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Vollständig überarbeitete Neuausgabe des 1998 im Nymphenburger Verlag erschienenen Titels »Vom Umgang mit der Seele. Therapie zwischen Magie und Wissenschaft«

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www.herbig-verlag.de

© für die Originalausgabe und das eBook:

2012 F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel

eBook-Produktion: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten

ISBN 978-3-7766-8152-9

Inhalt

Vorwort

1. Evolution und Psychotherapie

Die seelische Bedeutung der Magie

Literatur

2. Archaische Psychotherapie

Der Medizinmann als Psychotherapeut

Der Tabu-Tod

Krieg im Geisterreich

Schamanistische Methoden

Bildhafte und abstrakte Kuren

Wie man Schamane wird

Die Schamanenkrankheit

Die Aktualität des Schamanismus

Literatur

3. Riten, Mythen, Priesterärzte

Vom Sinn der Ekstase

Ekstatische Kulte der Gegenwart

Saturnalien und verwandte Feste

Die Austreibung und Übertragung von Leiden

Sündenbock-Riten

Literatur

4. Die Psychotherapie der Antike

Mesopotamien

Ägypten

Altpersische Psychotherapie

Die Hebräer

Indien

Griechenland

Die Geburt einer rationalen Kosmologie und Psychologie

Medizin ohne Psychotherapie

Psychologen der Antike

Platon und Aristoteles

Etrusker und Römer

Epikureer, Stoiker: Entspannung durch Einsicht

Literatur

5. Das Mittelalter: Heilung für Besessene?

Mittelalter – Finsternis und Licht

Zur Psychodynamik der Besessenheit

Die Hexenverfolgung

Ostgriechen, Nestorianer, Araber

Ansätze zu einer realistischen Psychologie

Literatur

6. Von der Magie zur Beobachtung

Was ist Hysterie?

Die Bürger und die »armen Irren«

Monstren und Tiere …

Befreit wozu?

Die Geburt der »Psychiatrie«

Theatralische Therapie

Literatur

7. Magnetismus, Hypnose, Suggestion

Somnambule und Medien

Der Streit um die Erinnerung: aktuelle Aspekte

Satanskulte und multiple Persönlichkeiten

Geistiges Heilen und christliche Wissenschaft

Suggestion und Persuasion

Literatur

8. Die Psychoanalyse

Das Unbehagen im Fortschritt

Freuds Werdegang

Freud bei Charcot

Von der Katharsis zur Analyse

Verwundbare Kindheit

Die Bedeutung der Träume

Übertragung und Gegenübertragung

Freuds Originalität

Literatur

9. Die psychoanalytische Bewegung

Carl Gustav Jung (1875–1961)

Otto Rank (1884–1939)

Die Neo-Psychoanalyse

Die NS-Psychotherapie in Deutschland

Sándor Ferenczi (1873–1933)

Georg Groddeck und die Psychosomatik

Literatur

10. Psychochirurgie und Psychopharmakologie

Insulin- und Elektroschock

Chirurgische Eingriffe

Pharmaka für die Psyche

»Wahrheitsdrogen« und »bewusstseinserweiternde« Stoffe

Literatur

11. Veränderungen, Neuerungen, Erweiterungen

Westliche und östliche Psychotherapie

Gruppentherapie

Familienforschung und Familientherapie

Verhaltenstherapie

Ein gemeinsamer Nenner?

Literatur

12. Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert

Das deutsche Psychotherapeuten-Gesetz

Der Bedarf an Psychotherapie

Ist die Gesellschaft »therapeutisiert«?

Literatur

Lesetipps

Vorwort

Eine Geschichte der seelischen Krankheit und ihrer Heilung ist immer auch Kulturgeschichte. Jede seelische Regelwidrigkeit trägt den Stempel der Sozietät, die Normen schafft und auf den verschiedensten Wegen versucht, ihre Mitglieder zu bewegen, sich mit diesen abzufinden. Die Psychotherapie hat eine sehr lange Vergangenheit, während ihre eigentliche Geschichte als Wissenschaft erst begann, als sich in der Renaissance der Mensch als Schöpfer seiner eigenen Individualität identifizierte.

Anders als in traditionellen Kulturen, in denen sich die persönliche Entwicklung an ständischen Normen orientiert und der Sohn des Bauern mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls Bauer wird, wird in den städtischen, vom Bürgertum geprägten Gesellschaften jeder Einzelne seines Glückes Schmied. Große religiöse Veränderungen wie Reformation und Gegenreformation haben in Europa diesen Wandel formuliert – weg von einer traditionellen Hierarchie, in der das fromme Volk glaubt, was die Bischöfe sagen, hin zu einer Gemeinschaft der Gläubigen, von denen jeder sich im persönlichen Bibelstudium orientiert und der Prediger von seiner Gemeinde gewählt wird.

