Eine Woche, eine ganze Woche lang würde Lillian bei ihrer Mutter bleiben. Das waren sieben Tage – aus der Sicht eines Unsterblichen eigentlich eine verschwindend geringe Zeitspanne. Doch wenn man kein Gefühl für das Werden und Vergehen der Zeit hatte, wenn man stets nur für den Augenblick lebte und genau in diesem Augenblick etwas schmerzhaft vermisste, das geradezu lebensnotwendig geworden war, dann war eine Woche eine verdammt lange Zeit.
So oder so ähnlich musste Alahrian sich jetzt fühlen, sinnierte Morgan vor sich hin, während er zugleich die aschgrauen Wolken betrachtete, die sich bedrohlich nahe über der Villa zusammenballten.
Dabei hatte sich der Kleine während dieses ersten Tages eigentlich ganz gut gehalten. Er lamentierte kaum, flutete nur einen winzigen Teil des Wohnzimmers und hatte nur ein kleines bisschen schlechte Laune.
***
Am Morgen des zweiten Tages regnete es allerdings überall im Umkreis – ein Wetterumschwung, der bereits lange zuvor in den Nachrichten angekündigt worden war. Man konnte ihn Alahrian also nicht zwangsläufig zur Last legen.
Den dritten Tag verbrachte der Liosalfar größtenteils im Freien, saß mit ozeanblau verdunkeltem Blick auf der Veranda und schien sich nicht an den eisig kalten Regentropfen zu stören, die ihn nach und nach bis auf die Haut durchnässten.
Das war gestern gewesen. Heute, am vierten Tag, hing Alahrian im Seidenpyjama am Frühstückstisch, den Kopf auf die über der Tischplatte verschränkten Arme gebettet, und starrte aus hypnotisierenden Augen das anthrazitfarbene Handy an, das Lilly ihm geschenkt hatte.
»Die Dinger funktionieren auch, wenn man sie nicht permanent beobachtet«, erklärte Morgan amüsiert. »Deshalb gibt es Klingeltöne, verstehst du?«
Doch Alahrian blickte nicht auf. »Ich möchte keinen Anruf verpassen.«
Der Döckalfar seufzte. »Sie hat erst vor drei Minuten angerufen.«
Alahrian blinzelte. »Na und?«
Zu Lillians Ehrenrettung musste man zugeben, dass sich das Handy während der vergangenen Tage ausgesprochen oft gerührt hatte. Im Durchschnitt etwa alle dreißig Minuten. Aber es gab eben auch Zeiten für Sterbliche, zu denen sie sich nicht regelmäßig melden konnten. Weil sie schliefen, zum Beispiel.
Alahrian hingegen hatte schon seit drei Tagen kein Auge mehr zugetan.
Dabei hatte er die Lautstärke des Handys auf höchste Stufe eingestellt. Das Klingeln wäre also selbst dann nicht zu überhören gewesen, wenn er hundert Meter entfernt direkt neben einer Kreissäge gestanden hätte.
Für Morgan übrigens gleichfalls nicht. Aus diesem Grund konnte er Lillys Anrufrate auch genauestens rekonstruieren – ebenso wie den Rhythmus, dem ihre Kurznachrichten folgten. Ein Umstand, der nicht gerade zu seiner persönlichen Erbauung beitrug. Dieses verdammte Mobiltelefon schrillte einfach durchs ganze Haus!
»Willst du nicht wenigstens zur Schule gehen?«, erkundigte sich Morgan hoffnungsvoll. Vielleicht würde das seinen Bruder ein wenig ablenken.
»Wir haben Ferien.« Die Antwort kam knapp und abgehackt. Alahrian blickte noch immer nicht auf.
»Ach, stimmt ja«, entgegnete der Döckalfar genervt. Aber vielleicht könntest du dich ja irgendwie beschäftigen? Tu irgendwas!«
Ohne jedes Interesse hob Alahrian den Kopf. »Und was?«
»Irgendwas! Etwas, das dir Spaß macht!«
Der Bruder ließ den Kopf wieder sinken. »Es macht mir Spaß, auf ihren nächsten Anruf zu warten.«
So wirkte es eigentlich nicht. Aber Morgan sah die Zwecklosigkeit seines Vorhabens ein und erhob sich rasch vom Tisch. Die unberührte Zuckerdose nahm er mit und ebenso die Karaffe mit Wildrosentau – Alahrians Lieblingssorte – , natürlich gleichfalls unberührt.
»Ich muss jetzt zur Bandprobe«, verkündete er resigniert. »Du kommst allein zurecht?«
»Hm …«
Kopfschüttelnd verließ Morgan das Haus.
