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1. Auflage 2012

© 2012 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

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Redaktion: Ulrike Kroneck, Melle-Buer

Umschlagabbildung: iStockphoto.com

Satz und Epub: Grafikstudio Foerster, Belgern
 

ISBN Epub 978-3-86414-282-6
 

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Inhalt

Vorwort

Teil I: Endstation Altenheim

1. Einmal Pflegefall und zurück

Akt 1: Panik

Akt 2: Stille

Akt 3: Abgründe

2. Der Status quo in deutschen Seniorenheimen

»Die Liste ist doch nur für die Pflegekasse«

Finanzinvestoren im Pflegesektor

Versorgung nur durch unbezahlte Überstunden möglich

Aufsichtsbehörden können nur wenig ausrichten

»Unverantwortlich, Pflegebedürftige zu verunsichern«

Auf dem Weg in die Republik der Alten

Investieren in Altenheime? Nein, danke.

3. Wenn der Pflegekonzern selbst pflegebedürftig wird

Wenn der Gründer zu viel will

4. Aufgeblasener Fachkräftemangel

Wie die privaten Heimbetreiber die Lage selbst sehen

5. Sündenbock Altenpfleger

Einer der unbeliebtesten Jobs der Republik

»Wir gehören zur Unterschicht«

»Die jungen Leute werden systematisch verheizt«

6. Umgeben von Robotern – Utopien aus der Pflegebranche

»Rebranding« für die Altenpfleger

7. So macht man einen Pflegefall – und die Pharmaindustrie
verdient mit

Ruhigstellen hat zuweilen tödliche Nebenwirkungen

Demenzkranke kommen das Sozialsystem teuer

Die Ärzte sehen die Not der Pfleger und entwickeln daraus eine Legitimation

Eine Kontrolle der Ärzte ist fast unmöglich

Die Frau auf dem Video hätte es nicht geben dürfen

Ermittlungen werden meistens ohne Ergebnis eingestellt

Odyssee durch die Stationen des Gesundheitssystems

Die Pharmakonzerne verdienen gut an ruhiggestellten Senioren

Wie entschieden lehnen Pharmakonzerne den Einsatz ab?

8. Wächter mit gebundenen Händen: die Heimaufsichten

Kontrolle in Zeiten knapper Ressourcen

»Heimaufsicht heißt Kooperation«

Keine Handhabe gegenüber Ärzten

Wenn Aufsicht und Heim zu eng verstrickt sind

9. Senioren, Rohstoff für die Pflegeindustrie

Gewinne durch Outsourcing

Pudding aus Wasser

Keine Zeit zum Anreichen

Die 24-Stunden-Windel

Wie im Gefängnis

10. Unabhängige Bewertung unerwünscht

Staatliches Prüfsiegel? Fehlanzeige

Betreiber ziehen gegen ihre Bewertung vor Gericht

Die »Sozialisierung der Unterdrückten«

Selbst die Beratungsstellen sind schwer zu finden

Private Vermittler profitieren

11. Alte Menschen haben keine Lobby

12. Pflegestufen – ein Systemfehler?

Pflegebedürftige Sozialhilfeempfänger gesucht

Groteske Vereinfachung

13. Wenn die eigene Tochter Hausverbot bekommt

Berufsbetreuer: eine umstrittene Profession

Kann man den Betreuern vertrauen?

Die Gebührenordnung lässt die Qualität sinken

14. … und was machen die Kassen?

»Es gibt Bewohner, die sitzen mit nacktem Hintern am Frühstückstisch«

Wie unabhängig sind die Aufseher des MDK?

Teil II: Boombranche ambulante Pflege

15. Von guten Herzen und ruhigen Händen

Die Wirtschaftskrise mahnt zum Sparen an den Alten

Der Pflegefall kommt oft von jetzt auf gleich

16. Die ambulanten Pflegedienste – Sizilien in Deutschland?

Drei Staatsanwälte gegen die Korruption

Es gibt viele Möglichkeiten, zu betrügen

Wilder Westen

Die Pflegerinnen werden mutiger

Der Fall Konietzko

Gefährliche ambulante Pflege

17. Endstation Beatmungs-WG

Wenn die Kriminalpolizei ermittelt

Viel zu wenige Ausgebildete

Die Qualitätsunterschiede sind immens

Die Verantwortung der Kassen

18. Pflegedienste mit beschränkten Möglichkeiten

Wenn Rechtsverstöße zum Alltag gehören

Wo beginnt Betrug?

