Ort der Stille
PETER DAVID
Based on
Star Trek
created by Gene Roddenberry
Ins Deutsche übertragen von
Bernhard Kempen
Die deutsche Ausgabe von STAR TREK – NEW FRONTIER: ORT DER STILLE wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Übersetzung: Bernhard Kempen; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust und Gisela Schell; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Martin Frei; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Morvia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice. Printed in the Czech Republic.
Titel der Originalausgabe: STAR TREK – NEW FRONTIER: THE QUIET PLACE
German translation copyright © 2012 by Amigo Grafik GbR.
Original English language edition copyright © 1999 by CBS Studios Inc. All rights reserved.
™, ® & © 2012 CBS Studios Inc. STAR TREK and related marks are trademarks of CBS Studios Inc. All rights reserved.
This book is published by arrangement with Pocket Books, a Division of Simon & Schuster, Inc., pursuant to an exclusive license from CBS Studios Inc.
Print ISBN 978-3-942649-05-6 (November 2012) · E-Book ISBN 978-3-942649-08-7 (November 2012)
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Der Hauptteil des Romans spielt etwa zu Beginn des Jahres 2376 – wenige Monate nach dem Ende des Dominion-Krieges.
Seit dem letzten Abenteuer (STAR TREK – THE NEXT GENERATION „Doppelhelix 5 – Doppelt oder nichts“) sind ca. 2 Monate vergangen. Zuvor übersprang die Besatzung der Excalibur nach dem vorherigen NEW FRONTIER-Band („The Captain’s Table: Gebranntes Kind“) ungefähr 16 Monate durch eine Zeitreise.
»Ich habe wieder geträumt, Mutter.«
In dem einfachen und schlicht eingerichteten Haus, das sie mit ihrer Tochter bewohnte, hatte Malia das Essgeschirr vom Tisch geräumt. Nun stand sie über der Spüle und wollte die Reste des Abendessens beseitigen. Ihre Tochter Riella wischte langsam mit einem Lappen über den Tisch. Dabei wirkte sie tief in ihre Gedanken versunken, und Malia wusste, dass es besser war, ihre Tochter in diesem Zustand nicht anzusprechen. Die Launen des Mädchens waren unberechenbar. Häufig schien ihr Geist an einem ganz anderen Ort zu weilen, vielleicht sogar in einer ganz anderen Zeit. Malia verzweifelte daran, ihrer Tochter nicht helfen zu können. Sie versuchte sich einzureden, dass auch das vorbeigehen würde. Aber sie hegte den traurigen Verdacht, dass sie sich in Wirklichkeit nur etwas vormachte.
Es waren diese Träume, die Malia mehr als alles andere fürchtete. Es war schon eine ganze Weile her, seit Riella zuletzt über sie gesprochen hatte, und Malia hatte schon gehofft, dass Riella von ihnen befreit wäre. Aber sie wusste auch, dass Riella vielleicht nur aufgehört hatte, ihr von den Träumen zu erzählen, weil sie wusste, wie sehr sie ihre Mutter beunruhigten. All das verstärkte letztlich Malias Gefühl der allgemeinen Hilflosigkeit. Die Vorstellung, ihre Tochter könnte sich einmal so verhalten, dass sie ihrer Mutter keinen Kummer bereitete … nein, das wäre zu schön, um wahr zu sein.
Malia tadelte sich innerlich selbst. Da machte sie sich Sorgen wegen ihrer möglichen Unzulänglichkeit, während ihre einzige Sorge Riella gelten sollte. Riella war eine zarte Schönheit, wie eine kunstvoll gearbeitete Puppe, die so zerbrechlich wirkte, dass sie bereits an einem harten Wort zu zerbrechen drohte. Sie war gerade so alt, dass sie noch von den letzten flüchtigen Erinnerungen an ihre kindliche Unschuld umweht wurde, während die Figur und die Bewegungen der Frau, zu der sie erst vor Kurzem geworden war, noch frisch und ursprünglich wirkten. Sie trug ihre Weiblichkeit wie ein Frühlingskleid, das noch ganz neu war.
Riella hatte den Tisch sauber gewischt, ohne ein weiteres Wort zu sagen. Offensichtlich wartete sie darauf, dass ihre Mutter das Schweigen brach. Malia spielte mit und fragte nach: »Die Träume? Bist du dir sicher?«
»Ich denke, ich weiß sehr gut, was ich träume, Mutter.« In ihrer Stimme lag weder Ungeduld noch Verärgerung. Es war, als hätte sie sich einfach mit der Situation abgefunden, die sie zwar quälte, gegen die sie aber nichts unternehmen konnte.
»Das wollte ich damit natürlich nicht andeuten, mein Kind. Es ist nur so, dass … nun ja …«
Malia sprach nicht weiter, weil sie das Gefühl hatte, dass Riella ihr ohnehin nicht mehr zuhörte. Riella glitt mit unglaublich anmutigen Schritten durch den Raum, als würde sie schweben und nicht wie eine Normalsterbliche gehen. Sie blieb am Fenster stehen und blickte zum fernen Horizont. Zu dieser Jahreszeit ging die Sonne von Montos früh unter, und obwohl sie noch am Himmel stand, waren die Zwillingsmonde bereits gut am langsam dunkler werdenden Firmament zu erkennen.
»Ich gehe nach draußen, Mutter.«
Diese Ankündigung überraschte Malia. »Nach draußen?«
»Ja. Nach draußen.«
»Bist du dir sicher?«
Diesmal drehte sich Riella halb zu ihr um. Ihre dünnen Lippen hatten sich zu einem leichten Lächeln verzogen. »Ständig fragst du mich, ob ich mir sicher bin, Mutter. Du scheinst mir heute Abend nicht übermäßig zu vertrauen.«
Malias gewöhnlich blasse Wangen erröteten, und die Fühler auf ihrer Stirn zuckten leicht, ein Zeichen ihrer Aufregung. »Das hat nichts mit Vertrauen zu tun, Riella. Es ist einfach nur … nun, ich vertraue dir ja, aber …«
»Aber dem Rest von Montos kannst du nicht vertrauen. Ist es das?« Sie schüttelte den Kopf. »Mutter, das klingt nicht nach einem besonders reizvollen Leben, das du für mich geschaffen hast. Montos ist meine Heimat! Warum sollte ich Angst haben, durch die Straßen meiner Heimat zu gehen?«
»Du solltest keine Angst haben. Das ist meine Aufgabe«, erwiderte Malia bedauernd. Dann wurde sie wieder ernst.
