Steven Reiss
Wer bin ich und was will ich wirklich?
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ISBN 978-3-86414-343-4
3. Auflage 2016
© 2009 by Redline Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH, München.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2000 bei Penguin Group, USA unter dem Titel
Who am I?
Copyright © 2000 by Steven Reiss, Ph.D.
Diese Ausgabe wurde mithilfe von Jeremy P. Tarcher, Penguin Group (USA), Inc., publiziert.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Almuth Braun, Utting
Redaktion: Isabel Lamberty-Klaas, Utting
Umschlaggestaltung: Thomas Uhlig, www.coverdesign.net
Satz: Manfred Zech, Landsberg am Lech
Druck: Konrad Triltsch, Ochsenfurt
Printed in Germany
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Für Mike und Ben
Inhalt
Vorwort der Reiss Profile Germany GmbH
Einleitung
Teil I: Die Lebensmotive, die unserem Leben einen Sinn geben
Kapitel 1: Was ist ein Lebensmotiv?
Kapitel 2: Warum mein Hund Socken sammelt
Kapitel 3: Warum Kinder und Elefanten Sie nass spritzen
Kapitel 4: Warum eine Sekretärin unter Höhenangst litt
Kapitel 5: Jeder Mensch ist anders
Kapitel 6: Ich verstehe dich nicht – und du mich auch nicht
TEIL II: Wie sich die persönlichen Lebensmotive erfüllen lassen
Kapitel 7: Wertebasiertes Glück
Kapitel 8: Wie Beziehungen wachsen
Kapitel 9: Wie Arbeit zu einem Vergnügen wird
Kapitel 10: Die Familie bietet alles
Kapitel 11: Warum mein Vater ein Fan des Baseballteams New York Mets war
Kapitel 12: Die wissenschaftliche Untersuchung der menschlichen Seele
Nachwort
Anhang
Literaturverzeichnis
Anmerkungen
Stichwortverzeichnis
Über den Autor
Vorwort der Reiss Profile Germany GmbH
Persönlichkeit ist etwas Einzigartiges. Zu verstehen, was sie begründet, beschäftigt Menschen seit jeher. Dabei geht es um die wesentlichen Aspekte des Seins und um die Frage: Wer bin ich und was will ich wirklich?
Das Reiss Profile gibt hier eine eindeutige Antwort, indem es die grundlegenden Motive, Werte und Ziele analysiert, die unser Leben von innen her bestimmen. Die Methode zeigt anhand genetisch und frühkindlich geprägter Lebensmotive die Wertewelt einer Person und deckt ihre maßgeblichen Persönlichkeitsmerkmale auf. Mit Hilfe dieser Erkenntnisse verstehen wir nicht nur den Ursprung von Wahrnehmungen und Handlungen, sondern auch, was den Einzelnen von anderen unterscheidet und einmalig macht.
In seinem hier vorliegenden Standardwerk der 16 Lebensmotive fasst Professor Dr. Steven Reiss seinen persönlichkeitsorientierten Ansatz und das darauf aufbauende Testverfahren zusammen. Prinzipiell gilt: Die 16 Lebensmotive prägen die Persönlichkeit eines jeden Menschen. Ihre unterschiedliche Ausprägung lässt ein individuelles Motivprofil entstehen, das Auskunft darüber gibt, was jemandem wichtig ist und was er wirklich will. Dies ist zugleich die Leistungsplattform, die entscheidende Anhaltspunkte für die Gestaltung des Lebens – entlang der eigenen Persönlichkeit – gibt.
Die individuelle Motiv- und Antriebsstruktur wird über das Reiss Profile-Testverfahren ermittelt. In Training, Coaching und Personalentwicklung eingesetzt, ist es ein nützliches Werkzeug, um ein gemeinsames Verständnis dafür zu entwickeln, wie Menschen „ticken“ und worin sie sich unterscheiden. Auf dieser Basis lassen sich sowohl Konflikt- als auch Leistungspotenziale von Individuen und Gruppen identifizieren und bearbeiten. Das Ergebnis ist eine aktive Selbststeuerung und nachhaltige Leistungsentfaltung der Beteiligten.
Als exklusive Lizenznehmer des Reiss Profile in Deutschland und in ausgewählten Ländern Europas sind wir leidenschaftliche Anwender und Vertreter dieses Ansatzes. Zudem stellen wir die Ausbildung und Fortbildung der Reiss Profile Master und Instructoren nach internationalen Standards sicher. Die Methode hat sich in zahlreichen Unternehmen, im Leistungssport und bei Klienten im deutschen und europäischen Markt etabliert, für die wir kontinuierlich neue Anwendungen entwickeln. Viele erfolgreiche Coaching- und Beratungsprozesse sowie die durchweg positiven Rückmeldungen von Kunden und Reiss Profile Mastern bestätigen uns die Wirkweise und Effizienz dieses wertvollen Instruments.