Die berufliche Rolle des Psychotherapeuten unterscheidet ihn von allen anderen modernen Berufen, die sich in Gesellschaften mit weit fortgeschrittener Industrialisierung und Individualisierung ausdifferenziert haben. Sie führt zurück zu den altsteinzeitlichen Kulturen. Hier gibt es oft nur einen erkennbaren »Beruf«, den des Schamanen, der Dichter, Sänger, Theaterspieler, Medizinmann und Psychotherapeut in Personalunion ist. Schamanen lernen ihr Handwerk ausschließlich in persönlicher Unterweisung und oft nur durch eine eigene Leidenserfahrung, die »Schamanenkrankheit«.

Wenn wir die prägende Phase in der Entwicklung der modernen Psychotherapie mit der psychoanalytischen Bewegung von Sigmund Freud beginnen lassen, erkennen wir als ihr Kennzeichen die professionelle Rolle einer Person, die nicht Mediziner, nicht Lehrer oder Priester ist, sondern etwas Eigenes. Und es mutet merkwürdig an, dass sich die Zugehörigkeit zu dieser Profession jetzt doch wieder an eine persönliche Unterweisung in einer Lehranalyse knüpft, in der eigene seelische Belastungen erforscht werden sollen. Die frühen psychotherapeutischen »Bewegungen« haben sich in einer Weise organisiert, die durchaus Gemeinsamkeiten mit Stammeskulturen aufwies: Es gab eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Mythen, welche zugleich Grenzen der eigenen »Schule« gegenüber anderen schufen.

Daher bin ich überzeugt, dass es sinnvoll ist, eine Geschichte der Psychotherapie nicht in einer Zeit beginnen zu lassen, in der sich dieser Beruf in Abgrenzung zur theologisch fundierten Seelsorge und zur an der Zellularpathologie orientierten Medizin entwickelte. Wir sollten vielmehr viel weiter zurückschauen und dadurch auch das Verständnis in die Zeitlosigkeit von magischen und esoterischen Modellen vertiefen, die bis heute in der Welt der Psychotherapie eine große Rolle spielen. Gegenwärtig gibt es neben den psychologischen Psychotherapeuten, die sich in Kammern organisieren, ihre Arbeit systematisch reflektieren und in wissenschaftlichen Methoden geschult sind, eine wirtschaftlich mindestens ebenso bedeutsame Gruppe von neuen Schamanen.

Ausgangspunkt des Buches ist die Evolution des Bewusstseins und die Untersuchung des magischen Denkens als der ersten und bis heute viel verbreiteten »Methode« der Psychotherapie. Meist sprechen wir heute nicht von magischem, sondern von positivem Denken und unterwerfen so die ursprüngliche Vielfalt der Magie einem technischen Zweck. Aufgabe der archaischen, zum guten Teil auch der modernen Psychotherapie war und ist es, die mit dem Evolutionsschritt zum reflektierenden Bewusstsein verbundenen Gefahren zu überwinden.

Schließlich noch einige Worte zum besonderen Charakter einer allgemeinverständlichen Darstellung. Der Wissenschaftler ist oft versucht, solche Aufgaben gering zu schätzen. Er schreckt vor der ungeheuren Vereinfachung zurück, die eine Geschichte der Psychotherapie auf 300 Seiten in einer für den interessierten Laien verständlichen Sprache notgedrungen bedeuten muss. Er fürchtet, dass er hier keinem Kenner etwas Neues sagen wird, und bequemt sich vielleicht, einen arg verdünnten Aufguss seines Wissens zu bereiten.

Ich habe versucht, hier einen anderen Weg zu gehen. Mir scheint, dass der Zwang, seine Gedanken so auszudrücken, dass sie jeder verstehen kann, höchst heilsam ist und mehr zu einer Vertiefung der Probleme anregt, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Das Streben nach Vereinfachung und Klarheit ist das Ziel der Wissenschaft selbst, die ja stets danach strebt, aus der Fülle einzelner Vorgänge und Beobachtungen das Allgemeine, Gesetzmäßige abzuleiten.

Ich habe das Buch seit dem ersten Erscheinen mehrmals überarbeitet und ergänzt, zuletzt 2012. Das Ziel des Textes ist das gleiche geblieben: den Leser durch eine umfassende geschichtliche Darstellung in einem unübersichtlichen und von oft sehr voreiligen Überzeugungen durchtränkten Gebiet zu orientieren.

Wolfgang Schmidbauer

München, Juli 2012

1. Evolution und Psychotherapie

Der Mensch, Psyche wie Körper, hat sich aus tierischen Vorstufen entwickelt. Die Zwischenformen sind ausgestorben; sie müssen aus fossilen Funden mühsam rekonstruiert werden. Bereits vor zehn bis 20 Millionen Jahren hat sich die Evolution des Menschen von jener seiner nächsten Verwandten unter den Primaten abgespalten. Wie unterscheidet sich der Mensch von ihnen?

