DAS BONNER MÄRCHENBUCH FÜR KINDER
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© 2013 Mathias Lempertz GmbH
Illustrationen: Inge Brandt
Satz und Gestaltung: Tom Frank
Umschlagentwurf: Sarah Kassem, Tom Frank
Druck: Anrop Ltd.
Printed and bound in Israel
ISBN: 978-3-943883-37-4
Geisterstunde
Mäusezähne
Spuk auf dem Marktplatz
Was fliegt durch die Luft?
Traurigkeit und Glück
Ein zorniger Mann
Wo ist Beethoven?
Wer lacht denn da?
Ein Tier aus Afrika
Solango erzählt
Geheimnisvolle Steine
Wie heißt die Gans?
Gefährliche Kanonen
Ein Knopf sagt: Nein!
Das törichte Mäuschen
Komm her! Komm her!
Eine harte Strafe
Klein und klug
Die Versöhnung
Langsam wie eine Schnecke schleicht der Mond in dieser Nacht am Himmel entlang. Über der Stadt Bonn bleibt er stehen, schaut missmutig hinunter und gähnt so laut und ungeniert, dass er sich eigentlich schämen müsste.
„Da unten schlafen schon wieder alle, in dieser Stadt ist nachts nichts los“, schimpft er und wirft einen verdrießlichen Blick auf die goldene Turmuhr der Münsterkirche. Noch eine Viertelstunde, dann verkündet die Glocke die Mitternacht, aber das hat er schon so oft gehört, ‚Bim Bam, Bim Bam‘. Ich spaziere jetzt lieber weiter, hinüber zu den Sieben Bergen, überlegt er sich. Zuallererst hocke ich mich ein Stündchen oben auf den Drachenfels, von dort werfe ich mein Silberlicht über den Rhein, bis er glänzt und glitzert wie eine Riesenschlange. Wenn es mir dann Spaß macht, zähle ich auch noch die Schiffe bis zum Horizont.
Bevor sich der Mond nun abwendet, schweifen seine Augen ein letztes Mal über den Münsterplatz. Da – entdeckt er Lisa, die schlaueste Maus in der ganzen Stadt. An ihrem roten Rucksack erkennt er sie sofort, denn sie flitzt jede Nacht durch die Gassen. Weiß der Kuckuck, was sie immer im Schilde führt.
‚Rums, Rums’ verschließt sie gerade das Türchen zu ihrem Mauseloch. Es liegt am Dreieck, versteckt unter dem Brunnen der drei Grazien, die nur nachts tanzen, wenn ihnen niemand zuschaut. Den Schlüssel hängt sie sich an einer Schnur um den Hals, dann saust sie los. Lisa huscht auf den Münsterplatz, ihr Magen knurrt, sie hat einen Bärenhunger. Schon seit Stunden kitzelt der köstliche Duft vom Weihnachtsmarkt in ihrer Nase. Süße gebrannte Mandeln zum Nachtisch wären fein, überlegt sie. Aber womit könnte ich mein Nachtmahl beginnen? Vielleicht mit einem fetten Reibekuchen oder einem Zipfelchen Wurst? Ein Fleischspieß wäre natürlich das Beste, aber zur Not käme auch eine Brezel in Frage, mit einem Stück Käse. Suchend rennt die Maus zwischen den Buden hin und her, das Schnäuzchen gierig schnuppernd auf den Boden gerichtet. Bin ich heute zu spät losgelaufen? fragt sie sich besorgt. Haben die großen Besen schon wieder alles weggefegt?
Immer schneller hasten die Füßchen über die Holpersteine. Endlich hat sie Glück, genau vor dem Postamt, am Fuß einer Laterne, entdeckt sie einen zerknautschten Pappendeckel. Sie öffnet ihn, und ihr Herz hüpft vor Freude. Drei lange Fritten und ein Klecks Mayonnaise, ein Festschmaus für die Maus. Lisa hockt sich auf die Hinterpfötchen und schmatzt vergnügt mit vollen Backen.