Die Rechnungen werden mit Leistungen »gefüllt«

Lange Fahrtzeiten drücken auf die Bilanzen

Betrügen private Dienste häufiger?

Kreative Abrechnung

19. Letzte Hilfe: die illegale Polin

Teil III: Warum die Politik die Probleme des Pflegesystems nicht in den Griff bekommt

20. Warum stecken wir nicht einfach Arbeitslose ins Altenheim?

Die Zahlen sind verführerisch

»Das Vorlesen schaffen wir dann auch noch selber«

21. Rohrkrepierer Pflegereform

Wie Norbert Blüm zum ersten Profiteur der Pflegeversicherung wurde

Mehr Schein als Sein

Die Reaktionen waren überwältigend – schlecht

Wie die Bundesregierung ihre eigene Reform zerrieb

Der Amtswechsel und die Reform

Der Sommer verstreicht ohne Ergebnis

Die Reaktionen wirken zuweilen wie choreografiert

22. Von guten und schlechten Risiken

Wie aus der großen Idee zur Familienpflegezeit ein Gesetzchen wurde

Arbeitgeber haben Thema nicht auf dem Schirm

Von der großen Idee zum Reförmchen

Die Vordenker

Pflege ist nicht wie Kindererziehung

Schlusswort

Dank

Quellennachweise

Über die Autorin

Vorwort

Haben Sie schon einmal in einem Altenheim zu Mittag gegessen? Falls ja, werden Sie sich vielleicht gefragt haben, warum der Nudelauflauf so grau aussieht, warum die Salami grünlich schimmert und weshalb der Pudding so wässrig schmeckt. Es muss doch möglich sein, schmackhafteres Essen auf den Tisch zu bringen, werden Sie gedacht haben.

Ist es aber nicht.

Zumindest nicht in den meisten deutschen Pflegeheimen. Zum Beispiel Pudding: Es gibt Pflegeheimketten, die kochen ihren Pudding mit Wasser anstatt mit Milch – aus rein wirtschaftlichem Kalkül. Eine Einrichtung, die zwei Mal pro Woche ihren Bewohnern den Wasserpudding zum Nachtisch vorsetzt, spart dadurch pro Woche zwölf Euro. Das klingt nach einem verschwindend kleinen Betrag, rechnet sich aber, wenn man es über alle Häuser einer Kette hinweg betrachtet: Bei 50 Einrichtungen kommt ein Betreiber allein durch den Wasserpudding auf rund 30.000 Euro Einsparungen pro Jahr.

Warum tun Heimbetreiber so etwas? Sie machen es nicht aus böser Absicht, sondern – und das ist das eigentlich Erschreckende – weil sie nicht anders können. Pro Heimbewohner gestehen die Kostenträger der Pflegeheime, also die Kassenvertreter und die Sozialämter der Kommunen, den Heimbetreibern in vielen deutschen Regionen im Schnitt fünf Euro zu. Diese Summe muss ausreichen, um einen alten Menschen einen ganzen Tag lang zu ernähren: Frühstück, Mittagessen, Kaffee und Kuchen, Abendessen, plus Getränke. Der Grund wiederum, warum die Summe so lächerlich gering ist: Im deutschen Sozialsystem ist einfach kein Geld da für die Alten.

Im Jahr 2011 förderte die Bundesrepublik Deutschland Solarenergie mit sieben Milliarden Euro. Fast fünf Milliarden flossen ins Elterngeld, 500 Millionen in die steuerliche Vergünstigung von Hotelübernachtungen. Die Summe des Geldes, das wir Deutsche pro Jahr für die Versorgung unserer Alten und Pflegebedürftigen ausgeben, wirkt im Vergleich dazu winzig. Es sind knapp 22 Milliarden Euro.

Wie klein dieser Betrag tatsächlich ist, versteht aber man erst, wenn man ihn gemeinsam mit diesen Zahlen liest: Etwa eine Viertelmillion Menschen werden in deutschen Altenpflegeheimen mit Psychopharmaka ruhiggestellt – weil kein Geld für genügend Pfleger da ist, um sie angemessen zu versorgen. Mehr als 10.000 Menschen, so viele, wie die Bewohner einer Kleinstadt, werden tagtäglich mit Gurten an ihre Betten oder Rollstühle gefesselt, ohne dass sie dem zugestimmt haben. Und fast 40.000 Heimbewohner müssen Hunger oder Durst leiden. Weil die Heime kaum Pfleger haben, die ihnen Essen anreichen könnten.