Man kann eine lange Reihe von Antworten auf diese Frage finden. Die Spanier, welche um 1500 in Amerika landeten, waren etwa überzeugt, dass der Glaube an einen allmächtigen Gott den Menschen über das Tier erhebt. Folgerichtig erklärten sie die Indianer zu Tieren und nahmen sich das Recht, sie als Sklaven auszubeuten oder abzuschlachten. »Soll es nicht länger erlaubt sein, Lasttiere zur Arbeit zu benutzen«, fragten die spanischen Siedler erstaunt, als Fray Bartolomeo de Las Casas die Zwangsarbeit abschaffen wollte. Es sei besser für die Indianer, als Sklaven in Gefangenschaft denn als Tiere in Freiheit zu leben, behauptete Anfang des 16. Jahrhunderts eine Kommission spanischer Theologen: »Einerseits fliehen sie die Spanier und lehnen es ab, ohne Belohnung zu arbeiten; andrerseits sind sie so pervers, dass sie manchmal ihren gesamten Besitz verschenken. Außerdem sträuben sie sich dagegen, jene ihrer Kameraden zu verstoßen, denen die Spanier die Ohren abgeschnitten haben.«

Zur selben Zeit berichtet ein spanischer Reisender, Fernando Gonzalez de Oviedo, dass die Indianer in Puerto Rico Weiße zu fangen und zu ertränken pflegen. Die Leichen beobachten sie wochenlang, um zu sehen, ob die Toten verwesen oder nicht. Denn die Indios hielten die Spanier für Götter und wollten herausbekommen, ob sie nicht in Wahrheit Menschen seien. Die »Primitiven« riefen also, wie wir mit Claude Lévi-Strauss festhalten können, die Naturwissenschaft zu Hilfe, während die »Zivilisierten« sozialwissenschaftlich klassifizierten, d. h. für sie nützliche Vorurteile theologisch verbrämten.

Dieser Exkurs zeigt uns zweierlei: dass die Antwort auf eine Frage nach dem Wesen des Menschen nicht so einfach ist, wie man meinen möchte, und dass der Hochmut des Zivilisierten gegenüber der geistigen Welt der sogenannten Primitiven unbegründet ist. Wir verwenden den Ausdruck Primitive hier nur, um eine schriftlose Kultur zu kennzeichnen, völlig ohne den wertenden Beigeschmack, den das Wort gerne annimmt. Wir werden sehen, dass eine Geringschätzung der Naturvölker (auch dies ein unscharfer Ausdruck, denn sie sind ebenso stark von Kultur geprägt wie wir, nur sind ihre Gesellschaften anders aufgebaut) gerade in einer Geschichte der Psychotherapie fehl am Platze ist.

Kehren wir zu der ersten Frage zurück: Was unterscheidet den Menschen vom Tier? Die Antworten der modernen Kulturanthropologie auf diese Frage lauten: Werkzeugherstellung (im Unterschied zum Werkzeuggebrauch, den man auch bei Schimpansen, Seeottern und Darwinfinken findet), Sprache, Kultur, reflektierendes Bewusstsein. Die Tatsache, dass wir heute in Autos fahren, Städte bauen und Astronauten auf ihrem Mondflug verfolgen, fällt diesen Merkmalen gegenüber nicht ins Gewicht. Denn es gibt Menschen, die nichts davon kennen, die hinter Windschirmen oder unter lose zusammengesteckten Blätterhütten leben, nackt Antilopen hetzen oder Melonen, Beeren und Nüsse sammeln. Doch auch auf dieser archaischen Stufe technischer Beherrschung der Umwelt finden wir Werkzeugherstellung, Sprache, Kultur, Religion, Heiratsregeln (Inzestverbote), reflektierendes Bewusstsein, kurzum Menschen, die als Individuen ebenso weit von den Tieren entfernt sind wie wir, mag sich ihre Kultur auch noch so sehr von der unsrigen unterscheiden.

Ein Buschmannkind (die Lebensform seiner Eltern haben wir eben beschrieben), das heute, seiner Familie entrissen, mit Kindern in einer Großstadt aufwachsen würde, träte nach wenigen Jahren mit der gleichen Selbstverständlichkeit auf die Rolltreppen der Untergrundbahn, würde in Supermärkten einkaufen und sich von einer Lehrerin Kenntnisse beibringen lassen, die seinen leiblichen Eltern nicht im Traum einfallen würden. Wir wollen hoffen, dass das kleine Buschmannkind (Experimente solcher Art sind schon früh gemacht worden) nicht unter den Vorurteilen leiden muss, mit denen viele Menschen einander plagen, und uns fragen, was diese doch überraschende Anpassungsfähigkeit eines auf altsteinzeitlichem Niveau lebenden Jägers und Sammlers an unsere Zivilisation ermöglicht. Die Antwort darauf gibt uns die Evolutionstheorie, welche heute, nachdem die Erkenntnisse von Charles Darwin erweitert und modifiziert wurden (vor allem durch die experimentelle Mutationsforschung), von den meisten Biologen und Verhaltensforschern akzeptiert wird (Namen s. Ploog 1965). Die beiden großen Baumeister der Natur, Mutation und Selektion (Auslese), müssen dafür verantwortlich sein, dass es heute einen psychisch und (in geringerem Maße) physisch weitgehend identischen Menschentypus gibt. Im Gegensatz zur »Rassenpsychologie«, wie sie im »Dritten Reich« geübt wurde, sind sich die modernen Anthropologen weitgehend einig, dass seelische Unterschiede zwischen einzelnen Menschen verschiedener Kulturen fast ausschließlich auf Lernen beruhen, also nicht angeboren sind wie etwa die Kräuselung der Haare oder die Hautfarbe. Als Beweis dafür kann man Studien anführen, die im Prinzip ähnlich aufgebaut sind wie unser Gedankenexperiment mit dem Buschmannkind. Man hat gefunden, dass die psychischen Merkmale der Schwarzen in amerikanischen Städten der Nordstaaten, um nur ein Beispiel zu nennen, denen der Weißen vergleichbarer sozialer Schichten weit ähnlicher sind als denen afrikanischer Schwarzer.