Da erwacht die Glocke der Münsterkirche, der schwere Eisenklöppel schüttelt sich. Zwölf Mal schlägt er mit dumpfer Wucht gegen die Glockenwand ‚Bom-Bom, Bom-Bom…‘
Es ist Mitternacht! Geisterstunde! denkt Lisa, und sieht sich neugierig um. Nur ein einziges Mal möchte ich ein Gespenst sehen, eines, das richtig fliegen kann, am liebsten mit einem langen, weißen Nachthemd und schwarzen Kohleaugen, die gruselig hin und her rollen. Wenn ich dann Angst bekomme, kann ich ja fortlaufen.
Während sie schmatzt und träumt, ist die Glocke im Turm wieder eingeschlafen.
Als es vollkommen still ist, hört die Maus ganz nah etwas, das sie zuvor noch nie gehört hat – ein langgezogenes ‚Quiiietsch’ und dann ein ‚Plumps’. Wie der Blitz ist sie hinter dem gelben Postkasten verschwunden, ihr Herz klopft zum Zerspringen, mit weit aufgerissenen Augen lugt sie um die Ecke. Was ist denn das?
Die Laterne vor der Post hat sich ächzend einen Spalt breit geöffnet, ein längliches Paket ist herausgefallen, aber keines, das in Papier gewickelt ist, mit einer Briefmarke darauf und Krickelkrakelschrift. Nein, dieses Paket ist vollkommen anders, es ist nicht verpackt und – es bewegt sich, es ist lebendig, es hat Füße, und – es schnauft wie ein Walross. Wie zu Eis erstarrt, steht das Mäuschen da und erkennt deutlich zwei schwarze, glänzende Schuhe und dazwischen einen Kopf mit einem Hut. Komisch sieht das aus. Mutig trippelt Lisa näher und verdreht ihr Köpfchen, damit sie dem seltsamen Wesen in die Augen sehen kann. „Wer bist du?“ piepst sie, „du siehst aus wie ein Mensch, aber du bist zusammengeklappt wie ein Taschenmesser.“
Der Mund antwortet nicht, keuchend schnappt er nach Luft. Da stimmt doch etwas nicht, erkennt die schlaue Maus. „Kann ich dir helfen?“ fragt sie mitleidig.
Nur ein Schnaufen und Krächzen kommt als Antwort, und jetzt bemerkt Lisa, dass der Kragen des Hemdes sich vor den Mund des Klappmanns geschoben hat. Ohne zu zögern springt sie auf den Hutrand und packt zu, ihre scharfen, weißen Zähne krallen sich in den Stoff, die Pfötchen reißen und ziehen am Kragen mit aller Kraft. Endlich ist es geschafft, der große Mund ist frei und atmet tief ein und aus.
„Danke, kleine Maus“, japst der Unbekannte, „du hast mich gerettet, jetzt kann ich mich aufpumpen.“
„Aufpumpen? Wie geht das denn? Kann ich das auch?“ fragt Lisa.
Der Fremde lacht und antwortet nicht, er schnaubt und schnaubt und wächst und wächst. Dann richtet er sich plötzlich auf, und vor Lisa steht, zwei Meter groß, der schönste Mann, den sie je gesehen hat. Er trägt eine lange, schwarze Hose, ein leuchtend weißes Hemd und auf dem Kopf einen glänzenden Zylinder mit einem roten Band. Seine freundlichen Augen schauen auf die Maus hinunter. Mit einer Verbeugung zieht er höflich seinen Hut vor ihr.