22 Milliarden Euro für die Alten. Dieses Geld muss reichen, um fast zweieinhalb Millionen Menschen zu versorgen, die so stark pflegebedürftig sind, dass sie auf Leistungen aus der Pflegeversicherung angewiesen sind. Jeder 36. Deutsche ist betroffen. Das kann nicht funktionieren. Denn rein rechnerisch sind damit für jeden Pflegebedürftigen gerade einmal rund 820 Euro pro Jahr da. Ein Wohnplatz in einem Pflegeheim für einen Bewohner in Pflegestufe 3 kostet die Kassen aber schon im Monat 1.510 Euro. Natürlich, zum Glück für die Kassen, ist nicht jeder Pflegebedürftige in diese hohe Pflegestufe eingeteilt. Und es lebt überhaupt nur etwa jeder dritte Pflegebedürftige in einem Heim. Wer zu Hause wohnt und von Angehörigen versorgt wird, entlastet das System.

Dabei haben wir in Deutschland eigentlich wenige Pflegebedürftige – jedenfalls gemessen daran, was uns in wenigen Jahren erwartet. Für das Jahr 2050 erwarten die Statistiker bis zu 4,7 Millionen Pflegefälle. Zunächst einmal ist das eine gute Nachricht, bedeutet es doch, dass wir länger leben. Bessere Medikamente, ausgefeilte Behandlungsmöglichkeiten und die moderne Notfallmedizin machen möglich, dass heute viele Menschen schwere Krankheiten überleben – Schlaganfälle, Krebsleiden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen –, an denen sie noch vor einer Generation gestorben wären. Was jedoch für die Gesellschaft eine Errungenschaft ist, bedeutet für die Volkswirtschaft eine Katastrophe. Denn der Anteil der »multimorbiden« Alten an der Bevölkerung, also derjenigen mit einer Vielzahl von Krankheiten, steigt unaufhaltsam – während die Zahl der Deutschen insgesamt schrumpft: 2050 wird es laut Statistischem Bundesamt nur noch 69 Millionen Bundesbürger statt der derzeitigen 81 Millionen geben. Dann wäre jeder 15. Deutsche ein Pflegefall.

Wie sollen sie alle versorgt werden? Stichhaltige Lösungsansätze aus der Politik gibt es dazu bisher nicht. Spätestens 2050 wird das derzeitige Finanzierungsmodell der Pflegeversicherung nicht mehr funktionieren. Das dürfte wohl schon heute jedem Politiker klar sein. Zwar weisen Politiker und Krankenkassenvertreter bei kritischen Nachfragen gebetsmühlenartig darauf hin, dass die Pflegeversicherung lediglich als Teilkaskoversicherung angelegt ist – die Deutschen sollten nicht in der Illusion leben, dass die Versicherung sie im Pflegefall voll auffängt, sondern rechtzeitig selbst sparen, um im Ernstfall gut abgesichert zu sein. Wer im Heim lebt oder von einem ambulanten Pflegedienst versorgt wird, muss im Schnitt zwei Drittel der Kosten selbst tragen.

Doch die sprunghaft steigende Zahl der Alten und Kranken drückt auch noch auf andere Weise auf die Bilanz der deutschen Sozialsysteme. Zum einen, weil ein Pflegebedürftiger weit überdurchschnittlich viele Leistungen von der Krankenversicherung in Anspruch nimmt, für Arztbesuche und Medikamente zum Beispiel. Zum anderen, weil immer mehr Alte nicht genug Geld zusammengespart haben, um selbst ihren Heimplatz zahlen zu können. Sie müssen von der Sozialhilfe aufgefangen werden – und diese Kosten zahlt wiederum der Steuerzahler.

Auf die Deutschen rollt damit eine Kostenlawine zu, wie es sie in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat. Die Lage ist so bedrohlich, dass sie sogar schon den Internationalen Währungsfonds (IWF) auf den Plan rief. Dessen Experten warnten im Frühjahr 2012 eindringlich, die Bundesrepublik und ihre sozialen Sicherungssysteme seien nicht ausreichend auf die steigende Lebenserwartung eingestellt. Bis zum Jahr 2050 drohe den Renten-, Gesundheits- und Pflegekassen des Landes eine Finanzierungslücke von bis zu zwei Billionen Euro.