Mutation und Selektion bildeten den heutigen Menschen in dem typischen Rhythmus biologischer Veränderung. Die Mutation veränderte, die Selektion sorgte dafür, dass nur Veränderungen weitergegeben wurden, die für das Überleben günstig waren. Die Filter der Selektion sind für den Menschen in einer so langen Zeitspanne seiner Entwicklungsgeschichte gleich geblieben, sodass die relativ kurzfristigen Änderungen seit der Jungsteinzeit, als der Ackerbau entdeckt wurde und in den fruchtbaren Flusstälern die ersten Städte entstanden, den biologischen Typus von Homo sapiens nicht mehr verändern konnten. Wir werden bald sehen, wie wichtig dieser evolutionstheoretische Gesichtspunkt für eine Geschichte der Psychotherapie sein kann. Denn das Leben des Menschen als Jäger und Sammler in der Altsteinzeit, welches mindestens 99 Prozent seiner Entwicklungsgeschichte ausmacht, muss nicht nur die psychische Gleichförmigkeit der verschiedenen Rassen erzwungen, sondern die Seele des Menschen selbst entscheidend geprägt haben. Die selektiven Einflüsse, denen der Mensch damals unterworfen war, formten die genetische Struktur und damit auch die Grundzüge seiner Psyche. Betrachten wir sie näher, indem wir uns vor allem auf Befunde stützen, zu denen die ethnografische Feldforschung an bis heute erhaltenen Resten von Jägern und Sammlern gekommen ist.

  1. Der primitive Jäger und Sammler überlebt vor allem dank einer fundierten Kenntnis über die natürlichen Nahrungsquellen seiner Umwelt, sowohl was das Verhalten der Tiere als auch das Wissen um essbare Pflanzen angeht. Erst in zweiter Linie nützt ihm seine oft rudimentäre Technologie (Speere, Bogen und Pfeil, Pfeilgifte, Grabstöcke). Auf Intelligenz stand also durchweg eine größere Selektionsprämie als auf handwerkliches Können.
  2. Spätestens seit der Evolution von Homo erectus (Pithecanthropus von Java, Sinanthropus von Peking) war der Mensch ein Großwildjäger. Großwildjagd ist einem biologisch relativ schlecht bewaffneten Wesen, wie er eines ist, nur in Gruppen möglich. Damals mag sich eine hohe Selektionsprämie für Kommunikation zwischen einzelnen Jägern herausgebildet haben. Sippen von Homo erectus, die sich gut miteinander verständigen konnten, erbeuteten mehr und bevölkerten größere Areale.
  3. Mit der Entwicklung der Sprache intensivierte sich das Gruppenleben. Die Sexualität wurde, über ihre Fortpflanzungsfunktion hinaus, zu einem sehr wichtigen gruppenbindenden Mittel (vgl. Wolfgang Wickler 1969).
  4. Seit der Mensch in Gruppen biologisch erfolgreicher war, erhielt eine spezifische, mit der Intelligenz eng verknüpfte Fähigkeit besonders hohe Selektionsprämien: die soziale und kulturelle Anpassungsfähigkeit an das Gruppenleben, das Lernen.
  5. So funktioniert die menschliche Anpassung ab einem bestimmten (aber kaum bestimmbaren) Zeitpunkt der Evolution grundsätzlich anders als die zoologische. Nicht mehr die Struktur des einzelnen Organismus passt sich an die jeweils gegebene Umwelt an, sondern die Struktur der Gruppe, der primitiven Kultur. Ihre Anpassung schlägt sich in Normen und sozialen Spielregeln nieder. Diese Normen werden dann an die Kinder und Kindeskinder weitergegeben. So erklärt sich die große Variabilität gesellschaftlicher Normen schon auf steinzeitlichem Niveau: die Pflicht des Eskimos zu fleißigem Jagen ebenso wie die Trägheit des Pygmäen oder Buschmannes, der in der Regel nicht mehr als drei Stunden pro Tag arbeitet (was man wohl als das evolutionstheoretisch »natürliche« Maß akzeptieren muss), der kriegerische Ehrgeiz des Prärieindianers und die friedliche Haltung des Mbuti-Pygmäen, der alle aufkommenden Konflikte einfach dadurch löst, dass die Kontrahenten zu anderen Gruppen überwechseln.
  6. Bei aller Verschiedenheit der kulturellen Formen, die aus diesem Prozess hervorgehen, lassen sich einige Folgen festhalten, die alle Individuen betreffen. Die Sprache als wichtigster Träger sozialer Normen und kultureller Traditionen musste weiter ausgebaut werden. Alle biologischen Residuen, welche die kulturelle Anpassungsfähigkeit durch Lernen beeinträchtigten, wirkten sich negativ aus und verkümmerten. Der Mensch verlor seine Instinkte bis auf wenige bruchstückhafte und immer durch Lernen überformbare Reste. Die kulturelle Adaptation erwies sich als erheblich wirksamer, sie arbeitete rascher und flexibler, sie gestattete dem Menschen, einen Bereich der Erde zu besiedeln, der größer ist als der jedes anderen Tieres.
  7. Soziale Verbote, welche eine Kultur lebensfähig machen, traten an die Stelle der Instinkte (z. B. das Inzestverbot, da ein vollzogener Inzest die Weitergabe kultureller Verhaltensvorschriften behindert und den gesellschaftlichen Austausch unterbindet).
  8. Einsichtiges, reflektierendes Denken, das die Folgen des eigenen Verhaltens in einem inneren Probehandeln (Sigmund Freud) vorher abschätzt und das Individuum sich danach richten lässt, wurde besonders selektionsgünstig, da es die Möglichkeiten einer reibungslosen, dabei aber im Gegensatz zu tierischen Sozietäten, die durch sehr starre Instinkte zusammengehalten werden, variablen Adaptation an die jeweiligen kulturellen Formen begünstigte.