„Guten Abend, kleine Maus, mein Name ist Gustav, ich bin ein Laternenmann. Es freut mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen.“ „Guten Abend, Gustav, ich bin Lisa, ein Bonner Mäuschen, ich esse gerade Fritten, möchtest du auch eine?“ Gustav schüttelt den Kopf. „Nein, danke, Lisa, lass es dir gut schmecken, doch schließe jetzt bitte deine Augen, ich habe etwas sehr Wichtiges zu tun, und ich möchte nicht, dass du es siehst.“
Lisa schließt brav die Augen, aber weil sie so schrecklich neugierig ist, schummelt sie ein bisschen. Sie blinzelt durch ihre Wimpern, und was nun geschieht, verschlägt ihr die Sprache. Gustav trägt an seinem Hemd zwei Knöpfe, rund und dick wie Tennisbälle, einen rabenschwarzen und einen feuerroten. Jetzt drückt er auf den feuerroten – und schon schnellt er wie eine Rakete in die Höhe, bis er fünf Meter groß ist. Lisa fällt vor Schreck auf den Rücken.
„Ein Riese!“ schreit sie, „Gustav, du bist ja ein Riese!“
Schnell legt er seinen Zeigefinger auf den Mund und sieht ihr fest in die Augen. „Schweig, Mäuschen, über alles, was du gesehen hast“, sagt er ernst.
„Großes Ehrenwort, ich werde nichts verraten“, verspricht Lisa und hebt feierlich die rechte Pfote. Da nickt der Laternenmann zufrieden, schwenkt noch einmal seinen Hut und wendet sich ab. Mit Riesenschritten stakst er über den Münsterplatz und verschwindet in der Remigiusstraße. ‚Klack, Klack, Klack‘ hallen seine Schritte leiserwerdend durch die Nacht.
Lisa starrt ungläubig auf die geschlossene Laterne. War das ein Spuk? Hat sie geträumt? Oder war das vielleicht - ein Gespenst? Unsicher schaut sie zum Mond hinauf. „Hast du ihn auch gesehen?“ piepst sie zu ihm hinauf.
Der Mond nickt, sein Gesicht strahlt, wie Lisa es noch nie erlebt hat, und er ruft vom Himmel herab: „Ja, Lisa, du hast nicht geträumt, auch ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen, Gustav, den Bonner Laternenmann. Jetzt muss ich mich beeilen, denn das will ich sofort den Sternen erzählen.“
Trippel Trappel, Trippel Trappel‘ läuft Lisa in der nächsten Nacht im Kreis um Gustavs Laterne herum, bis ihr schwindelig wird. Aber sie darf nicht stillstehen, sonst frieren die nackten Füßchen zu Eiszapfen, denn es ist bitterkalt, und sie hat schon wieder ihre Filzpantöffelchen im Mauseloch vergessen.
Lisas Augen huschen über den Platz, sie ist allein. Nur der Mond hängt sein gelbes Gesicht heute so tief über den Turm der Münsterkirche, dass Lisa die Uhr mit den goldenen Zeigern nicht sehen kann. Sicher wartet er auch auf Gustav. Wie spät mag es sein?
Da schlägt die Glocke vom Turm. „Mitternacht!“ jubelt die Maus und hüpft vor Freude in die Luft. Sie kauert sich flach auf den Boden, reißt die Augen weit auf, und ihr kleine Herz bubbert vor Aufregung.
‚Quiiietsch‘, macht die Laterne, und Gustav fällt heraus. Er schnaubt und schnaubt und wächst und wächst und richtet sich auf. Dann kommt das Beste – der Simsalabimhokuspokuszaubertrick: Sein Zeigefinger drückt auf den roten Knopf und ‚Zisch’ saust Gustav in die Höhe.
„Du bist der schönste Riese auf der ganzen Welt“, piepst die Maus und klatscht in die Pfoten. Lächelnd verbeugt sich der Laternenmann und wendet sich zum Gehen.