Wir freuen uns, dass Stevens Buch nun auch in deutscher Sprache vorliegt und empfehlen es allen, die ihren Horizont um eine neue Betrachtungsweise und Methode aus der Motivationsforschung erweitern möchten. Das Werk vermittelt den Ansatz allgemeinverständlich und ist ein Plädoyer für Selbstakzeptanz, Respekt und Toleranz. Wohl wissend, dass kein Persönlichkeitsmodell es vermag, das Wesen eines Menschen exakt oder absolut zu erfassen, vertreten wir die Meinung, dass das Reiss Profile ein einzigartiges Instrument darstellt, da es Tiefe, Präzision und eine nachvollziehbare Reduzierung der Komplexität erreicht. Durch den bewussten Umgang mit seinen Erkenntnissen gelingt es, sich selbst und andere aus ihrer Persönlichkeit heraus zu verstehen und wertzuschätzen.
Berlin, im Mai 2009
Peter Boltersdorf, John J.M Delnoy, Thomas Staller
Reiss Profile Germany GmbH
www.reissprofile.eu
Einleitung
Manchmal sind wir von unserem Alltag so in Anspruch genommen, dass wir das Gesamtbild aus den Augen verlieren und vergessen, uns zu fragen, wer wir eigentlich sind und was wir im Leben anstreben. Wir arbeiten, ziehen unsere Kinder groß und erfüllen vielfältige Pflichten. Oft bedarf es erst eines einschneidenden Ereignisses, wie zum Beispiel einer lebensbedrohlichen Erkrankung, des Todes eines geliebten Menschen oder einer großen beruflichen Veränderung, damit wir über den Sinn unseres Lebens nachdenken. Wenn wir mit einer Tragödie konfrontiert werden, betrachten wir unser bisheriges Leben, überlegen, was wir hätten anders machen können, und fragen uns, welchen Sinn das alles hat. Erst in diesem Moment wird uns klar, was wir uns am meisten wünschen. Dann lernen wir uns selbst kennen und stellen fest, was uns wirklich wichtig ist.
Das war zumindest die Erfahrung, die ich im Jahr 1995 machte, als bei mir eine lebensbedrohliche Erkrankung diagnostiziert wurde. Das Ganze kam für mich völlig unerwartet. Anfangs, als ich mich ständig müde und erschöpft fühlte, dachte ich noch, es handele sich um eine Grippe, die in wenigen Tagen wieder vorbei wäre. Die Müdigkeit hielt jedoch an und so suchte ich schließlich einen Arzt auf. Er schleuste mich mit zunehmender Dringlichkeit durch immer neue Untersuchungen. Da ich als Professor an der Ohio State University of Medicine tätig war, war es für mich ein Leichtes, mich auf Abruf den angeordneten Untersuchungen zu unterziehen.
Nach einer radiologischen Untersuchung auf potenzielle Leberprobleme erschien ein junger Arzt in einem Laborkittel und sagte: »Sie brauchen eine neue Leber.« Ich fragte ihn, ob die Entfernung der eigenen Leber und die Transplantation einer fremden Leber überhaupt Überlebenschancen böten. »Das ist inzwischen Routine«, antwortete er. »Ihre Überlebenschance beträgt 90 Prozent.« Die Botschaft, dass das Risiko, die Transplantation nicht zu überleben,»nur« bei 10 Prozent lag, klang irgendwie beruhigend, also fragte ich ihn, wann der Eingriff stattfinden würde. »In ein paar Monaten«, sagte er mit einem Lächeln. »Aber verfallen Sie nicht in Selbstmitleid. Ich musste heute schon mehreren Patienten mitteilen, dass sie sterben werden. Sie haben zumindest eine Chance.«
Nachdem ich mit von diesem Schock erholt hatte, holte ich ein zweites und drittes ärztliches Gutachten ein und beschäftigte mich mit der Lektüre über Lebertransplantationen. Die zusätzlichen ärztlichen Gutachten bestätigten nicht nur, dass ich tatsächlich eine neue Leber brauchte, sondern deuteten überdies darauf hin, dass ich möglicherweise an Gallenkrebs litt. Gallenkrebs ist ein Todesurteil.