Die seelische Bedeutung der Magie

Wir haben hier ein durchaus rationales Bild der psychischen Evolution skizziert. Es mag in manchen Partien verzeichnet sein, hilft aber, sich zu orientieren. Wie kommt es nun, dass so viele Berichte über die Primitiven geradezu überquellen von der Beschreibung unvernünftiger Handlungen, sonderbarer, logisch und kausal nicht zu begründender Überzeugungen, die man in der Regel »magisch« nennt? Warum darf etwa die Frau eines Huzul in den Karpaten nicht spinnen, wenn ihr Mann jagt? Weil sich sonst das Wild ebenso dreht wie die Spindel und der Jäger vorbeischießt, wird sie uns antworten. Warum muss jeder Besucher, der in das Haus eines ostindischen Jägers kommt, geradezu eintreten und darf nicht an der Tür zögern? Weil sonst das Tier, ehe es in die Falle geht, ebenfalls zögert. Warum darf ein Krieger auf Madagaskar keine Nieren essen? Weil das Wort für Nieren dasselbe ist wie jenes für Schuss; ein Schuss könnte ihn treffen, wenn er sich nicht vorsähe. Warum darf die Frau des ostafrikanischen Elefantenjägers ihren Mann nicht betrügen? Weil ihn sonst der Elefant tötet oder schwer verwundet. Warum hat der Jäger von den Aleuten keinen einzigen Seeotter gefangen? Weil seine Frau untreu oder seine Schwester unkeusch war. Warum darf niemand den Strandplatz betreten, von dem aus ein Kanu auf den Kei-Inseln bei Neuguinea in See sticht? Weil sonst die Reisenden Schiffbruch erleiden. Was kann die Frau eines See-Dajak tun, um ihn sicher auf dem Weg zu einem kriegerischen Überfall zu wissen? Sie muss früh erwachen, denn dann wird auch ihr Mann nicht verschlafen; sie darf ihr Haar nicht einfetten, denn täte sie es, könnte er ausgleiten, sie darf tagsüber nicht schlafen oder dösen, denn sonst wird auch die Aufmerksamkeit ihres Mannes nachlassen. Jeden Morgen muss sie Reiskörner auf der Veranda des Hauses verstreuen, denn dann werden die Männer flink und beweglich sein. Innen im Haus muss peinlichste Ordnung herrschen, denn wenn die Frauen über irgendeinen herumliegenden Gegenstand stolpern, werden auch die Männer stolpern und dem Feind in die Hände fallen. Schließlich soll von jeder Speise ein wenig beiseitegelegt werden, denn geschieht es, werden auch die Männer nie Hunger leiden. Was soll eine Huichol-Indianerin tun, damit sie ebenso schöne Muster weben kann, wie sie auf dem Rücken der Schlange gezeichnet sind? Sie bittet ihren Mann, eine Schlange zu fangen, indem er sie hinter dem Kopf mit einem gegabelten Stock festhält; dann streicht sie mit der Hand den Rücken der Schlange entlang und führt dieselbe Hand über ihre Stirn und ihre Augen. Dadurch wird sie fähig sein, ebenso schöne Muster zu weben, wie sie die Schlange trägt.