***
Als er am Nachmittag zurückkam, hatte sich die Situation nur unwesentlich verändert. Gut, Alahrian hatte immerhin die Energie aufgebracht, sich anzuziehen, und er hing jetzt nicht mehr über dem Küchentisch, sondern lag auf dem Sofa in der Halle. Ansonsten aber schien sein Bruder noch immer derselbe: niedergeschlagen, kraftlos, zu Tode deprimiert.
Doch was war das? Sämtliche Kamine brannten, die Heizung lief auf Hochtouren und es herrschte eine brütende, erstickende Hitze im gesamten Haus.
Liosch!, rief Morgan direkt in Alahrians Gedanken hinein, streifte ächzend seine Jacke ab und war mit zwei Schritten in der Halle. Was um alles in der Welt -
Mitten im Gedankensatz hielt er inne. Trotz der subtropischen Temperaturen im Raum war Alahrian in einen dicken Wollpullover gehüllt und als wäre das noch nicht verrückt genug, hatte er sich auch noch unter einer Decke verkrochen.
»Alahrian!«, Morgans Stimme war scharf. »Was tust du denn da?«
Ein Paar merkwürdig verschleierter, ungesund glänzender Augen blickte blinzelnd zu ihm auf. »Nichts.« Seine Stimme war heiser. »Mir ist nur so kalt …«
»Kalt?!« Morgan stöhnte. Im Haus war es ungefähr so kalt wie in einem Hochofen! Aber Alahrian zitterte unter der Decke tatsächlich wie Espenlaub.
Beunruhigt ließ der Döckalfar sich neben seinem Bruder auf das Sofa sinken. »Hast du zu wenig Licht abbekommen?«, erkundigte er sich stirnrunzelnd.
»Nein.« Alahrian schniefte leise. »Vorhin hat ein bisschen die Sonne geschienen.«
Durchdringend musterte Morgan ihn. Er sah blass und elend aus. Unter den Augen lagen tiefe Ringe, die Lippen waren nahezu blutleer, das Gesicht kreideweiß, nur auf den Wangen zeigten sich hitzige, purpurne Schatten.
Morgan kam sich selbst albern vor dabei, doch er legte dem Liosalfar prüfend die Hand auf die Stirn. Heiß, wie stets. Schwer zu sagen, ob heißer als sonst. Es war auch gleichgültig. Er konnte kein Fieber haben; er war schließlich kein Mensch.
»Vielleicht zu viel Licht?«, schlug Morgan zweifelnd vor.
»Zu viel?« Alahrians glasige Augen weiteten sich. »Das geht doch gar nicht …« Er sprach im Tonfall eines trotzigen Kindes, das einen Erwachsenen belehrt; seine Stimme aber klang immer noch rau. Wie bei einem Sterblichen, der sich erkältet hat … Aber auch das war natürlich vollkommen lächerlich!
Alahrian verkroch sich indes noch tiefer unter seine Decke. Es schüttelte ihn sichtlich, Morgan konnte sogar seine Zähne aufeinanderschlagen hören.
»Was ist denn nur los mit dir?«, fragte er besorgt.
»Nichts.« Alahrian ließ die Lider sinken. »Mir ist nur kalt. Und ich bin etwas müde …«
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du bist krank.«
»Blödsinn!« Prompt bekam Alahrian einen Hustenanfall, der Morgan vor Schreck zusammenfahren ließ.
Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten?!
Hastig suchte er nach dem anthrazitfarbenen Handy, fand es wie erwartet keine dreißig Zentimeter entfernt und griff danach.
»Was machst du?«, keuchte Alahrian, um Atem ringend.
»Ich rufe Lilly an! Mit dir stimmt irgendetwas nicht. Etwas Merkwürdiges … etwas Sterbliches geht hier vor.«
»Nein!« Alahrians heisere Stimme überschlug sich beinahe. »Nein, lass das! Ruf sie nicht an!«
Morgan zog die Stirn in Falten. »Wieso nicht?«, fragte er verwundert.
»Weil … weil …« Er suchte nach Worten, wurde rot und starrte zu Boden. Dann nuschelte er fast unverständlich: »Weil … weil sie dann denken würde, ich schaffe es nicht einmal drei Tage lang ohne sie.«
Morgan blinzelte verblüfft. »Aber das ist ja auch so«, bemerkte er trocken.