„Gustav, so warte doch bitte einen Moment“, ruft Lisa und trippelt atemlos neben ihm her. „Ich bin immer so allein. Wohin gehst du jetzt? Darf ich vielleicht ein bisschen hinter dir herlaufen?“
Der Laternenmann bleibt stehen. Er hat Mitleid mit der einsamen Maus. Nachdenklich schaut er auf sie herab, bückt sich plötzlich zur Erde und nimmt sie in seine Hände. „Du hast mir das Leben gerettet, Lisa, das werde ich dir nie vergessen. Aber bist du auch kein Plappermaul? Kannst du schweigen wie ein… Fisch?“ Lisa nickt eifrig.
„Wenn ich dich mitnehme“, fährt Gustav fort, „wirst du wunderliche Geschichten erleben, über die du niemals reden darfst.“
„Hab keine Angst, Gustav“, versichert die Maus, „ich kann mir sowieso nichts merken, mein kleiner Kopf ist ein bisschen dumm, vielleicht ist er mit Stroh gefüllt.“
Gespannt sieht sie ihm in die Augen. Wird er ihr das glauben? Der Laternenmann schüttelt ungläubig den Kopf, aber er setzt die Maus tatsächlich auf seine rechte Schulter und marschiert los. Lisa kann ihr Glück kaum fassen. Von hier oben sieht die Welt ganz anders aus, und sie schwankt ein wenig bei jedem Schritt wie ein Schiff, das auf Wellen schaukelt.
‚Klack, Klack, Klack‘ wandern Gustavs schwarze Schuhe über den Platz. Aber wie staunt die Maus, als sie in die Remigiustraße einbiegen. Von allen Seiten drängen Laternenmänner heran, Riesen, die fast genauso aussehen wie Gustav, aber er hat das liebste Gesicht von allen, und er trägt den höchsten Zylinder, geschmückt mit einem roten Band. Als sie den Marktplatz erreichen, schaut Lisa verwundert auf das alte Rathaus.
Viele Laternenmänner sitzen schon oben auf dem Dach. Andere klettern noch mit ihren langen Armen und Beinen die Wände hinauf. Gustav dreht sich, als wolle er mit Lisa tanzen, dann nimmt er Anlauf und springt auf das Treppengitter vor der Eingangstür. Die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, balanciert er wie ein Seiltänzer im Zirkus und macht einen Salto durch die Luft. Die Maus quietscht vor Vergnügen. Mit einem großen Schritt schwingt er sich auf die Regenrinne und setzt sich rittlings auf die Dachspitze. Da verstummt das Gespräch der Laternenmänner. Alle schauen auf Lisa. Die Maus fühlt sich unbehaglich und kriecht unter Gustavs Kragen, bis nur die Öhrchen noch zu sehen sind. Jetzt erhebt sich ein Laternenmann mit grimmigem Gesicht, sein rechtes Auge ist bedeckt von einer schwarzen Klappe, als sei er ein Pirat. Das andere Auge funkelt böse. Er packt Gustav bei den Schultern und schüttelt ihn zornig. Gustav lässt Lisa in seiner Hosentasche verschwinden, dann steht er auf und stößt den Mann zurück.
„Was fällt dir ein, diese Maus mitzubringen?“ faucht der Böse, „du verstößt gegen das Gesetz der Laternenmänner. Niemand soll uns sehen, kein Mensch und kein Tier.“
„Ich will es dir erklären“, entgegnet Gustav ruhig.
„Deine Erklärung interessiert mich nicht. Nimm sofort die Maus und wirf sie hinunter auf den Platz, damit sie uns nicht verraten kann!“
„Nein!“ entgegnet Gustav. „Ich werde dieser Maus kein Leid antun, bitte hört mir zu, Freunde, ich möchte euch erzählen, wie sie mir das Leben gerettet hat.“
„Das will ich nicht hören“, empört sich der Böse, „wirf sie auf den Platz oder verschwinde mit ihr aus unserer Stadt.“
Jetzt mischen sich andere Laternenmänner in den Streit ein.
„Gustav soll bei uns bleiben.“
„Lass ihm doch die Maus.“
„Sie piepst doch nur.“
„Niemand hört auf sie.“
„Sei doch nicht so streng.“