Die Liste solcher magischen Praktiken ließe sich noch sehr lange fortsetzen. James Frazer hat einige dicke Bände mit ihrer Beschreibung gefüllt. Der britische Anthropologe fasste die Magie im psychologischen Kontext seiner Epoche als verfehlte Anwendungen der Assoziationsgesetze auf. Diese sagen aus, auf welche Weise sich Vorstellungen verknüpfen. Schon Aristoteles hat einige dieser Gesetze beschrieben: Nähe in Raum oder Zeit, Ähnlichkeit, Kontrast. Eine sehr einfache Methode, solche Assoziationen nachzuweisen, besteht darin, jemanden zu bitten, das erste Wort zu sagen, das ihm auf ein »Reizwort« einfällt: Tal-Berg, Zeit-Uhr, Liebe-Triebe, Topf-Deckel. Frazer erklärt die »homöopathische« Magie durch eine falsche Anwendung des Gesetzes der Ähnlichkeit (wenn ich die Haare meines Feindes verbrenne, mache ich, dass er bald verbrennen wird), die »kontagiöse« (ansteckende) Magie durch eine falsche Anwendung des Assoziationsgesetzes der Berührung (Kontiguität, räumliche bzw. zeitliche Nähe). Die kontagiöse Magie bezieht sich auf so verbreitete Formen des Aberglaubens wie das Bannen eines Beutetiers, indem man einen Nagel oder einen Holzpflock in seine Fährte schlägt (ein Brauch, der bis ins 19. Jahrhundert in Deutschland üblich war und auch bei den steinzeitlichen Jägern in Australien beobachtet wurde).

Viele werden das Sprichwort kennen: Er schlägt den Rock und nicht den Dieb; wenige aber wissen, dass es sich auch hier um kontagiöse Magie handelt, die im vergangenen Jahrhundert in Norddeutschland noch geläufig war. Wer einen Dieb nicht festhalten konnte, suchte sich seines Rocks zu bemächtigen. Dann wurde das Kleidungsstück heftig verprügelt, denn man glaubte, auf diese Weise würde auch der Dieb die Schläge spüren und erkranken. Frazer zitiert aus dem Jahr 1830 den Fall eines Honigdiebs, der ertappt wurde und seinen Mantel zurücklassen musste. Der Imker malträtierte den Mantel, und als der Dieb davon erfuhr, erschrak er, legte sich ins Bett und starb nach kurzer Zeit.

Warum kann uns die Interpretation der Magie als primitive Naturerklärung und falsche Anwendung der Assoziationsgesetze nicht genügen? Zunächst ist zu bedenken, dass die Primitiven keineswegs, wie viele frühere Anthropologen (die selbst nie Feldforschung betrieben hatten) glaubten, durchweg ein »prälogisches«, gestaltloses, gefühlsdurchtränktes Denken aufweisen, sondern auf vielen Gebieten, die mit ihrem Lebensunterhalt zu tun haben, genauso logisch und scharfsinnig denken wie wir. Paul Parin veranschaulicht das durch eine Anekdote, welche die falschen Erwartungen des europäischen Forschers bloßstellt: Während seiner Forschungen bei den Dogon lernte er einen Mann kennen, der einen verkrüppelten Zehennagel an seinem linken Fuß darauf zurückführte, er sei von einem feindlichen Zauberer verhext worden. Der Europäer zeigt daraufhin auf den ebenfalls verunstalteten Zeh des anderen Fußes und fragt: »Wer hat dich da verhext?« Niemand, antwortet der Dogon; es sei Schmutz unter den Nagel geraten, dieser habe sich entzündet, ob denn der Weiße solche Erkrankungen nicht kenne?

Wenn das menschliche Denken ein so unzuverlässiges und realitätsfernes Instrument wäre, wie es etwa Lucien Levy-Bruhls Lehre von der participation mystique aussagt, dann hätte es sich in dem unerbittlichen Zweischritt von Mutation und Selektion nicht herausgebildet. Denken, Einsicht, welche die Folgen der eigenen Handlungen vorwegnimmt, Sprache und reflektierendes Bewusstsein haben ihren guten evolutionären Sinn. Sollte ihn die Magie nicht auch haben? Ist sie es nicht, die nach Frazers Worten wie ein mächtiger unterirdischer Strom immer noch das gesamte Denken des Menschen durchzieht (und wir werden sehen, wie recht Frazer mit dieser Annahme hat), sinnvoll innerhalb jener spezifischen Form der menschlichen Evolution, die wir als kulturelle beschrieben haben? Muss Magie wirklich auf eine »Urdummheit« (Theodor Preuss), auf ein Unvermögen, logisch zu denken (Lucien Levy-Bruhl), zurückgeführt werden? Finden wir nicht in der Magie einen ersten Ausdruck psychotherapeutischer Vorgänge in einem sehr weiten Sinn?

Wenn die psychotherapeutische Funktion der Magie den meisten Betrachtern bisher entgangen ist, wenn es nicht gelingen wollte, sie evolutionstheoretisch einzuordnen, dann hat das viele Gründe. Die lange Zeit herrschende Geringschätzung des geistigen Lebens der Primitiven, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zum Zeitpunkt der Zerstörung oder Veränderung fast aller primitiven Gesellschaften, überwunden wurde, mag dazu beigetragen haben. Dann schwang in der wissenschaftlichen Betrachtung der Magie noch bis in die jüngste Zeit (selbst bei Jensen, siehe Seite, noch nicht überwunden) jener Zorn der Aufklärung gegen den Aberglauben, gegen alles Unvernünftige, Unbegründbare mit. Wenn man sie erklären musste, tat man es negativ: als »falsche« Anwendung der Assoziationsgesetze, als primitive Vorstufe der Wissenschaft, als rohes, kümmerliches Sichabzappeln des menschlichen Geistes vor Problemen, die erst ein fortgeschrittenes Zeitalter in den Griff bekommen habe.