»Mutter … ich gehe fast nie nach draußen. Allmählich fühle ich mich in diesen vier Wänden eingesperrt. Bin ich eine Gefangene, Mutter?«
»Nein. Ganz und gar nicht! Natürlich nicht! Ich würde dir niemals verbieten …« Ihre Hände flatterten ziellos in der Luft, dann sagte sie einfach: »Nein. Aber ich will nicht, dass du dich aufregst.«
»Ich bin bereit, dieses Risiko einzugehen. Es kann nicht schlimmer sein als meine Träume.«
»Dann gehe ich mit dir nach draußen.«
»Ich würde lieber allein gehen.«
»Riella, ich …«
»Ich würde lieber … allein … gehen«, wiederholte sie mit einer überraschenden Entschlossenheit in der Stimme. Trotz der Unruhe, die die Träume ihr bereiteten, schien sie immer noch über eine geheime Kraftquelle zu verfügen, die sie bei Bedarf anzapfen konnte. Dann fiel sie in den gewohnten Respekt vor ihrer Mutter zurück und setzte hinzu: »Wenn es dir nichts ausmacht, versteht sich.«
»Natürlich nicht. Aber vorher musst du deine Medizin nehmen.«
»Mutter!«, seufzte Riella. »Muss ich immer noch dieses Tonikum nehmen? Ich bin kein kleines Kind mehr.«
Doch ihre Mutter hörte gar nicht mehr zu, und Riella wusste, dass sie nicht mit sich diskutieren ließ, wenn sie so war. Sie holte die Medizinflasche aus dem Schrank und sagte: »Ich weiß, dass du kein Kind mehr bist, aber darum geht es auch gar nicht. Du hast mein spezielles Tonikum zum Aufbau deines Körpers seit dem Tag deiner Geburt genommen. Und ich werde dafür sorgen, dass du es weiterhin nimmst, bis zum Tag deines Todes … und noch mehrere Wochen danach.« Sie hatte etwas von der Flüssigkeit auf einen Löffel gegossen, den sie Riella reichte. »Mund auf!«
»Mutter …«
»Mund auf, habe ich gesagt!« Obwohl sie sich leicht zu amüsieren schien, ließ ihr Tonfall keinen Zweifel daran, dass sie erwartete, dass ihre Wünsche befolgt wurden.
Riella wusste, dass kein Weg daran vorbeiführte, und hielt sich die Nase zu, wie sie es immer tat, da sie den Geruch anders nicht ertragen konnte. Ihre Mutter schüttete ihr die Medizin in den Rachen und hielt ihr dann den Mund zu. Riella schluckte gehorsam und blickte ihre Mutter an, als wollte sie sagen: Bist du jetzt zufrieden? Malia beantwortete die unausgesprochene Frage mit einer vagen Geste in Richtung der Tür, die besagte, dass Riella nun gehen könne, wenn sie es wünschte.
Einen Moment lang wollte sie ihre Tochter begleiten, die so abwesend schien, als hätte sie von den fernsten Monden zu ihr gesprochen. Sie wollte zu ihr gehen, sie fest an sich drücken, ihr alles sagen, was sie empfand, ihr erklären, wie gerne sie ihr helfen würde, aber wie wenig sie sich diese Aufgabe zutraute. Doch dann war der Moment vorbei, und Riella ging zur Tür hinaus. Malia blieb allein mit ihrer Verzweiflung und der Überzeugung zurück, dass sie einfach von der Aufgabe überfordert war, Riella aufzuziehen und mit ihren Träumen fertigzuwerden.
Sie hoffte nur, dass sie sie nicht würde töten müssen.
Riella war sich der Blicke bewusst, die sie verfolgten. Sie zeigte sich so selten in der Stadt, dass bereits ihre bloße Anwesenheit Aufmerksamkeit erregte. Hinzu kam ihr ungewöhnliches Aussehen, ihre dunklere Haut, durch die sie sich auf den ersten Blick von den einheitlich blassen Montosianern unterschied. Zu einer Exotin machte sie auch die Tatsache, dass sie kahlköpfig war. Ihr Schädel war glatt wie ein von fließendem Wasser polierter Kieselstein. Da sie deswegen ständig angestarrt wurde, hatte sie sich angewöhnt, eine kurze brünette Perücke zu tragen. Sie hatte sie auch diesmal mitgenommen, bevor sie das Haus ihrer Mutter verlassen hatte …
Das Haus ihrer Mutter …
Sie staunte, wie fremdartig sich die Worte in ihrem Kopf anhörten. Das Haus ihrer Mutter. Es war nicht ihr Heim und ganz gewiss nicht ihre Heimat. Obwohl sie hier lebte, obwohl ihre Mutter sie nach besten Kräften versorgte … blieb trotzdem ein Gefühl der Distanz und Fremdartigkeit. Sie lebte hier nicht, sie wohnte hier nur. Sie hatte keine Ahnung, warum sie so empfand. Ihre Mutter hatte nie etwas getan, das ihr das Gefühl gegeben hätte, unerwünscht zu sein. Sie war eine gute und liebenswürdige Frau, die sich vielleicht etwas mehr um sie sorgte, als nötig war, und die sich vermutlich eher ein Messer ins eigene Herz stoßen würde, als das Risiko einzugehen, ihrer geliebten Tochter könnte etwas zustoßen. Sie wusste, dass ihre Mutter sie verehrte.
Und doch … war da etwas … irgendetwas … ein nagendes Gefühl.
Sie verdrängte diese vagen Gedanken. Sie hatten nichts zu bedeuten. Es waren lediglich ihre Träume, die sie zu fiebrigen Fantasien anregten, und nun beeinflussten sie bereits das Verhältnis zu ihrer Mutter und ihrem Heim. Ihr Zustand wurde immer trauriger. Sie kam sich so undankbar vor.
Sie hörte, wie ihr Name fiel. Es war schon merkwürdig, dass man aus dem Lärm einer Menge problemlos den eigenen Namen heraushören konnte. Wenn man berühmt war, lernte man, seine Reaktionen zu beherrschen, wenn sich der geflüsterte Name durch eine größere Menge ausbreitete. Es wäre unklug, nach außen sichtbar darauf zu reagieren; es vertrug sich nicht mit der Besonnenheit, die man als berühmte Person an den Tag legte. Riella hatte nicht allzu viel Erfahrung im Umgang mit anderen, aber sie besaß zumindest genügend Selbstbeherrschung, sich nicht umzuschauen, wenn sie hörte, wie ihr Name hin und her flog. Es wäre außerdem völlig überflüssig gewesen, da sie auch so wusste, wer über sie sprach.