»Ja, aber -« Wieder schüttelte ihn ein hässlicher Hustenanfall, ehe er weiterreden konnte. »Sie soll das nicht wissen. Dann würde sie sich total eingeschränkt fühlen. Als wolle ich sie einsperren. Frauen brauchen auch … Freiraum … Zeit für sich … und so.« Seine Hand vollführte eine unbestimmte Bewegung in der Luft, bevor sie wieder unter der Decke verschwand.
Amüsiert zog Morgan die Brauen hoch. »Aus welchem schlechten Beziehungsratgeber hast du das denn?«
Alahrian machte ein beleidigtes Gesicht, wühlte unter der Sofapolsterung und zog triumphierend ein zerlesenes, schreiend bunt bedrucktes Taschenbuch hervor. »Na, aus diesem hier …«
Entgeistert griff Morgan nach dem Buch. »Das große Einmaleins der Paar-Beziehung«, las er laut vor. »Vom ersten Date zum Heiratsantrag. 101 Wege für ein glückliches Leben zu zweit.« Er seufzte tief. »Liosch, ich glaube diese Dinge gelten nicht für euch beide«, erklärte er behutsam.
Sein Bruder blinzelte gekränkt. »Wieso denn nicht?«
Da gab es Morgan auf.
Alahrian sank noch tiefer in das Sofa hinein und zitterte nach wie vor erbärmlich.
Blitzschnell machte der Döckalfar einen erneuten Versuch, nach dem Handy zu greifen.
»Nicht«, murmelte sein Alahrian schwach. »Es geht mir gut … ehrlich …« Zum Beweis wühlte er sich aus der Decke hervor und stand auf. »Siehst du?« Ohne es selbst zu merken, presste er die Hand gegen die Stirn, sein Gesicht verlor deutlich an Farbe. »Alles … in … Ordn…«
Morgan fing ihn auf, als er zusammenbrach.
»Großer Gott! Was hast du nur?« Voller Angst hob er den Liosalfar auf und trug ihn in sein Schlafzimmer.
Alahrian schlug die Augen auf, als Morgan ihn aufs Bett legte, doch sein Blick war verschleiert und ein heftiges, krampfhaftes Zittern durchlief seinen Körper.
»Kalt …«, flüsterte er, nur halb bei Bewusstsein. »Morgan … ich glaube, ich erfriere …«
Der Döckalfar berührte seine Stirn. »Nein, Kleiner«, flüsterte er entsetzt. »Ganz im Gegenteil: Ich glaube, du glühst vor Fieber!«
Er schloss die Augen, tastete in Gedanken nach Alahrians Lebensfaden und betrachtete ihn, ohne ihn zu berühren. Er fand goldenes, mild pulsierendes Licht, hell und strahlend, aber da war auch Dunkelheit. Eine beunruhigende Dunkelheit.
Morgan zog die Hand zurück. Vorsichtig breitete er eine Decke über dem bebenden Körper seines Bruders aus und zog sämtliche Vorhänge im Zimmer zurück – selbst die, die nur aus feinstem, lichtdurchlässigem Seidengespinst bestanden. Ganz automatisch nahm er an, die Helligkeit würde dem anderen gut tun, aber sicher war er nicht. In über dreihundertfünfzig Jahren hatte er Alahrian nie so erlebt. Er hatte schlicht und ergreifend nicht die geringste Ahnung, was zu tun war.
Mit schnellen Schritten, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinunter zurück in die Halle und schnappte sich endlich das anthrazitfarbene Mobiltelefon.
»Alahrian?« Sie war schon beim zweiten Klingeln dran und ihre Stimme schwang so voll freudiger Erregung, dass es ihm leidtat, sie zu enttäuschen.
»Nein, hier ist Morgan«, entgegnete er schnell.
»Morgan?! Was ist passiert?« Jetzt klang sie beunruhigt, doch der nächste Teil ihres Satzes ging in einem dumpfen Rauschen unter, das nicht von der Qualität der Verbindung herstammte.
»Wo bist du?«, fragte Morgan, ohne eine Antwort zu geben.
»Im Zug«, erklärte Lilly ungeduldig. »Ich … ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten … ohne ihn.«
Er konnte direkt spüren, wie sie errötete, und trotz seiner Sorge musste er beinahe lächeln. Sie war also keineswegs besser als sein Bruder. Das war gut, sehr gut sogar. Sie war bereits auf dem Weg. In ein paar Stunden konnte sie da sein.
»Warum rufst du an?«, fragte sie drängend, in seine Gedanken hinein.
Morgan biss sich auf die Lippen. »Erkläre ich dir später«, meinte er knapp. »Komm einfach her. Und Lilly?«
»Ja?«
»Beeil dich. Bitte.«
Niemals zuvor war ein Schnellzug derart langsam über die Gleise geschlichen, niemals zuvor hatte eine einzige Minute die Dauer von Stunden angenommen, niemals zuvor hatte sich ein Taxi vom Bahnhof in Zeitlupe seinen Weg durch das Dorf gebahnt.