Wir haben gesehen, dass die menschliche Fähigkeit zur Einsicht, zur Vorwegnahme der Zukunft und zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit sich als wertvolles Hilfsmittel erwies, sobald es galt, sich an das Gruppenleben anzupassen, kulturelle Traditionen weiterzugeben, Beutetiere zu überlisten. Doch jeder biologische Fortschritt birgt auch ein Risiko. Der Mensch hat etwa seine ihm eigentümliche Fortbewegungsart, die ihm die werkzeugschaffenden Hände frei machte und seinen Kopf hoch über die Gräser der Savanne erhob, durch eine erhöhte Anfälligkeit für eine ganze Reihe von Krankheiten erkauft: Krampfadern der Beine etwa, da das Blut größere Höhenunterschiede überwinden muss als beim Vierfüßler, endlose Rückenprobleme durch die gesteigerte Belastung oder die große Verwundbarkeit der weiblichen Geschlechtsorgane durch Dehnungen der Bänder, welche die Gebärmutter festhalten.

Im psychischen Bereich gilt ein ähnliches Gesetz. Mit den Vorzügen seiner hohen Intelligenz und der Fähigkeit, sich Vergangenheit und Zukunft zu vergegenwärtigen, löste sich der Mensch auch von der Ruhe und Sicherheit des Tieres, das keine Neurose kennt und keine Magie (solange es nicht in das Laboratorium eines Psychologen gerät).[1] Nietzsche hat in seiner Studie Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben diesen Bruch des Menschen mit seiner Umwelt, diesen Beginn von Sorge und Angst beschrieben. Und wie die Klappen in seinen Venen dem Menschen dazu verhelfen, dass sich trotz des aufrechten Ganges das Blut nicht in den unteren Gliedmaßen staut, so war es die Magie, welche den vom aufflackernden Licht des Bewusstseins geworfenen Schatten durchdrang und ordnete. Sie trug auf diese Weise, unabhängig von ihrem Missbrauch in der übelwollenden Zauberkunst, viel zu jener geistigen Unabhängigkeit bei, auf die wir heute so stolz sind. Vielleicht wären die ersten Menschen, die ein reflektierendes Bewusstsein kennenlernten, von den Schattenseiten dieser revolutionären Mutation gelähmt worden, hätten sie nicht die Magie entdeckt. Ihr danken wir es vielleicht, dass unser Bewusstsein, kaum geboren, nicht wieder erlosch, weil es ein zu kühner Entwurf der Baumeister des Lebens war.

Jetzt sind auch die magischen Praktiken, die Sympathie- und Analogiezauber leichter zu verstehen, die wir beschrieben haben. Die Frau des Jägers, die sich wegen ihres Wissens um die Gefahr Sorgen um ihren Mann macht, erhält ein Leitseil, an das sie sich halten kann, bindende Vorschriften, welche ihr Ruhe geben. Wenn sie von ihr erfüllt werden, wird schon nichts passieren. Der Jäger selbst, der die scharfen Sinne und die List der Beutetiere fürchten gelernt hat, der anders als Löwe oder Schakal bewusst plant und sich über Misserfolge grämt, gewinnt in der Magie ein Mittel, seine psychischen Kräfte zusammenzuhalten, sich Selbstvertrauen zu verschaffen und mit jener Zuversicht auszuziehen, welche die Mutter des Erfolges ist. Nur konsequent ist es, wenn der moderne Jäger, dessen weitreichende Waffen ihm hohe Sicherheit geben, weniger Jagdzauber benötigt und sich getrost auf den Weg macht, obschon seine Frau in den Tag hineinschläft. Doch halt: Sehen wir ihn nicht vorsichtig einer schwarzen Katze aus dem Weg gehen?