Es waren die Jungen. Es waren immer die Jungen.
Manchmal schaute sie aus dem Fenster ihres Hauses (ihres Heims, es war ihr Heim!) und sah, wie die Jungen vorbeiliefen. Dann zeigten sie auf ihr Fenster und flüsterten und lachten, und sie hörte, wie die Worte »fremdartig« oder »unheimlich« im Zusammenhang mit ihrem Namen fielen. Zugegeben, auch die Worte »hübsch« oder »exotisch« tauchten gelegentlich auf, was ihr einen gewissen Trost gab. Doch sie wünschte sich, nicht wegen ihres Aussehens oder ihrer Fremdartigkeit berühmt zu sein, sondern aus einem anderen Grund, nur dass sie sich nie entscheiden konnte, aus welchem.
Sie lief die Hauptstraße entlang, die quer durch die kleine Ansiedlung verlief, und sah ihr Spiegelbild im Schaufenster eines Geschäfts. Und sie sah, dass die Jungen ihr folgten. Sie hatte nicht das Gefühl, verfolgt zu werden. Die Jungen waren nur neugierig und versuchten, den Eindruck zu erwecken, zufällig in diese Richtung zu schlendern und ihr keinerlei Aufmerksamkeit zu schenken. Sie wünschte sich, es würde ihr schmeicheln oder sie wenigstens belustigen. Doch sie empfand überhaupt nichts, als wären sie ihr völlig gleichgültig.
Sie fragte sich allmählich, ob es irgendetwas auf der Welt gab, das ihr nicht gleichgültig war.
Unvermittelt blieb sie stehen und drehte sich zu ihnen um. Es waren vier Jungen, die die Köpfe zusammengesteckt hatten und sich etwas zuflüsterten, als sie plötzlich »bemerkt« wurden und wie angewurzelt stehen blieben. Sie kannte den größten von ihnen, sein Name war Jeet. Sein Körper und sein Gesicht waren ein Puzzle, aus dem sich im Laufe der Zeit vielleicht einmal ein gutaussehender Mann entwickeln mochte. Jetzt wirkte er einfach nur schlaksig. »Kann ich dir irgendwie helfen, Jeet?«
Jeet blickte sich unbehaglich zu den anderen um. »Nein«, sagte er nach kurzem Zögern. »Wir … gehen nur spazieren.«
»Ihr habt mich nicht zufällig verfolgt?«
Die Jungen schüttelten energisch die Köpfe, um diesen Verdacht weit von sich zu weisen. Riella fragte leicht amüsiert: »Seid ihr euch ganz sicher?«, woraufhin sie ebenso energisch nickten.
Sie musterte die Jungen noch einen Moment. Niemand rührte sich von der Stelle, als ginge es hier um eine Art Blickduell. »Na gut«, sagte sie schließlich. »Dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend.«
»Wir dir auch, Riella«, sagte Jeet, dann zogen sich die Jungen hastig zurück.
Riella bedauerte diese Entwicklung. Um ehrlich zu sein, hätte sie nichts dagegen gehabt, wenn einer oder sogar alle ihr Gesellschaft geleistet hätten. Aber seltsamerweise sehnte sie sich gleichermaßen nach Gesellschaft wie nach Einsamkeit. Sie versuchte gar nicht erst, diese Anwandlungen zu verstehen. Sie fragte sich, ob es ihr überhaupt möglich war, jemals etwas zu verstehen.
Die Träume umschwirrten ihr Bewusstsein wie Insekten.
Riella ging weiter, und nachdem sie die schlichten Gebäude der kleinen Stadt hinter sich gelassen hatte, war außer Riella nichts und niemand mehr auf oder neben der Straße. Die Sonne war inzwischen untergegangen, doch die Monde spendeten genügend Licht, damit sie ihren Weg fand.
Aber wohin führte ihr Weg?
Vor ihr lag eine kleine Felsgruppe, in der moosähnliche Pflanzen wuchsen und eine schwammartige Oberfläche bildeten, auf der man bequem sitzen konnte. Sie kam häufig an diesen Ort, nur um allein zu sein und über ihr Leben nachzudenken. Sie kam hierher, um nach Antworten zu suchen, nach Absolution oder … Sie wusste es selbst nicht. Antworten auf Fragen, die sie nicht einmal stellen konnte, Antworten, die sie vermutlich auch dann nicht verstünde, wenn sie ihr gegeben würden.
»Warum bin ich so?«, fragte sie. »Warum finde ich keine Ruhe? Anderen Leuten geht es nicht so. Warum geht es ausgerechnet mir so?« Wie immer war auch jetzt nicht einmal der Ansatz einer Antwort in Sicht.
Die Monde stiegen am Himmel empor, und Riella legte sich mit dem Rücken auf die Felsen. Der Geruch des Mooses war angenehm und kitzelte ihr in der Nase. Sie verschränkte die Hände hinter dem Kopf und starrte zu den Monden hinauf. Sie stellte sich vor, es wären zwei leuchtende Augen, die auf sie herabschauten, während der Rest des Gesichts schwarz wie die Nacht war, sodass es sich nicht vom übrigen Himmel unterschied.
Was wäre, wenn sie mit diesem Gesicht reden könnte? Wenn sie ihm jede beliebige Frage stellen könnte – welche würde sie dann stellen? Vielleicht die Frage Warum? Kein bestimmtes Warum, sondern einfach nur Warum? Sie wäre glücklich über jede Antwort auf diese Frage.
Sie spürte, wie ihre Augenlider schwer wurden und kämpfte mit aller Kraft dagegen an, obwohl es sinnlos war. Sie konnte nicht auf Dauer wach bleiben. Die Götter wussten, wie sehr sie es versucht hatte. In der vergangenen Nacht war sie aus ihrem Traum erwacht und hatte seitdem nicht mehr geschlafen. Wäre es nicht wunderbar, wenn sie nie wieder schlafen müsste? Vielleicht war ein Wunder geschehen, und sie würde nie mehr von diesen Träumen heimgesucht werden. Dazu musste sie nur vermeiden, jemals wieder einzuschlafen.
Noch während ihr diese angenehme Vorstellung durch den Kopf ging, schlossen sich ihre Augen, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, und ein schwarzer Nebel breitete sich in ihrem Geist aus.