Was für eine Hiobsbotschaft! Ich versuchte, meine Situation möglichst objektiv zu betrachten, um mein weiteres Vorgehen zu planen. Ich hatte eine Vielzahl von Meinungen qualifizierter Fachärzte eingeholt, die zahlreiche Tests durchgeführt hatten. Und alle kamen zu demselben Schluss – Fehldiagnose ausgeschlossen. Die seltene Autoimmunerkrankung, an der ich litt, war nach übereinstimmender Aussage der Fachleute tödlich, wenn sie unbehandelt blieb, wobei die Behandlung genauso riskant war wie eine Lebertransplantation. Darüber hinaus hatte ich überhaupt keine Chance, wenn sich die dunklen Flecken auf den Aufnahmen tatsächlich als Gallenkrebs erweisen sollten. Ich hatte also ein Riesenproblem.
Eines Sonntags besuchte mich meine Frau im Krankenhaus und bemerkte, dass sich meine üblicherweise gelbliche Gesichts- und Hautfarbe (als Folge meines zunehmenden Leberversagens litt ich unter Gelbsucht) ins Grünliche verändert hatte. Sie rief eine Krankenschwester, die feststellte, dass meine Körpertemperatur über 39,5 Grad lag und weiter stieg. In dem Wissen, dass die grünliche Hautfarbe eine Ursache haben musste, rief sie den diensthabenden Stationsarzt, der mich ansah, als habe er einen Geist vor sich. Selbst der Dümmste hätte an seinem verzerrten Gesichtsausdruck ablesen können, dass mein Zustand nichts Gutes verhieß. »Wie ernst ist meine Situation?«, fragte ich. »Sie ist lebensbedrohlich«, antwortete er. Meine Temperatur war auf über 40 Grad gestiegen. »Sie sprechen hier mit einem Professor eines medizinischen Ausbildungsinstitut «, warnte ich ihn. »Wenn Sie mein Leben nicht retten, dann müssen Sie dem Dekan beibringen, dass niemand meine Studenten unterrichten und die aus Fördermitteln bezahlte Forschungsarbeit zu Ende führen wird. Also senken Sie bitte mein Fieber.«
Glücklicherweise verschlechterte sich mein Zustand nicht weiter. Als ich einige Stunden später aufwachte, war meine Temperatur auf 39 Grad gesunken und meine Hautfarbe hatte wieder ihre übliche gelbliche Tönung angenommen. Trotzdem musste ich weitere neun Tage im Krankenhaus verbringen, um ganz sicherzugehen, dass die Infektion vollständig abgeklungen war. So hatte ich viel Zeit, über den Sinn des Lebens nachzudenken.
Im Angesicht des Todes versuchen wir zu verstehen, was mit uns geschieht. Wir suchen nach einem Sinn und beginnen, uns psychologisch auf den Tod vorzubereiten. Ich begann mein Schicksal zu akzeptieren, bis mir die ganze Tragweite der Auswirkungen auf die Beziehung zu meinen Kindern bewusst wurde. Meine Frau und ich hatten erst sehr spät Kinder bekommen und mein älterer Sohn war noch nicht einmal auf der Highschool. Als ich erkannte, dass meine Söhne mich vielleicht eines Tages brauchen würden, ich aber nicht mehr da wäre, um ihnen zu helfen, war der Tod keine Option mehr. Ich beschloss, zu leben. Egal welche medizinischen Torturen damit verbunden waren: Ich würde nach jedem Strohhalm greifen, um zu überleben.
Nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus ging ich in die Bibliothek, um mehr über meine Erkrankung zu lesen, und beriet mich mit zahlreichen Forschern. Dabei stieß ich auf einige neue, allerdings noch im experimentellen Stadium befindliche Behandlungsformen für meine Autoimmunerkrankung. Ich wählte mit größter Sorgfalt eine dieser Methoden aus und meldete mich sofort für die Behandlung an. Nach sechs Monaten begann sich meine Leberfunktion allmählich zu normalisieren.
Das Lustprinzip
Ich erinnere mich an meine persönliche Erfahrung, weil sie mich dazu veranlasst hat, darüber nachzudenken, was meinem Leben wirklich einen Sinn verleiht. Das wiederum war der Zündfunke für die Untersuchungen, welche die Grundlage dieses Buches bilden. Viele Forschung betreibende Psychologen sind davon ausgegangen, dass das menschliche Verhalten von dem Wunsch geleitet wird, sich wohlzufühlen – was ich als Lustprinzip bezeichne. Dieses Prinzip besagt, dass Menschen in erster Linie darauf bedacht sind, ihr Wohlbefinden zu steigern und Schmerzen zu vermeiden. Der einflussreiche Sozialpsychologe N. M. Bradburn hat gesagt, die Qualität des Lebens eines Menschen lasse sich daran bemessen, ob die positiven Gefühle die negativen Gefühle überwiegen.1 Laut Bradburn sind wir glücklich, wenn wir mehr positive als negative Gefühle haben, und unglücklich, wenn die negativen Gefühle dominieren.