Lilly wusste nicht, wie sie das endlos lange Warten ausgehalten hatte. Ein Teil von ihr wollte einfach nach draußen springen, wollte rennen, rasen, fliegen, nur um schneller bei ihm zu sein. Ein anderer Teil schien fast übernatürlich ruhig zu sein – eben jene absurde Ruhe, die einen überfiel, wenn man nicht fürchten musste, dass etwas Schlimmes passiert war. Nein, man wusste es bereits!
Nur hatte sie keinerlei Ahnung, was es war. Ihre angstvollen, panischen Anrufversuche waren unbeantwortet geblieben. Was nur eines hieß: Morgan konnte oder wollte nicht ein zweites Mal ans Telefon gehen. Und Alahrian war offensichtlich nicht in der Lage dazu. Er hätte niemals freiwillig einen ihrer Anrufe verpasst.
Etwas war geschehen. Etwas Schlimmes. Mit ihm.
Sie wollte weinen, während sie vor der Tür der Villa stand und darauf wartete, eingelassen zu werden, aber sie tat es nicht. Auch nicht, als sie in Morgans blasses, von tiefer Sorge gezeichnetes Gesicht blickte.
»Was ist passiert?«, fragte sie und wandte all ihre Kraft auf, damit ihre Stimme nicht zitterte. »Wo ist er?«
Anstatt zu sprechen führte er sie ins Haus und gleich weiter nach oben, in Alahrians Schlafzimmer.
Da lag er. Sein Gesicht war aschfahl, nie zuvor hatte sie ihn so gesehen, selbst damals nicht, als der Fenririm ihn so grässlich verwundet hatte. Die Augen waren geschlossen, Schatten prangten darunter, die Lippen waren blutleer und aufgesprungen, Schweiß glänzte auf der bleichen Stirn.
Mit einem Satz war Lilly bei ihm, sank neben dem Bett auf die Knie und griff nach seiner weißen Hand. Sie war es gewöhnt, Hitze unter seiner Haut zu spüren; diesmal jedoch erschrak sie, als sie ihn berührte. Er glühte. Selbst für seine Verhältnisse.
»Mein Gott«, flüsterte sie tonlos. »Seit wann ist er schon so?«
Leise war Morgan neben sie getreten. »Ich weiß es nicht genau … Seit ein paar Stunden, ungefähr …«
»Was hat er?« Angstvoll hielt sie eine viel zu heiße, kraftlose Hand.
»Ich weiß es nicht … Ich hatte gehofft, du würdest -«
Lilly hörte es kaum. »Ist er … krank?«, fragte sie fassungslos. »Ich dachte, ich … ich dachte, ihr könnt nicht krank werden … ich dachte …« Sie redete nur, um zu reden, nur um diese schreckliche Furcht loszuwerden, nur um nicht in das erschreckend reglose Antlitz auf dem weißen Kissen blicken zu müssen.
»Ja, das dachte ich auch.« Morgan zuckte mit den Schultern. »In Hunderten von Jahren ist es nie vorgekommen. Aber wir … nun ja, wissen tun wir es nicht.«
»Was soll das heißen?«
»Wir haben Pestepidemien überstanden, Cholera, Typhus. Er hat in Lazaretten gearbeitet unter den schlimmsten hygienischen Bedingungen, er hat Todkranke geheilt und Sterbende gerettet. Angesteckt hat er sich nie. Daher dachten wir … wir dachten, es sei unmöglich.«
Entsetzt starrte sie ihn an. »Du … du denkst, er hat sich mit irgendetwas infiziert? Mit etwas, das schlimmer ist als die Pest?«
Morgan zog eine Grimasse. »Nun ja, zuerst glaubte ich, er wäre einfach nur unglücklich, weil du weg warst und -«
»Dann ist es meine Schuld?« Der Rest von Lillians Selbstbeherrschung brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus. »Er ist so, weil … weil ich ihn alleingelassen habe?« Ihre Stimme klang schrill, Tränen würgten sie in der Kehle und brachen unter den Augenlidern hervor.
»Lilly …« Das Wort kam geflüstert, schwach, in der Luft erzitternd und er öffnete erst dann die Augen.
»Alahrian …« Sie schluckte die Tränen hinunter.