Dann vernahm sie wieder den Ruf …
… und sie hörte die Stimmen, die flüsternd zu ihr sprachen, die sie riefen, und sie sah formlose Gestalten, die sich anmutig bewegten. Zuerst schienen sie sie gar nicht zu bemerken. Doch dann wandten sie sich ihr zu und umringten sie. Sie schrien immer lauter, und je lauter sie schrien, desto leiser wurden sie. Wie war das möglich? Wie konnte man schreien und dabei keinen Laut von sich geben?
Sie riss die Arme hoch und versuchte, sie abzuwehren, doch sie bestürmten sie und drangen durch sie hindurch. Sie wollte vor ihnen fliehen, aber es gab keinen Ausweg. Sie schrie um Hilfe, und die Gestalten schlüpften mühelos in ihren Mund. Sie waren überall, sie durchdrangen und erniedrigten sie …
Und sie riefen: Riella! Riella! Komm zu uns, bleib bei uns, hilf uns, liebe uns, wie wir dich lieben! Da war Lachen und Weinen, alles gleichzeitig. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun oder wohin sie gehen sollte, es gab keinen Ausweg, und wieder riefen sie ihren Namen …
Dann war da ein Mann. Ein Mann mit roter Haut, und er kam mit grimmigem und furchteinflößendem Gesicht auf sie zu. Sie hörte einen Namen, konnte ihn aber nicht genau verstehen. Zorn oder so ähnlich. Er machte ihr immer noch Angst und kam immer näher …
»Riella!«
Wieder hörte sie ihren Namen aus weiter Ferne, aber diesmal klang er irgendwie anders. Und sie spürte nun eine Wärme … bis sie erkannte, dass es die Wärme der Sonne war, die ihr ins Gesicht schien. Das wurde ihr klar, als sie die Augen aufschlug, geblendet von der Helligkeit blinzelte und dann ihr Gesicht mit der Hand abschirmte. Die Sonne trieb ihr Tränen in die Augen. In ihrer Verwirrung fragte sie sich, wieso auf einmal mitten in der Nacht die Sonne schien. »Riella, wo bist du?«, hörte sie wieder die beinahe verzweifelte Stimme. Nun erkannte sie, dass es die ihrer Mutter war. An diesem Punkt wurde Riella endlich bewusst, dass die Ordnung des Himmels keineswegs gestört war. Die Sonne befand sich genau dort, wo sie hingehörte, nämlich am Morgenhimmel. Es war Riella, die die Orientierung verloren hatte.
Durch die zusammengekniffenen Augenlider entdeckte sie ihre Mutter auf einer Anhöhe, von wo sie sich mit sichtlicher Besorgnis umblickte. Riella versuchte, sich aufzusetzen. Ihr Rückgrat schmerzte, nachdem sie die ganze Nacht auf den moosbewachsenen Steinen verbracht hatte. Sie rief nach ihrer Mutter. Die Morgenluft stach in ihre Kehle und Lungen, und was aus ihrem Mund drang, war kaum mehr als ein Krächzen, aber es genügte, um ihre Mutter auf sie aufmerksam zu machen.
»Riella!«, rief Malia und lief zu ihr. Sie schlang die Arme um ihre Tochter und drückte sie so fest an sich, dass Riella ein Knacken in ihrer Wirbelsäule hörte. Zuerst erschrak sie über das Geräusch, doch als sie sich bewegte, stellte sie fest, dass es ihrem Rücken erheblich besser ging. Ihre Mutter hatte unabsichtlich irgendeinen Knochen wieder eingerenkt.
»Ich habe mir solche Sorgen gemacht!«
»Dazu bestand kein Grund, Mutter. Es war alles in Ordnung.«
»Du bist nicht nach Hause gekommen! Die ganze Nacht …«
»Ja, das weiß ich. Ich bin hier eingeschlafen.«
»Warum? Stimmt etwas mit deinem Bett nicht? Oder wurdest du verletzt? Hat man dich hierher verschleppt oder …«
»Mutter …« Riella musste insgeheim über die Aufgeregtheit ihrer Mutter lachen. Es hatte etwas Liebenswertes. Sie legte ihren Finger auf die Lippen ihrer Mutter, um den Wortschwall einzudämmen. »Mutter … könnten wir jetzt einfach nach Hause gehen? Bitte!«
»Ja, mein Schatz. Natürlich.« Sie seufzte und legte ihrer Tochter einen Arm um die Schultern, dann machten sie sich gemächlich auf den Heimweg. »Die Träume …«, sagte Malia irgendwann. »Sind sie …« Es war gar nicht nötig, den Satz zu beenden.
Riella dachte kurz über die Frage nach und schüttelte langsam den Kopf. »Nein.«
»Nein?«
»Nein. Ich hatte gar keine Albträume. Ich habe sogar sehr gut geschlafen. Es war … sehr angenehm.«
Sie hatte keine Übung darin, ihre Mutter anzulügen, und sie war sich nicht sicher, ob sie überzeugend wirkte. Malia nickte nur und tätschelte ihrer Tochter die Schulter, bevor sie sich auf den Heimweg machten.
Morgan Lefler erkannte auf den ersten Blick, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte.
Robin war ungewöhnlich still, als sie in ihr gemeinsames Quartier zurückkehrte. Es war nichts ungewöhnlich daran, dass sie in ihr Quartier kam, da sie soeben ihre Schicht beendet hatte. Was Morgans Aufmerksamkeit erregte, war ihr ungewöhnlich stilles Verhalten. Normalerweise ließ sich Robin nach Dienstschluss ausführlich über alles aus, was sich während des Tages zugetragen hatte, ob es sich nun um bedeutende oder triviale Ereignisse handelte. Daher war die Stille, die Robins Rückkehr an diesem Abend begleitete, umso auffälliger.