Um die Dringlichkeit der Lage wissen auch Deutschlands Politiker. Bei der Bundestagswahl 2013 wird die Pflege deshalb wohl wieder einmal zu einem der bestimmenden Wahlkampfthemen avancieren – wie schon so oft zuvor. Zuletzt hatte sich die Koalition aus Union und FDP auf die Fahnen geschrieben, während ihrer Amtszeit das marode System auf gesunde Füße stellen zu wollen. Vizekanzler Philipp Rösler hatte, damals noch als Bundesgesundheitsminister, vollmundig angekündigt, das Jahr 2011 werde das »Jahr der Pflege«. Umgesetzt wurde von den Plänen nur wenig. Die angekündigte »große Pflegereform« hat nichts weiter ergeben, als dass Röslers Amtsnachfolger Daniel Bahr (FDP) ein Gesetz erarbeiten ließ, in dem kaum noch etwas übrig geblieben ist von den vielversprechenden Ankündigungen aus dem Koalitionsvertrag. Im Gesetz steht weder eine neue, überarbeitete Definition dessen, wer pflegebedürftig ist und demnach Geld aus dem Topf erhält – obwohl die Facetten dieses Themas seit Jahren auf Bundesebene wieder und wieder gewälzt werden –, noch enthält das Gesetzeswerk eine langfristige Lösung für die finanziellen Probleme des Systems. Auch die verpflichtende private Zusatzversicherung hat es in dieser Regierungsperiode wieder nicht geschafft. Das große Thema Pflegereform wurde wieder einmal im Koalitionshickhack zerrieben; kleingeredet in der immer gleichen Debatte um Lohnnebenkosten und Standortvorteile, bis die drängende Problematik, die dahintersteht, immer unschärfer wird und weiter in den Hintergrund rückt. Und selbst Pflegeexperten innerhalb der Bundesregierung haben wenig Hoffnung, dass dies in der nächsten Wahlperiode anders sein wird.

Der politische Stillstand hat damit zu tun, dass Alter und Pflegebedürftigkeit letztendlich noch immer Tabuthemen sind. Sterben wollen wir alle nicht. Und wenn es doch unvermeidbar ist, dann doch bitte bis ins hohe Alter topfit und keinesfalls pflegebedürftig oder gar geistig verwirrt. Dass die Realität radikal anders aussieht – etwa jeder Sechste über 80-Jährige ist demenzkrank, bei den über 90-Jährigen bereits jeder Dritte –, verdrängen die allermeisten erfolgreich. Mindestens so lange, bis der eigene Vater, die Mutter oder Tante zum Pflegefall wird. Kein Wunder, dass die Bereitschaft im Volk weit größer ist, Steuergelder für den Neubau von Kindergärten zu verwenden oder Arbeitsplätze defizitärer Branchen durch Subventionen zu unterstützen, als die Bereitschaft, einen größeren Teil des Arbeitseinkommens als bisher in die Pflegeversicherung einzuzahlen.

Die Zustände im deutschen Altenpflegesystem sind jedoch heute schon, mit der vergleichsweise kleinen Zahl von nur 2,34 Millionen Pflegebedürftigen, desolat, zuweilen sogar erschreckend. Wenn in den Medien über Pflegeskandale berichtet wird, geht es meist um Einzelfälle: Heimbewohner, die von Pflegern misshandelt werden, mit Schlägen traktiert, vielleicht sogar daran sterben. Im Zentrum der Kritik – und in der juristischen Verantwortung – steht dann meist überfordertes Pflegepersonal, das sich nicht mehr anders zu helfen wusste. Manchmal muss auch einmal ein Heimleiter, der seinen Mitarbeitern zu viel abverlangte, den Hut nehmen.