»Was für ein schöner Traum …« Sein Blick war dunkel, trüb, es lag kein Bewusstsein darin. »Aber du weinst ja … Warum weinst du?«
»Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.« Hastig wischte sie sich über die Augen. »Wie fühlst du dich?«
Er antwortete nicht, aber ein Lächeln glitt über sein blasses Gesicht. Seine Lippen waren so ausgetrocknet, dass sie zu bluten begannen.
Zärtlich strich sie ihm über die Stirn, seine Lider flatterten; er hatte nicht die Kraft, sie offen zu halten, aber er zwang sich dazu. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich wollte nicht, dass es dir so schlecht geht. Wenn ich das gewusst hätte, dann wäre ich nie weggefahren, dann -«
»Es ist alles in Ordnung«, unterbrach er sie und für einen Moment riss der Schleier über seinen Augen. »Es geht mir gut.«
»Du glühst vor Fieber!«
»Es ist vorüber … Du bist ja da …« Er seufzte leise, die schweren Lider fielen herab. »Was für ein schöner Traum«, murmelte er erneut, halb im Schlaf. Ein Schauder schüttelte ihn; er warf den Kopf zur Seite, die Augen noch immer geschlossen. »Die Kälte … das Feuer … nicht …« Seine Worte verloren sich, wurden unverständlich.
»Er redet Unsinn«, konstatierte Morgan trocken. Angestrengt runzelte er die Stirn, als lauschte er, während Lilly nur noch eigenartige Laute verstand. »Und zwar in drei verschiedenen Sprachen.«
Verzweifelt biss sich Lilly auf die Lippen. »Er fantasiert. Er hat Fieber.«
Sie nahm wieder Alahrians Hand und er hörte auf zu reden; seine hektischen Atemzüge beruhigten sich, er schlief ein.
»Wir müssen einen Arzt rufen«, sagte Lilly leise.
»Nein.« Morgan sprach nicht einmal besonders laut, doch sehr bestimmt. »Das kommt nicht in Frage!«
»Aber er ist krank! Was sollen wir denn tun?«
Morgan schüttelte den Kopf, sein Blick war hart. »Was sollte ein Arzt tun? Ein menschlicher Arzt?«
»Keine Ahnung …« Lilly klammerte sich an diesen Gedanken, einfach nur, um nicht so hilflos zu sein. »Irgendetwas eben …«
Morgan legte ihr die Hand auf die Schulter. »Lillian, er hat eine Körpertemperatur von 43 Grad, schon in seinem normalen Zustand. Wenn du jetzt einen Arzt holst, wird dieser auf den ersten Blick begreifen, dass Alahrian kein Mensch sein kann.«
»Wäre das so schlimm?« Lilly funkelte ihn an. »Ich könnte meinen Vater fragen. Der würde sicher nichts verraten.«
»Nein!« Morgans Stimme klang noch immer fest entschlossen. »Seine allergrößte Angst ist, einem Sterblichen sein Geheimnis zu offenbaren. Du kannst ihm das nicht antun. Er kann keinem Menschen vertrauen, niemals.«
Lilly fing seinen dunklen Blick auf. »Mir hat er auch vertraut«, entgegnete sie ruhig.
»Eben.« Morgan seufzte leise. »Du darfst dieses Vertrauen auf keinen Fall erschüttern. Ein Arzt kann ohnehin nichts tun.«
»Okay.« Lilly wandte sich von ihm ab und blickte wieder Alahrian an. Er schlief jetzt ganz still, doch das üblicherweise goldhell leuchtende Haar hing stumpf herab, feucht und schweißverklebt, das Gesicht leichenblass.
»Es wird gewiss vorübergehen«, meinte Morgan behutsam. »Er neigte schon immer zu melodramatischen Gefühlsäußerungen.« Er verzog ein bisschen das Gesicht. »Du warst weg, ihm wurde klar, dass er ohne dich nicht leben kann, jetzt bist du wieder da – und es ist bestimmt alles wieder in Ordnung.«
»Alles in Ordnung?« Lilly schrie fast. »Das nennst du ›Alles in Ordnung‹?!« Sie deutete auf die Rosen im Raum, Alahrians wunderschöne, schneeweiße Rosen. Fast alle ließen die Köpfe hängen; eine war bereits völlig verdorrt. Der Anblick ließ Lilly erneut die Tränen in die Augen schießen.
»Vielleicht … müssen wir noch ein bisschen warten?«, fragte Morgan zögerlich. Er hatte viel von seiner üblichen Coolness verloren. Auch er machte sich Sorgen, selbst wenn er es nicht zeigen wollte.