»Was hast du?«, fragte sie in jenem Tonfall, den Mütter seit unzähligen Jahrhunderten gegenüber ihren Töchtern verwenden, worauf Robin die ebenso traditionelle Antwort gab: »Nichts.«
Morgan dachte kurz über die Sinnlosigkeit dieses Dialogs nach und beschloss, es mit einem anderen Ansatz zu probieren. Morgan war gerade mit der Lektüre neuerer wissenschaftlicher Artikel über die Erforschung von Wurmlöchern beschäftigt und wollte sich nicht allzu sehr von dieser Arbeit ablenken lassen. Also widmete sie sich wieder dem Computerbildschirm, während sie das Gespräch mit Robin nebenbei fortsetzte. »Schön. Und … wie war dein Tag?«
»Gut.«
»Und dein Treffen mit Si Cwan?«
Robin reagierte mit sichtlicher Verblüffung. Sie sah ihre Mutter mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Woher wusstest du, dass ich heute ein Treffen mit Si Cwan hatte?«
»Ich wusste es nicht. Ich habe nur geraten. Immer wenn du in letzter Zeit mit ihm zu tun hattest, warst du anschließend in ungewöhnlich nachdenklicher Stimmung. Heute wirkst du besonders nachdenklich, also habe ich mir gedacht, dass du heute ein besonders wichtiges Treffen mit ihm hattest.«
»Oh … nun ja … nein. Ich meine, so wichtig war es gar nicht. Wir haben nur eine diplomatische Mission vorbereitet, das war alles.«
»So? Wohin?«
»Das spielt keine Rolle«, sagte Robin. Sie schlug sich auf die Schenkel und stand auf. Offensichtlich wollte sie das Thema wechseln. »Und … wie war dein Tag?«
»Nun … wenn du es unbedingt wissen willst … dieser Artikel über Wurml…«
»Also gut«, sagte Robin, trat an den Schreibtisch und lehnte sich dagegen. »Wie es scheint, hält Si Cwan mich in letzter Zeit auf Abstand.«
»Ich verstehe. Auf Abstand, sagst du?«
»Ja, genau.«
»In letzter Zeit?«
»Ja.«
»Und was war sonst? Ich meine, wie hat er sich denn in den Wochen oder Monaten davor verhalten?«
»Oh, er war immer höflich. Respektvoll. Stets an meiner Meinung interessiert.«
»Und was hat sich daran geändert? In letzter Zeit, meine ich.«
»Er …« Sie verstummte, als hätte sie auf einmal den Antrieb verloren. Sie runzelte die Stirn, suchte scheinbar nach einer Antwort, die vernünftig klang, doch ihr schien nichts einzufallen. »Okay, daran hat sich vielleicht gar nichts geändert.«
»Worüber beklagst du dich dann? Ach so, natürlich!«, sagte sie lächelnd. »Du beklagst dich, weil sich nichts daran geändert hat. Da ist was im Busch zwischen dir und deinem geschätzten thallonianischen Edelmann, nicht wahr? Beziehungsweise möchtest du gerne, dass da was ist.«
»Letzteres. Eindeutig Letzteres«, gab Robin zu.
»Diese Aufrichtigkeit gegenüber deiner Mutter überrascht mich. Vor noch gar nicht allzu langer Zeit wäre so etwas völlig undenkbar gewesen.«
»Werd nicht albern, Mutter!«
»Ich bin keineswegs albern. Du neigst dazu, dich zurückzuziehen, wenn starke Gefühle im Spiel sind, Robin.« Sie wandte sich nun ganz vom Computerbildschirm ab und widmete ihre gesamte Aufmerksamkeit ihrer Tochter. »Du gibst dir wirklich alle Mühe, den Anschein eines offenen und kontaktfreudigen Menschen zu erwecken, aber du kannst nicht leugnen, dass du dich gerne in … dein Schneckenhaus verkriechst. Insbesondere, wenn du es mit unbehaglichen Situationen zu tun hast.«
»Das ist absurd, Mutter. Ich verkrieche mich nirgendwo. Entschuldige mich bitte.«
»Wohin gehst du?«
»Ins Bad.«
»Wir befinden uns mitten in einem Gespräch, Robin.«
»Nein. Du bist dabei, mich wieder einmal wie ein Kind zu behandeln, und willst mir erzählen, dass ich weglaufe und mich zurückziehe. Ich will nur schnell duschen und mich um andere körperliche Bedürfnisse kümmern.«
»Du ziehst dich zurück.«
»Und du erzählst Unsinn. Ich bin in zehn Minuten wieder da. Dann können wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben, wenn du darauf bestehst.«
Sie ging ins Badezimmer und kam nach einiger Zeit zurück, jetzt in Freizeitkleidung. »So. Wie lange habe ich gebraucht? Zehn Minuten, wie ich sagte? Oder vielleicht fünfzehn?«
»Eine Stunde und neunzehn Minuten«, sagte Morgan.
»Auf gar keinen Fall. Das ist …« Sie blickte auf das Chronometer und stellte fest, dass in der Tat eine Stunde und neunzehn Minuten verstrichen waren. »… absurd.« Sie klang wenig überzeugend.
»Dann wollen wir doch mal sehen«, sagte Morgan kühl. Sie hatte sich wieder ihrer Arbeit zugewandt und sah Robin nicht ein einziges Mal an, während sie sprach. »Vielleicht komme ich auch ohne deine Hilfe drauf. Si Cwan bereitet sich also auf irgendeine diplomatische Mission vor. Und du würdest ihn natürlich gerne begleiten. Es geht gar nicht darum, ob deine Anwesenheit bei dieser Mission wirklich notwendig ist, aber du möchtest trotzdem dabei sein. Du möchtest einfach die Gelegenheit nutzen, gemeinsam mit ihm einige Zeit außerhalb des Schiffs zu verbringen. Wenn er vorgeschlagen hätte, dass du ihn begleitest, hättest du darin einen Hinweis gesehen, dass die undefinierten Gefühle, die du für ihn hegst, zumindest teilweise von ihm erwidert werden. Aber er hat keinen derartigen Vorschlag gemacht, woraus du schließt, dass er dich lediglich in deiner Funktion als Verbindungsoffizier wahrnimmt und nicht als Mensch oder Frau, mit der er gerne zusammen ist. Damit stehst du vor der schwierigen Frage, ob du unprofessionell, unvernünftig oder einfach nur zu feige bist, Cwan zu sagen, was du wirklich für ihn empfindest – vorausgesetzt, du bist dir deiner Gefühle bewusst genug, um sie verständlich artikulieren zu können. Habe ich deine Situation einigermaßen zutreffend zusammengefasst?«
Robin nickte langsam. Doch dann riss sie sich zusammen und schüttelte stattdessen den Kopf. »Nein, so ist es überhaupt nicht … die Wahrheit … weißt du … es ist so …«
»Robin«, sagte Morgan und nahm ihre Hand. »Robin, ich trage in dieser Sache eine gewisse Verantwortung. Wenn ich für dich dagewesen wäre, als du in deiner Teenagerzeit zum ersten Mal mit Liebeskummer und anderen Schwierigkeiten zu tun hattest, hätte ich dir helfen und Ratschläge geben können. Nun scheinst du darunter zu leiden.«
»Ach, Mutter«, sagte Robin und klopfte Morgan auf die Schulter. »Es ist wirklich nicht deine Schuld.«
»Ich weiß. Ich dachte nur, dass du dich besser fühlst, wenn ich es sage.«
Robin verdrehte die Augen. Dann konzentrierte sie den Blick auf ihre Mutter. »Na gut, aber jetzt bist du da. Welchen Rat würdest du mir erteilen?«
»Das ist doch wohl offensichtlich. Du bist kein Teenager mehr, Robin, sondern ein Sternenflottenoffizier! Du solltest über genügend Selbstbewusstsein verfügen, um zu sagen, was du wirklich denkst. Ich meine, wenn du an deiner Station einen Fehler machst, musst du dir Gedanken machen, welche Konsequenzen das für das ganze Schiff haben könnte, und diese Arbeit meisterst du mühelos. In diesem Fall sind die Konsequenzen ausschließlich persönlich, und sie sind nicht mal ansatzweise katastrophal oder gar lebensgefährlich. Mach deine Arbeit und hör auf, dich wie ein Schulmädchen aufzuführen, das sich in den netten Jungen aus der Parallelklasse verknallt hat.«
»Du hast recht, Mutter. Und wie du recht hast!« Robin reckte die Schultern. »Wenn ich etwas für Si Cwan empfinde, sollte ich es ihm sagen. Ich bin es mir schuldig, und in gewisser Weise auch ihm.«
»Völlig richtig.«
»Weil … verdammt … schließlich bin ich eine gute Partie!«
»Daran besteht kein Zweifel«, sagte Morgan lächelnd.