Die den Einzelnen beruhigende, das Selbstvertrauen erhöhende und Nachteile der Reflexion ausgleichende Funktion der Magie wird durch ihre Bedeutung für die Gemeinschaft vielleicht noch übertroffen. Es ist den Konstrukteuren der Evolution sicher nicht leichtgefallen, ein Wesen wie den Menschen zu schaffen, das ein hohes Maß geistiger Freiheit und Selbstständigkeit aufweist und doch nicht Einzelgänger ist, sondern fest in Gruppen zusammenhält. Gerade unter den gruppenbindenden Faktoren spielt die Magie (ebenso wie Mythos und Religion) eine wichtige Rolle, da sie eine Reihe sozialer Vorschriften viel besser festlegen und begründen kann als andere Argumente, andrerseits aber auch der ganzen Gruppe Sorgen abnimmt, sie von Übeln erlöst und Emotionen reinigend (»kathartisch«) entäußern hilft. Wie der gesetzestreue Bürger heute nicht immer aus ethischer Überzeugung handelt, sondern aus Angst vor polizeilicher Verfolgung, so auch der Primitive, dessen Gruppe durch die fernwirkende Magie eine viel sicherere Strafe für Vergehen gegen die Gemeinschaft hat als selbst Interpol. Der Verbrecher mag ungestraft entrinnen, doch seine Verfolger werden einen Knochen auswählen, ihn sorgfältig bemalen, seine magische Kraft durch wiederholte Zaubersprüche steigern und ihn endlich dem Verbrecher nachwerfen. Damit nicht genug: Durch Rauchsignale wird dieses Urteil bekannt gegeben; erfährt es der Betroffene, so stirbt er in wenigen Tagen. Wir haben nun die psychische Funktion der Magie kennengelernt und werden bald sehen, dass es möglich ist, in vielen religiösen Riten ähnliche psychotherapeutische Aspekte festzustellen. Das führt uns aber zu einigen grundlegenden Fragen, vor allem zu der Frage, wo man in einer Geschichte der Seelenheilkunde die Grenzen ihres Gegenstandes ziehen soll. Der Begriff »Psychotherapie«[2] taucht zum ersten Mal im Jahr 1872 in Daniel Hack Tukes Werk Bemerkungen über den Einfluss des Geistes auf den Körper. Studien zur Klärung der Wirkung der Einbildungskraft auf, und zwar im 16. Kapitel (»Psychotherapeutics«). Tuke ging es damals vorwiegend um den sogenannten tierischen Magnetismus.

1889 definiert van Eeden jede Heilmethode als Psychotherapie, »wenn sie sich psychischer Mittel bedient, um die Krankheit durch Intervention psychischer Funktionen zu bekämpfen«, eine Definition, die man noch heute akzeptieren kann. Wir wollen hier grundsätzlich alle Maßnahmen untersuchen, die geeignet waren oder als geeignet galten, seelischen und psychosomatischen Leiden vorzubeugen oder sie zu bessern. Über die Seelenheilkunde im engeren Sinn hinaus behandeln wir also auch die Psychohygiene. Seelischer Gesunderhaltung diente zweifellos die Magie: Sie wirkte als Schiene oder fester Verband um jene Bruchstelle, welche den Beginn der Reflexion kennzeichnet. Vielen Menschen ist dieser feste Verband noch heute unentbehrlich; andere können auf ihn verzichten, teilweise oder ganz. Diese Frage nach den Grenzen der Psychotherapie wird allerdings dadurch kompliziert, dass die Religion eine Reihe magischer Funktionen übernehmen kann. Erst die Weltreligionen haben sich teilweise von magischen Elementen gereinigt, während die Religionen der Primitiven völlig von ihnen durchdrungen sind. Jedenfalls geht es nicht an, die Magie als »Anwendungsstadium« und ehrfurchtslose Manipulation von der echten Verehrung des Göttlichen zu trennen.

Literatur

Bitter, W. (Hrsg.), Magie und Wunder in der Heilkunde, Stuttgart 1959

Campbell, D. G., Human evolution, Chicago 1966

Duerr, H. P., Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt 1978

Frazer, J. G., The golden bough, London 1913

Heberer, G. (Hrsg.), Die Evolution der Organismen, Stuttgart 1967/70

Lee, R. B. und I. DeVore (Hrsg.), Man the hunter, Chicago 1968

Lévi-Strauss, C., Les structures élémentaires de la parente, Paris 1949

Ders., Traurige Tropen, Köln 1960

Lorenz, K., Über tierisches und menschliches Verhalten, München 1965

Narr, K. J., Urgeschichte der Kultur, Stuttgart 1961

Ploog, D., »Verhaltensforschung und Psychiatrie«, in: Psychiatrie der Gegenwart, Berlin 1965

Schmidbauer, W., »Schamanismus und Psychotherapie«, in: Psychologische Rundschau 20, 1969, S. 29

Washburn, Sh. L. (Hrsg.), Social life of early man, Chicago 1968

Wettley, A., »Ansatz zu einer Geschichte der Psychotherapie«, in: F. Krafft, K. Goldammer, A. Wettley, Alte Probleme – neue Ansätze, Wiesbaden 1965

Wickler, W., Sind wir Sünder? Naturgesetze der Ehe, München 1969

Anmerkungen

[1] Dort können sogenannte experimentelle Neurosen etwa dadurch erzeugt werden, dass man eine Ratte beim Durchschreiten einer Klappe mit dem Signal »Kreis« durch Futter belohnt, beim Signal »Oval« durch einen elektrischen Schlag bestraft. Das Tier lernt, das Oval zu meiden. Wenn der Versuchsleiter dieses Oval immer kreisähnlicher macht, erkranken die Ratten an verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten.

[2] Allerdings verwendet ihn schon im 9. Jahrhundert der arabische Arzt Rhazes im Rahmen einer Anekdote (vgl. ➝ Seite).