Lilly antwortete nicht, hielt sich stattdessen an der Hoffnung fest, Morgan könnte Recht haben. Vielleicht würde es Alahrian ja wirklich gleich wieder besser gehen. Vielleicht musste er sich nur ein bisschen ausruhen. Als er verletzt gewesen war, da hatte er sich auch übernatürlich schnell wieder erholt. Bestimmt würde es besser werden … gleich, ganz bald …
***
Aber es wurde nicht besser. Alahrians Atem ging schnell und unregelmäßig, der Puls pochte hektisch unter der blassen Haut. Unruhig zerwühlte er seine Decke, flüsterte wirre Sätze und starrte manchmal minutenlang ins Leere, ohne dabei wirklich zu erwachen.
»Ihr habt nicht zufällig ein Fieberthermometer im Haus?«, fragte Lilly, während sie Alahrians Hand festhielt und sich das Gehirn zermarterte, wie sie ihm helfen konnte. Es machte sie fast wahnsinnig, nicht zu wissen, was ihm fehlte. Seine Temperatur zu messen, mochte vollkommen sinnlos sein, aber es war eine Information, etwas, das man beziffern konnte … Alles war besser, als gar nichts zu wissen …
»Ich könnte eins besorgen«, entgegnete Morgan und war zur Tür hinaus, ehe Lilly aufblicken konnte.
Auch der Döckalfar machte sich also Sorgen. Und das war ein sehr, sehr schlechtes Zeichen …
»Wenn du wenigstens bei Bewusstsein wärst«, flüsterte Lilly und strich Alahrian behutsam eine wirre Strähne seines nur noch milchig glänzenden Haares beiseite. Aus reiner Hilflosigkeit stand sie auf, holte eine Schale mit kaltem Wasser und ein paar saubere Tücher aus dem Bad und begann, seine glühend heiße Stirn zu kühlen. Das hatte jedoch kaum einen Effekt. Da versuchte es Lilly weiter mit Wadenwickeln – eine Prozedur, die sie aus ihrer Kindheit noch gut in Erinnerung hatte. Doch bei Alahrian konnten sie – natürlich – auch nichts ausrichten. Nur einmal schlug er kurz die Augen auf, blinzelte sie an und flüsterte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand, doch sie war nicht sicher, ob er seine Umgebung überhaupt noch wahrnahm.
Das war der Moment, als Morgan zurückkam. Er hatte sich wirklich beeilt. Kaum ein paar Minuten war er weggewesen.
Ein Fieberthermometer hatte noch niemanden geheilt; trotzdem riss Lilly es im Anflug einer absurden Hoffnung aus der Verpackung, studierte schnell die Gebrauchsanweisung und schob es dann sehr behutsam zwischen Alahrians rissige Lippen. Das Gerät gab ein protestierendes Piepsen von sich, als es die 43-Grad-Marke erreichte. Morgan hatte mitgedacht und eines dieser modernen, elektronischen Dinger gekauft, keines aus Quecksilber, das vermutlich einfach geplatzt wäre.
Bei 48 Grad stand die Anzeige still. Lilly wusste nicht, ob das Thermometer nun endgültig genug hatte oder ob dies Alahrians echte Körpertemperatur war. Ein flüchtiges Rechenspiel jedoch ließ das Ergebnis in jedem Fall besorgniserregend werden. Fünf Grad mehr als normal. Bei einem Menschen wären das 42 Grad Fieber gewesen.
»Und?«, erkundigte sich Morgan mit hochgezogenen Brauen und schlich in einer ungewohnt fahrigen Bewegung näher ans Bett heran.
Wortlos reichte ihm Lilly das Thermometer.
»Was bedeutet das?«
»Keine Ahnung. Für einen Menschen wäre das lebensbedrohlich.«
»Er ist aber kein Mensch!« Beinahe wütend legte Morgan das Thermometer beiseite, als wäre nur das Gerät allein schuld an allem.
Lilly seufzte leise. Die Idee mit dem Thermometer war Blödsinn gewesen, sie hatte es selbst gewusst, von Anfang an, aber zumindest hatte sie minutenlang irgendetwas tun können.
»Was macht man bei einem Menschen, wenn er so hohes Fieber hat?«, erkundigte sich Morgan in ihre Gedanken hinein.
Missmutig zuckte Lilly mit den Schultern. Seit wann hatte sie Medizin studiert? »Man gibt Medikamente«, entgegnete sie schließlich.
»Das kommt nicht in Frage. Er kann keine sterbliche Nahrung zu sich nehmen, selbst wenn es nur Pillen sind.«
»Weil er dann nicht mehr zurück in seine Welt kann, ich weiß«, fügte Lilly hinzu und sah ratlos zu Morgan auf. »Aber wäre das denn nicht immer noch besser, als wenn er stirbt?« Angst durchflutete sie; das letzte Wort hatte einen grässlichen, erstickend bitteren Beigeschmack.