»Und er hat das Recht, zu erfahren, dass eine erstklassige Frau wie ich an ihm interessiert ist!«
»Das ist die richtige Einstellung.«
»Und ich schaffe es, ohne mich zu verkriechen. Wünsch mir Glück, Mutter!«
»Viel Glück, Robin.«
Robin marschierte los. Morgan beobachtete, wie sie durch die Tür ging, die sich hinter ihr schloss. Sie zögerte einen Moment, als wäre sie unsicher, ob sie was sagen sollte, dann seufzte sie und sagte: »Robin, du weißt, dass du ins Badezimmer gegangen bist?«
»Ja, Mutter. Ich will mich nur sammeln. Ich komme in zehn Minuten.«
»Nein, jetzt, Robin!«
»Mutter, du kannst mir …«
»Nein, jetzt!«
Die Tür glitt wieder auf, und Robin kam heraus. Ihre Schritte ließen sich eigentlich nur als trotziges Stampfen beschreiben. »Rede nicht ständig mit mir, als wäre ich ein kleines Kind, Mutter!«, sagte sie steif.
»Sobald du aufhörst, dich wie ein kleines Kind zu benehmen.«
Robin schnaubte ungeduldig, dann verließ sie mit stampfenden Schritten das Quartier. Morgan schüttelte nur den Kopf und widmete sich wieder ihrer Lektüre.
Als Robin durch den Korridor lief, spürte sie mit jedem Schritt, wie ihre Zuversicht wuchs. Schließlich hatte sie keinen Grund, an sich zu zweifeln. Sie hatte sich als kompetenter und zuverlässiger Offizier der Excalibur bewiesen. Sie hatte an erfolgreichen Außeneinsätzen teilgenommen. Sie wusste, worauf es ankam. Eigentlich gab es keinen guten Grund, warum sie Cwan nicht auf dieser Mission begleiten sollte. Es gab nur einen schlechten Grund – weil Si Cwan sie alles andere als kalt ließ.
Als sie dem »inoffiziellen« Botschafter an Bord der Excalibur in der Funktion des Verbindungsoffiziers zugeteilt worden war, hatte sie ihn faszinierend gefunden, wie sie zugeben musste. Sie hatte auch allen Grund dazu gehabt, schließlich war er ein Vertreter des Adels von Thallon. Er war ein Nachkomme und wahrscheinlich der letzte Überlebende der königlichen Familie und versuchte durch Wohlwollen und sein beeindruckendes persönliches Charisma die letzten Überreste der thallonianischen Einflusssphäre zusammenzuhalten. Das riesige Thallonianische Imperium, dem er angehört hatte, war nicht mehr. Bereits nach einem fünfminütigen Gespräch mit ihm wurde offensichtlich, dass er sich in dieser Hinsicht keinen Illusionen hingab. Was Si Cwan von den übrigen Mitgliedern der Aristokratie unterschied, war die Tatsache, dass ihm wirklich etwas an den Völkern lag, die unter dem Zusammenbruch des Imperiums gelitten hatten. Er war aufrichtig daran interessiert, etwas zu verbessern, für mehr Sicherheit zu sorgen. Er arbeitete daran, dass die zahlreichen Welten, die einst das Imperium gebildet hatten, nun, nachdem sie auf sich allein gestellt waren, nicht in Chaos und Anarchie versanken. Er wollte nicht herrschen, sondern helfen.
Ja, anfangs hatte er sie fasziniert. Dann war sie beeindruckt gewesen. Dann hatte sie ihn bewundert. Dann dachte sie immer häufiger an ihn. Und nun …
»Was nun?«, fragte sie sich, als sie den Turbolift betrat und Deck 12 als Ziel angab, wo sich Si Cwans Quartier befand.
Si Cwan war kein Mann, der sich überschwänglich seinen Gefühlen hingab. Irgendwie wäre es seiner nicht würdig gewesen. Obwohl seine Titel im untergegangenen Imperium keine Bedeutung für seinen Status quo an Bord der Excalibur hatten, wahrte er dennoch eine gewisse Vornehmheit, der man einfach mit Respekt und Zurückhaltung begegnen musste. Infolgedessen war es Robin nicht gelungen, ihm irgendwelche Hinweise zu entlocken, welche Gefühle er für sie empfinden mochte. Das war recht frustrierend für sie, da Robin sich stets viel auf ihre Fähigkeit eingebildet hatte, andere Menschen intuitiv durchschauen zu können. Bedauerlicherweise ließ ihr sechster Sinn sie im Stich, wenn es um Si Cwan ging. Das bedeutete natürlich nicht zwangsläufig, dass ihm nichts an ihr lag, aber es war auch kein starkes Indiz, dass er etwas empfand.
Das Problem war, dass sie eigentlich immer selbstbewusster hätte werden müssen, je mehr sie mit Si Cwan zu tun hatte. Stattdessen wurde ihre Verwirrung immer größer, obwohl sie äußerlich stets die Fassung wahrte. Sie war sich einigermaßen sicher, dass ihre Verlegenheit und Unzufriedenheit keinen Einfluss auf ihren Umgang mit Cwan hatte. Zumindest hatte sich noch niemand dahingehend geäußert. Dennoch blieb ein ärgerlicher, nagender Rest des Zweifels.