Tatsächlich sind solche Skandale jedoch keineswegs Einzelfälle, und sie entstehen in der Regel nicht wegen des Versagens einzelner Pflegekräfte. Sie sind im System angelegt. Denn die Pflegeindustrie, die pro Jahr rund 30 Milliarden Euro umsetzt und stärker wächst als jeder andere Bereich innerhalb der Gesundheitsbranche, will Geld verdienen. Sie besteht aus vielen Anbietern, vom winzigen ambulanten Pflegeservice bis zur bundesweiten Altenheimkette, vom katholischen Betreiber bis zum Privatanbieter in der Hand von Finanzinvestoren. Doch alle haben ein gemeinsames Ziel: Gewinnmaximierung. Eine privatwirtschaftliche Pflegekette muss Gewinne abwerfen, weil ihre Investoren dies fordern, und eine kirchliche Einrichtung braucht Überschüsse, um davon ihre wohltätigen Einrichtungen finanzieren zu können, von der Drogenberatung über die Kleiderkammer und die Schwangerenkonfliktberatung bis zur Suppenküche.

Grundsätzlich ist das auch legitim. Wer keine Gewinne erwirtschaf­tet, hat keinen Anreiz, ein Pflegeheim zu betreiben. Ohne den Privatsektor, der momentan knapp 40 Prozent aller deutschen Pflege­heime betreibt, Tendenz steigend, gäbe es eine drastische Unter­versorgung an Heimplätzen. Wie groß der Mangel früher einmal war, zeigt die Entwicklung der vergangenen zehn Jahre. In dieser Zeit ist die Zahl der stationären Wohneinrichtungen für Pflegebedürftige um 18 Prozent auf 11.600 Einrichtungen gestiegen, die Zahl der ambulanten Dienste um 14 Prozent. Doch selbst heute ist der Bedarf an stationären Pflegeplätzen längst nicht gedeckt. Allein innerhalb der nächsten acht Jahre werden bundesweit 2.000 zusätzliche Pflegeheime benötigt, schätzt die Unternehmensberatung Ernst & Young. Eine enorme Summe. Zusätzlich werden in den nächsten Jahren massive Investitionen notwendig sein, um solche Heime zu modernisieren, die schon seit Jahrzehnten bewohnt werden und mittlerweile baufällig geworden sind. Etwa jede dritte Einrichtung ist laut der Befragung der Heimbetreiber sanierungsbedürftig. Das Geld dafür soll von sogenannten institutionellen Investoren kommen, also Banken, Versicherungen und Fondsgesellschaften, und letztendlich von Privatleuten, bei denen diese das Geld einsammeln.

Das Problem: Anders als bei Autobauern oder Zahnpastaproduzenten ist der Käufer in der Pflegebranche nicht der Privatkunde, der durch immer bessere Angebote dazu verführt werden kann, stetig mehr Geld für die Dienstleistungen auszugeben. Stattdessen stehen auf der Zahlerseite das klamme System der sozialen Pflege- und der Krankenversicherung und die ebenso gebeutelten Sozialämter der Kommunen. Auf dem Markt kann keine freie Preisbildung stattfinden, bei der automatisch die beste Leistung zur größten Nachfrage führt. Stattdessen bestimmen Kommunen und Pflegekassen in ihren Verhandlungen mit den Heimbetreibern und den ambulanten Pflegediensten, wie viel Geld welcher Anbieter von Pflegedienstleistungen aus den öffentlichen Kassen bekommt. Da diese jedoch chronisch leer sind, sind die Verhandlungsführer der öffentlichen Hand bei den sogenannten Pflegesatzverhandlungen dankbar für solche Anbieter, die Pflegebetten so günstig wie möglich zur Verfügung stellen können. Das führt immer häufiger dazu, dass bei den Qualitätskontrollen eben jener Betreiber schon mal ein Auge zugedrückt wird.

Die Heimbetreiber und Pflegedienste müssen kreativ sein, um unter diesen Bedingungen rentabel arbeiten zu können. Leider bleibt dabei so manches Mal der Pflegebedürftige auf der Strecke.