»Er kann nicht sterben«, erwiderte Morgan ruhig und aus tiefster Überzeugung. »Aber wir wissen ohnehin nicht, wie eure Medikamente auf ihn wirken. Es könnte auch alles noch schlimmer machen.«
Es könnte … vielleicht … – Sie wussten nichts, gar nichts! Lilly starrte auf Alahrians blasses Gesicht hinab und hätte schreien können vor lauter Verzweiflung. Es gab nur eines, was sie davon abhielt, vollends die Nerven zu verlieren, nämlich dass Durchdrehen das Letzte war, was Alahrian hätte weiterhelfen können. Sie musste ruhig bleiben. Sie musste sich irgendetwas einfallen lassen.
»Gibt es noch andere Methoden?«, fragte Morgan prompt. »Außer Medikamenten?«
Angespannt malträtierte Lilly ihre Lippen. Sie hatte keine Ahnung von menschlicher Medizin, geschweige denn von elfischer … »Kälte«, murmelte sie zaghaft. »Man kann den Körper von außen kühlen.« Sie starrte die Tücher in der Wasserschüssel an, die sich auf Alahrians Haut allzu schnell erwärmt hatten. »Aber das habe ich schon versucht.«
Morgan nickte unmerklich und begann im Zimmer umherzutigern.
Alahrian indes warf den Kopf auf dem Kissen hin und her, seine Lider zitterten, ohne sich zu öffnen, die Lippen bewegten sich, ohne einen Laut entweichen zu lassen.
»Schsch …«, machte Lilly beruhigend, hielt seine Hand und strich ihm über die Stirn.
»Die Flammen … Der Graue …«, flüsterte er und riss plötzlich die Augen auf. Seine Pupillen waren geweitet; es lag kein Erkennen in seinem Blick. »Lilly?« Jetzt wurde seine Stimme panisch. »Lillian … nein … Lilly!!!«
»Ruhig …« Sie drückte seine Hand und seine Finger schlossen sich so fest um ihre, dass es wehtat. »Ich bin ja hier …«
Er beruhigte sich aber nicht, in seinen Augen flackerte es. Sie waren mit Dunkelheit gefüllt, mehr schwarz als blau, und unter seiner Haut begann ein merkwürdig rötliches Licht zu glühen.
»Lillian?« Morgans Stimme klang nun beinahe so verängstigt wir Alahrians.
»Ja?« Sie sah nicht auf.
»Woran genau stirbt ein Mensch, wenn er einem Fieber erliegt?«
Voller Furcht starrte Lilly die Flammen an, die unter Alahrians Haut zu züngeln schienen. Er hatte die Augen inzwischen wieder geschlossen. Und dann zog sich das Leuchten langsam, ganz langsam zurück; doch Lilly war sicher, es sich nicht eingebildet zu haben.
»Ich weiß nicht«, meinte sie angstvoll. »Ich nehme an, wenn die Zellen überhitzt werden, dann sterben sie ab, das Gehirn funktioniert nicht mehr richtig und -«
»Das Gehirn?!!!« Morgan wurde blass. »Du … du meinst, er … er könnte wahnsinnig werden?«
»Ich habe keine Ahnung!« Lilly wollte ihn anschreien, brachte aber nur ein entgeistertes Keuchen hervor. Morgan jedoch blickte so entsetzt drein, dass sie sich bemüßigt fühlte, ihn irgendwie zu beruhigen. »Wir wissen nicht, was passiert«, meinte sie schwach. »Wir -«
»Du verstehst nicht«, unterbrach er sie, nur noch mühsam beherrscht. »Er hat gewisse … Kräfte, wie du weißt. Wenn er diese Kräfte nicht mehr kontrollieren kann, dann … dann …« Er suchte nach Worten, riss sich sichtlich zusammen und sagte dann: »Er ist wie eine außer Rand und Band geratene Atombombe. Er könnte das ganze Dorf in die Luft sprengen, natürlich ohne es zu wollen.«
»Was?!« Ungläubig starrte Lilly ihn an. Sie hatte gewusst, dass Alahrian Macht besaß. Doch wie groß diese wirklich war, ahnte sie noch nicht einmal. Einen Moment lang erfasste sie eine ganz neue Angst. Sie dachte an ihren Vater, an Lena, an Anna-Maria. Aber sie ließ Alahrians Hand nicht los. Keine Sekunde lang fürchtete sie sich vor ihm; nur um ihn fürchtete sie, mehr denn je.