Als sie bei Si Cwan gewesen war, um über die bevorstehende diplomatische Mission zum Planeten Montos zu sprechen, hatten sie sich nüchtern und leidenschaftslos darüber unterhalten, welche Personen am besten geeignet waren, ihn zu begleiten. Sie hatte zum Ausdruck bringen wollen, dass sie als seine Assistentin die erste Wahl wäre. Doch sie hatte ihrem eigenen Urteil nicht getraut. Sie wusste nicht, ob sie aus sachlichen Gründen davon überzeugt war, dass sie an der Mission teilnehmen sollte, oder ob einfach nur ihr Wunsch dahinterstand, über einen längeren Zeitraum mit ihm zusammen sein zu können. Um nicht zu einer falschen Einschätzung aufgrund unangemessener oder irrelevanter Bedenken zu gelangen, hatte sie bislang geschwiegen und war nicht bereit gewesen, ihre eigene Person zur Sprache zu bringen.
Das war ein idiotischer Irrtum gewesen, den sie nicht wiederholen würde. Sie sollte ihn begleiten, verdammt! So einfach war das!
Nein. So einfach war es nicht. Si Cwan hatte es verdient, die Gründe zu erfahren – alle Gründe –, warum sie ihn begleiten wollte. In ihrer Beziehung (wie auch immer sie geartet sein mochte) würde es niemals irgendeinen Fortschritt geben, wenn er nicht wusste, was los war. Auch wenn alles noch recht unklar und im Fluss war, musste sie ihm sagen, was genau im Fluss war.
Sie ging mit neuem Mut zu seinem Quartier und betätigte den Türmelder. Von drinnen hörte sie eine Stimme, die »Herein!« rief, aber sie bemerkte es kaum, da ihr ganz andere Sorgen durch den Kopf gingen. Als sie eintrat, war sie so angespannt, dass sie die Hände zu Fäusten geballt und die Augen fest geschlossen hatte (was sie häufig tat, wenn sie unter emotionalem Stress stand). »Hören Sie«, redete sie drauflos, »ich habe es bislang mit keinem Wort erwähnt, da ich selber nicht genau weiß, was ich eigentlich empfinde, aber ich muss darüber sprechen, damit wir die Sache klarstellen können, denn ich muss Ihnen sagen, dass ich Sie sehr attraktiv finde und Gefühle für Sie entwickelt habe, die weit über unser Dienstverhältnis hinausgehen.«
Sie öffnete die Augen.
Auf Si Cwans Couch hatte es sich Captain Mackenzie Calhoun bequem gemacht. Er hielt etwas in der Hand, bei dem es sich um einen der thallonianischen Texte Si Cwans zu handeln schien, und er starrte Robin Lefler mit sorgsam beherrschtem Gesichtsausdruck an.
Dann seufzte er schwer.
»Ja, schon gut«, sagte er. »So etwas höre ich ständig.«
Sämtliches Blut verschwand aus Robins Gesicht und sammelte sich in ihren Füßen. Sie war fest davon überzeugt, jeden Augenblick in Ohnmacht zu fallen, aber sie musste feststellen, dass sie einen absolut sicheren Stand hatte. »Captain, ich … ich …«
Er hob eine Augenbraue und wartete interessiert ab, was sie sagen würde.
»Captain, ich … hege überhaupt keine Gefühle für Sie.«
»Oh.« In seinen violetten Augen flackerte etwas auf, aber Robin konnte in diesem Moment nicht sagen, ob er enttäuscht oder vielleicht amüsiert war. »Nun, auch das höre ich ständig.«
»Ich wollte damit sagen … dass ich nicht … ich meine …« Sie räusperte sich, aber es nützte nicht viel, da ihre Stimme auch anschließend noch einen krächzenden Unterton hatte. »Ist Si Cwan da?«
»Nein. Wie Sie vielleicht wissen, haben wir eine diplomatische Mission nach Montos in die Wege geleitet. Als Si Cwan alle Vorbereitungen abgeschlossen hatte, wollte er den Aufbruch nicht weiter hinauszögern. Also sind er und die Lieutenants Kebron und Soleta vor einer Stunde mit dem Runabout Marquand II losgeflogen. Zuvor hat er mir gestattet, verschiedene historische Texte zu lesen, die er in seinem Quartier aufbewahrt. Er fragte, ob es mir etwas ausmachen würde, sie hier zu lesen. Er wollte nicht, dass sie über das ganze Schiff verteilt werden, da sie sehr alt und heilig sind und …« Er zuckte mit den Schultern. »Nun, ich schätze, jeder von uns pflegt seine kleinen Macken.«
Sie nickte und empfand immer noch so große Scham, dass sie Schwierigkeiten hatte, auch nur einen zusammenhängenden Gedanken zu fassen, geschweige denn, einen vollständigen Satz zu formulieren.
Calhoun machte eine kurze Pause, dann sagte er – immer noch mit völlig unbewegter Miene: »Gehe ich recht in der Annahme, dass die Gefühle, die Sie zum Ausdruck gebracht haben, ihm gelten?«
»Captain, ich …« Sie holte tief Luft. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie … vielleicht … nun ja, alles vergessen könnten, was ich gesagt habe. Am besten alles, was ich jemals gesagt habe oder noch sagen werde.«
»Das dürfte ein wenig übertrieben sein, Ensign. Aber ich verstehe Ihre Verlegenheit. Ich denke, Sie können ganz beruhigt sein.«
»Vielen Dank, Captain. Und ich … ich wollte Sie keineswegs beleidigen, Captain. Ich möchte nicht, dass Sie glauben, Sie wären grundsätzlich unattraktiv. Ich bin mir sicher, dass andere Personen in diesem Punkt durchaus …«
»Robin …« Er hob eine Hand, als wollte er ihren Wortschwall abwehren. »Ich glaube, es wäre eine gute Idee, wenn Sie jetzt nichts mehr sagen würden.«
Sie nickte eifrig. »Ja, Captain. Vielen Dank, Captain.« Sie drehte sich um und verließ fluchtartig Si Cwans Quartier … Calhoun blieb Kopf schüttelnd zurück und lachte leise in sich hinein.
Xyon hatte noch nie zuvor an einer Hinrichtung teilgenommen. Und er war nicht daran interessiert, ein solches Spektakel ausgerechnet jetzt zum ersten Mal zu erleben, zumal es sich bei der fraglichen Hinrichtung um seine eigene handelte.