Der Rohstoff, aus dem Altenheimbetreiber und ambulante Pflegedienste ihre Gewinne generieren, sind Menschen. Einerseits die Pflegebedürftigen in den Heimen, andererseits die angestellten Altenpfleger. Beiden kann es schlecht ergehen, wenn sie an die falsche Einrichtung geraten. Die einen werden stundenlang in ihrem Urin liegengelassen oder liegen sich wund, weil die Pfleger keine Zeit für sie haben. Die anderen müssen über die Gänge hetzen, um ihrer Aufgabe auch nur halbwegs gerecht werden zu können und sind nach nur wenigen Dienstjahren völlig resigniert und ausgebrannt. Heute arbeiten bundesweit rund 900.000 Pfleger in Heimen und in der ambulanten Pflege. Altenpfleger stehen im öffentlichen Ansehen ganz unten. In den Beliebtheitsumfragen der großen Meinungsforschungsinstitute landet der Beruf in der Regel auf einem der letzten Plätze. Doch nicht nur das Ansehen ist schlecht, sondern auch die Bezahlung. Eine im Altenheim angestellte Fachkraft kommt laut Tarifvertrag auf rund 1.800 Euro brutto im Monat. Im ambulanten Pflegedienst sind die Löhne oft weit geringer. Natürlich macht die schlechte Bezahlung den Beruf unattraktiv – mit der Folge, dass in Zukunft ein massiver Fachkräftemangel droht.

Doch die Löhne sind bei Weitem nicht das einzige Problem der Berufsgruppe. Kaputter Rücken, Depressionen, chronische Kopfschmerzen und andere Krankheitsbilder sind unter Altenpflegern laut Krankenkassenstatistiken weit stärker verbreitet als in den meisten anderen Berufen. Dies wiederum ist nach Aussage von Pflegeforschern eine Folge der stetigen Überforderung. Die Personaldecke ist häufig sehr dünn gestrickt. Die Krankenstände und die Fluktuation sind gleichzeitig so hoch, dass die meisten Pfleger ständig mehr arbeiten müssen, als in ihrem Arbeitsvertrag steht. Eine Überforderung ist programmiert – die sich auf dem Rücken der Pflegebedürftigen entlädt.

Zur »gefährlichen Pflege«, bei der aus Personalmangel die Unversehrtheit der Pflegebedürftigen nicht mehr gewährleistet werden kann, scheint es besonders häufig dann zu kommen, wenn die Gewinnerwartungen der Investoren zu groß sind und langfristige Planungen im Pflegebetrieb eine untergeordnete Rolle spielen. Kein Wunder, dass angesichts solcher Missstände im Pflegesystem viele Menschen Angst vor dem haben, was sie erwarten könnte. Zwei Drittel der Deutschen fürchten sich davor, im Alter gepflegt werden zu müssen. Bei den über 60-jährigen Befragten sagten dies sogar fast 80 Prozent. Je höher das Einkommen, ergab die Studie des Marktforschungsinstituts Allensbach, desto geringer sei, so die wenig überraschende Erkenntnis, die Angst, im Alter zum Pflegefall zu werden.

Dass das deutsche Pflegesystem derart anfällig für Pflegeskandale ist, liegt zum großen Teil an grundlegenden Konstruktionsfehlern. Darunter ist das bislang dreistufige System der Pflegestufen – Stufe 1 ist die niedrigste, 3 die höchste –, in dem es kaum Anreize für Heime und Pflegedienste gibt, die Senioren so lange wie möglich in ihrer Selbstständigkeit zu unterstützen oder diese wieder herzustellen; das lückenhafte System der Qualitätskontrolle, bei dem sich Prüfer vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) und der staatlichen Heimaufsichten vor Kontrollbesuchen oft noch immer anmelden – und das diesen Aufsichtsorganen keinerlei Kontrolle über die behandelnden Ärzte erlaubt; und nicht zuletzt die strengen Datenschutzbestimmungen von Heimaufsichten und Pflegekassen, die dazu führen, dass Öffentlichkeit, Angehörige und sogar die Heimbewohner selbst nur in Ausnahmefällen davon erfahren, wenn in der eigenen Seniorenresidenz schwerste Pflegemängeln festgestellt werden.

Muss man also tatsächlich Angst vor der eigenen Pflegebedürftigkeit haben? Kann man Mutter oder Vater guten Gewissens in eine stationäre Pflegeeinrichtung einziehen lassen – oder von einem ambulanten Pflegedienst betreuen lassen? Dieses Buch fühlt den Problemen des Pflegesystems auf den Zahn – und versucht all jene, die sich im Dickicht des deutschen Pflegedschungels zurechtfinden müssen, hellhörig zu machen für Fallstricke und Gefahren, die auf dem Weg lauern. In der Hoffnung, dass sich gute Pflege gegen solche, die nur abzocken will, auf lange Sicht durchsetzen kann.