grundschule gegeben.

Beide Projektverläufe, sowohl die in Hessen als auch die in Berlin, werden wissenschaftlich evaluiert.
Zur Publikation
Die vorliegende Publikation stützt sich im Wesentlichen auf Erkenntnisse und Ergebnisse der Arbeit in Hessen, bezieht aber auch erste Erfahrungen aus dem Berliner Projekt ein.
Sie gibt einen Einblick in das Konzept der Musikalischen Grundschule und erläutert – illustriert durch Beispiele aus der Praxis – die Wirkungen, die es bei den Beteiligten in Schulen haben kann. Die Entwicklungsschritte, die Schulen auf dem Weg zur Musikalischen Grundschule machen, werden beschrieben. Die Publikation zeigt auch auf, wo Unterstützung von außen notwendig ist, damit das Projekt erfolgversprechend starten kann und seine Nachhaltigkeit in der einzelnen Schule gesichert ist.
Diese Publikation richtet sich an Interessierte, die in Schulverwaltung, Schulaufsicht, Bildungsplanung und Schulentwicklung tätig sind. Sie ist aber besonders gedacht für Kollegien und Schulleitungen bereits bestehender sowie interessierter, möglicherweise zukünftiger Musikalischer Grundschulen – und hier nicht zuletzt für Eltern, die genauer wissen möchten, was sich hinter der Idee der Musikalischen Grundschule verbirgt.
Musik als Medium und Motor
»Warum eigentlich
Musikalische Grundschule? Warum bietet es sich an, ausgerechnet Musik als Medium und Motor zu nutzen, um ganze Schulen in Bewegung zu setzen und damit nachhaltige Schulentwicklungsprozesse auszulösen?
• Weil Musik im Schulalltag auf ganz unterschiedlichen Ebenen zugleich ansetzen kann. Ihre Wirkungen können ineinandergreifen und sich wechselseitig verstärken – angefangen bei dem Einzelnen, Schüler wie Lehrkraft, der als musizierender Teil einer Gemeinschaft das soziale Miteinander der schulischen Akteure neu prägt, über die Veränderung von Lernprozessen und Unterrichtsgestaltung bis hin zu einer nach innen und außen wirkenden Schulkultur.
• Weil sich musikalische Aktivitäten, egal ob in Form von Singen, instrumentalem Musizieren oder Tanzen, für ein Handeln in und als Gemeinschaft anbieten und auf diese Weise so ganz nebenbei die sozialen Beziehungen der schulischen Akteure untereinander stärken.
• Weil musikalische Kompetenzen, wenngleich individuell unterschiedlich ausgeprägt, in jedem von uns schlummern. Weil selbst Musik zu (er-)leben und zu machen schon in frühester Kindheit die persönliche Entwicklung bereichert, eigene musikalische Interessen und Fähigkeiten (ans Licht be-)fördert und das individuelle Wohlbefinden steigert.
• Weil Musik sich eignet, Brücken zu anderen Bildungsinhalten zu schlagen, neue pädagogisch-didaktische Wege des Lehrens zu beschreiten, den Unterricht aufzulockern und somit die Freude am Lernen zu erhöhen.
• Weil sich musikalisches Handeln sowohl gut wie nachhaltig in Form fester Rituale in den Schulalltag integrieren lässt.
• Weil Musik die Atmosphäre an einer Schule nicht nur spürbar, sinnlich erfahrbar macht, sondern auch die Schulkultur positiv verändert.
• Weil musikalische Events die Öffnung von Schule nach außen bewirken.
Nicht jeder der genannten Aspekte gilt ausschließlich für die Musik, aber das Zusammenspiel der aufgeführten Potenziale macht die Stärke des Konzepts der Musikalischen Grundschule aus.
Vor dem Hintergrund dieser Hypothesen wurde das Projekt Musikalische Grundschule entwickelt.«
Steuerungsteam der Musikalischen Grundschule Hessen 2010
Entwicklung kann Sprünge machen – Das Beispiel Liebfrauenschule
Susanna Kock, Musikkoordinatorin der Liebfrauenschule Frankfurt am Main
»Die Musik ist für uns das wichtigste Projekt, weil hier alle Kinder und das ganze Kollegium miteingebunden sind.« So stellt die Schulleiterin Frau Kellermann-Galle die Liebfrauenschule vor, und Kinder, Lehrkräfte und auch Eltern stehen hinter diesem Credo. Noch vor fünf Jahren wäre eine solche Äußerung undenkbar gewesen, gab es in der Schule doch nur eine Kollegin, die jeden Tag unverdrossen ein Lied sang, und eine weitere, die wenigstens zum Adventssingen die Instrumente aus dem Schrank im Musikraum holte.
Heute wird in jeder Klasse gesungen, getanzt, auf Instrumenten gespielt und vieles mehr – doch dazu später.
Der Beginn der rasanten Entwicklung der Liebfrauenschule zur Musikalischen Grundschule liegt in einem Pädagogischen Tag vor fünf Jahren. Als neue Kollegin, irritiert von dem Schattendasein der Musik, wollte ich meinem Kollegium diese schmackhaft machen. Auf dem Programm standen Bewegungslieder, Tänze, einfache rhythmische Übungen und das Kennenlernen des Orff-Instrumentariums.