Trotz all seiner Raumfahrttechnologie war Barspens eine verhältnismäßig barbarische Welt geblieben, was die Sitten und das Vergnügungsangebot betraf. Holovids, Fernsehen und selbst Druckerzeugnisse hatten sich hier nie als Unterhaltungsmedien durchsetzen können. Dagegen waren öffentliche Hinrichtungen ein äußerst beliebter Zeitvertreib. Xyon hätte sie jedoch lieber aus deutlich größerer Entfernung beobachtet. Und er hatte gewiss nicht auf die Hauptrolle in dieser Show spekuliert, als er den Auftrag annahm, der ihn auf diesen verfluchten Hinterwäldlerplaneten führte.
Xyon ging schon seit geraumer Zeit in seiner Zelle auf und ab. Der junge Mann bewegte sich mit einer Ruhe und Kraft, die über seine gegenwärtigen Schwierigkeiten hinwegtäuschten. Er bewegte sich leichtfüßig, und obwohl er sich Zeit ließ (warum hätte er sich auch beeilen sollen?), hätte jeder Beobachter auf den ersten Blick die Stärke und Schnelligkeit in seinem gelenkigen Körper erkannt. Seine Kleidung war dunkelrot und violett, und das lange Haar hing ihm ins Gesicht. Normalerweise band er es zurück, doch im Augenblick war er nicht in der Stimmung, sich um solche Feinheiten zu kümmern. Im Gegensatz zu seinem hellen Haar waren die Augenbrauen ungewöhnlich dunkel, genauso wie seine Augen, in denen der Zorn eines aufgewühlten Ozeans zu branden schien. Seine dünnen Lippen waren nachdenklich geschürzt, und sein etwas längliches Kinn gab ihm das Aussehen eines angreifenden Raubvogels. Er hatte keine Waffen, man hatte sie ihm allesamt abgenommen. Doch er besaß eine unerschütterliche Entschlossenheit und die Zuversicht, dass er über seine Feinde und alle sonstigen Hindernisse triumphieren würde, die man ihm in den Weg warf. Damit hatte er bislang alle brenzligen Situationen gemeistert, in denen er sich jemals befunden hatte.
Diese Zuversicht war auch in seiner derzeitigen Zwangslage nicht erschüttert worden. Trotzdem wäre es seiner Stimmung zuträglich gewesen, wenn er während der achtunddreißigsten Inspektion seiner Zelle irgendeine Fluchtmöglichkeit entdeckt hätte, die ihm während der ersten siebenunddreißig Male entgangen war. Bedauerlicherweise war dem jedoch nicht so.
Jemand klopfte energisch an die Tür. Er wusste aus Erfahrung, dass dieses Zeichen nicht nur dazu gedacht war, ihn zu informieren, dass jemand eingetroffen war, sondern es war auch eine Warnung, damit er zurücktrat, bevor ihm etwas Unangenehmes oder Schmerzhaftes zustoßen würde. Seine Erfahrungen veranlassten ihn, bis zur gegenüberliegenden Wand der Zelle zurückzuweichen.
Die Tür schwang nach außen auf (die Scharniere waren draußen angebracht, damit er sie nicht erreichen konnte), und wie erwartet waren die Schockstäbe das Erste, was in die Zelle eindrang. Die Wachen im Korridor hatten die meterlangen Waffen fest im Griff und konnten ausgezeichnet damit umgehen. Xyon hörte eine dröhnende Stimme: »Es ist Zeit, Fremdling. Zeit für dein Urteil und deine Hinrichtung.«
»Du begehst einen schweren Fehler, Foutz«, sagte Xyon warnend.
»Aber keinen so schweren Fehler wie du, als du hierherkamst. Du hast die Wahl: du kommst freiwillig mit oder wir machen dir Beine. Es liegt ganz bei dir.«
»Oh, tatsächlich? Hmm. Lass mich einen Moment darüber nachdenken. Unerträgliche Schmerzen, die mich daran hindern werden, aus eigener Kraft zu gehen, oder keine Schmerzen. Du stellst mich wirklich vor eine schwierige Entscheidung.«
Foutz war im Korridor direkt an der Tür zu erkennen. Er war von durchschnittlicher Größe und gab das übliche patschende Geräusch von sich, das Barspenser erzeugten, wenn sie langsam auf der Stelle traten, was die Barspenser ständig taten. Das war nicht unbedingt überraschend, wenn man bedachte, dass sich dieses Volk mithilfe von Gliedmaßen fortbewegte, die sich am besten als Tentakel beschreiben ließen. Angesichts dieser Umstände wahrte Foutz eine erstaunliche Würde. Seine durchsichtigen Augenlider schlossen sich klickend, während er Xyon weiter anfunkelte. »Wenn dir etwas an einer großen Auswahl von Entscheidungsmöglichkeiten liegt«, sagte er, »hättest du niemals auf unsere Welt kommen sollen. Insbesondere hättest du nicht versuchen sollen, uns zu bestehlen. Bevor du das getan hast, stand dir ein Universum der unbegrenzten Möglichkeiten offen. Jetzt sind sie in der Tat drastisch reduziert. Sei dankbar für jede Möglichkeit, die dir noch geblieben ist.«
»Weise Worte, Foutz. Ich werde mich gerne an sie erinnern, wenn ich dir das Genick breche.«
Foutz lächelte nicht, was kein Wunder war, da er eher so etwas wie einen Hautlappen anstatt eines Mundes besaß. Er gab den Wachen ein Zeichen, sodass diese zurücktraten, damit Xyon ungehindert aus der Zelle in den Korridor treten konnte. Xyon spannte sich augenblicklich an, als er sein Umfeld automatisch nach einer Gelegenheit zum Ausbruch absuchte. Bedauerlicherweise ergab sich keine. Die Wachen waren viel zu vorsichtig und erfahren und sie waren wild entschlossen, das Volk von Barspens auf gar keinen Fall um ihre Nachmittagsunterhaltung zu bringen, indem sie dem Hauptdarsteller gestatteten, sich seiner Verantwortung zu entziehen. Also entspannte sich Xyon wieder und begnügte sich mit der Hoffnung, dass sich vielleicht später eine Gelegenheit bot.
Es war noch früher Morgen. Warum muss so etwas immer so zeitig stattfinden?, fragte er sich. Es war schon schlimm genug, wenn man hingerichtet werden sollte. Aber wenn man sein Leben verlieren sollte, während man sich noch den Schlaf aus den Augen rieb, war das einfach nur barbarisch.