»So etwas wird nicht passieren«, entgegnete sie überzeugt.
Ihr Blick schweifte zurück zu Alahrian. Das unheimliche Glühen schien nicht wiederzukommen. Er lag jetzt ganz still. Zwar atmete er flach und schnell, aber er bewegte sich nicht.
Morgan berührte flüchtig seine Hand, schloss die Augen und zog die Finger dann hastig zurück, als hätte er etwas gesehen, das ihn erschreckte. »Er wird schwächer«, sagte er leise. »Ich kann es fühlen.«
»Mein Gott …« Zum wiederholten Mal an diesem Nachmittag spürte Lilly Tränen in sich aufsteigen. Er war doch unsterblich, nicht wahr? Ihm konnte gar nichts passieren, es war unmöglich … Ihm konnte nichts passieren, denn ihm durfte nichts passieren …
»Alahrian.« Sanft flüsterte sie seinen Namen, immer und immer wieder, wie eine Zauberformel; rief ihn, als könnte sie ihn damit erwecken, zurückholen aus den flammenden Schatten, in denen er sich befand. Doch seine Augen blieben geschlossen und sie bekam keine Antwort.
Alahrian träumte. Das Holz des Scheiterhaufens war mit Öl getränkt; gierig leckten die Flammen es auf, dann züngelten sie zu ihm hinauf, streckten ihre Hände nach ihm aus, erfassten ihn, umarmten ihn, hüllten ihn ein. Schmerz durchzuckte seinen ganzen Körper, die Hitze nahm ihm den Atem, Flammen durchströmten seine Lungen, versengten seine Haut, zuckten in seinen Adern.
»Alahrian!«
Eine Stimme rief seinen Namen, eine Stimme süß wie das Singen des Windes zwischen gläsernen Blütenblättern. Ihre Stimme. Sie war auf der anderen Seite der Flammen. Er musste nur hindurchgehen, um bei ihr zu sein; und so kämpfte er sich durch die Hitze, rannte durch die Glut, sah ihren Schatten im orangeroten Feuerschein tanzen und lief atemlos darauf zu.
»Lillian! Wo bist du?«
Die Flammen erstarben, aber er konnte sie hinter der Flammenwand nicht sehen. Nur Dunkelheit war da und schwarze Schwingen, die – trügerisch sanft mit mild kühlendem Windhauch die Finsternis durchtrennten.
»Alahrian …«, wisperte eine andere Stimme direkt in seinem Kopf, zuerst freundlich und schmeichelnd, dann wild kreischend; ein Chor drängender, wütender Kehlen. »Komm! Komm zu uns …« Es waren die Erloschenen, die da riefen. Sie holten ihn zu sich und er konnte fühlen, wie das Licht unter seiner brennenden Haut erstarb, wie sich die Dunkelheit in seinem Herzen ausbreitete.
»Hab keine Angst«, wisperte das Wesen in der Finsternis. »Es wird bald vorbei sein … Hab keine Angst!« Die schwarzen Schwingen berührten seine Wange; überraschend zart waren sie, beinahe liebkosend. Er sehnte sich nach ihrer Umarmung, wollte nichts mehr fühlen als die kühle, sanfte Dunkelheit.
»Alahrian!« Lillys Stimme klang nur noch schwach und fern. Er versuchte, auf sie zuzueilen, wollte sich von den Schatten lösen, einem letzten verzweifelten Aufbäumen gleich, doch sie hielten ihn fest. Und so sehr er auch zerrte, er konnte ihre Fesseln nicht abstreifen, konnte sich nicht bewegen, kam einfach nicht voran.
»Alahrian … Komm zurück … Bitte …«
Aber er war so müde, viel zu müde. Er wollte nur die Augen schließen und schlafen. Und dann fiel er, fiel immer tiefer in die Dunkelheit hinab.
Die schwarzen Schwingen streiften ihn, aber sie hielten ihn nicht. Immer tiefer und tiefer sank er und plötzlich spürte er, wie helle, lichte Augen ihn in der Finsternis anstarrten, Augen in allen Farben des Regenbogens. Wieder peitschten gigantische Schwingen die Luft; einen Moment lang glaubte er, etwas Weißes, Leuchtendes im Strudel der Schatten aufblitzen zu sehen, doch dann war wieder nur Dunkelheit. Und auch diese Schwingen waren schwarz, schwarz und nur noch schwarz …
***
»Kälte hast du gesagt?«, meinte Morgan leise in ein bereits länger andauerndes Schweigen hinein.