Das Lustprinzip besagt, dass sich alle Handlungen eines Menschen durch die Berechnung von Freude und Leid erklären lassen. Es geht davon aus, dass Menschen Optimismus dem Pessimismus vorziehen, weil Optimismus ein größeres Wohlbefinden verursacht. Deswegen sehen sich Menschen auch lieber Filme mit einem Happyend an als solche mit einem traurigen Ende, auch wenn das Happyend im Einzelfall unrealistisch sein mag. Wie erklärt dieses Prinzip den Umstand, dass viele Menschen im Job langweiligen Tätigkeiten nachgehen? Es geht davon aus, dass eine solche Arbeit das geringere von zwei Übeln darstellt, weil für diese Menschen Arbeitslosigkeit voraussichtlich noch viel unangenehmer wäre als ihre derzeitige Tätigkeit.
Die Verfechter des Lustprinzips – auch Hedonisten genannt –, vertreten die These, die Natur bediene sich der Phänomene Freude und Schmerz, um uns dazu zu veranlassen, das zu tun, was für unsere Gesundheit und unser Überleben wichtig ist. Zum Beispiel löst die Natur bei uns ein Hungergefühl aus, um uns mitzuteilen, dass wir etwas essen müssen, und Durst als Signal, dass wir unserem Körper Flüssigkeit zuführen müssen. Da beide Gefühle – Hunger und Durst – unangenehm sind, werden wir dazu motiviert, zu essen und zu trinken, wenn unsere Gesundheit und unser Überleben dies erfordern.
Wenn also jeder Mensch darauf bedacht ist, sein Wohlbefinden zu steigern und Schmerzen zu vermeiden, warum verbringen Workaholics dann so wenig Zeit damit, sich zu entspannen, das Familienleben zu genießen oder Urlaub zu machen? Der Theorie des Lustprinzips zufolge liegt das daran, dass diese Menschen ihre Arbeit über alles lieben und sich rastlos fühlen, wenn sie nicht arbeiten können. Die Verfechter der Lustprinzip-Theorie argumentieren, Workaholics täten tatsächlich das, was ihnen ein Maximum an positiven Empfindungen beschere beziehungsweise negative Empfindungen minimiere.
Ist das Bedürfnis nach Wohlbefinden das Einzige, was uns antreibt? Sind Freude und Schmerzen die ultimativen Kräfte, die unser Verhalten bestimmen? Auch wenn zahlreiche Forscher diese Frage mit »Ja« beantworten, behaupte ich, dass die Antwort »Nein« lautet. Ich glaube, dass das Verhalten eine Bedeutung und einen Wert hat, die über Freude und Schmerzen hinausgehen. Den ausgiebigen Untersuchungen zufolge, deren Ergebnisse ich in diesem Buch vorstelle, lassen sich Sinn, Wert und Lebenszweck nicht allein durch Freude und Schmerzen erklären.
Als ich mit meiner lebensbedrohenden Erkrankung konfrontiert war, dachte ich bei der Entscheidung über mein weiteres Vorgehen nicht viel über die Schmerzen nach, die ich vielleicht würde durchleiden müssen. Stattdessen ließ ich mich von meinem Verantwortungsgefühl gegenüber meinen Kindern leiten. Wenn Eltern ihren Kindern helfen, geht es ihnen nicht um ihr eigenes Wohlergehen, sondern um das ihrer Kinder. Zwar freuen sich Eltern, wenn es ihren Kindern gut geht, aber das heißt nicht, dass Eltern ihren Kindern aus eigennützigen Gründen helfen oder dass sie die Freuden der Elternschaft spüren wollen.
Als ich im Krankenhaus lag, versuchte ich eines Morgens, die menschlichen Verhaltensweisen ausschließlich aus dem Blickwinkel zu betrachten, ob sie einem Menschen Freude oder Schmerz einbrachten. Als die Krankenschwester kam, um meine Temperatur zu messen, fragte ich mich, warum sie nicht etwas tat, das ihr mehr Freude bereitete. Wenn Spaß und Wohlbefinden die einzigen Ziele unseres Verhaltens wären, wie die Verfechter der Lustprinzip-Theorie behaupten, wer würde dann in einem Krankenhaus arbeiten wollen? Krankenhäuser sind angefüllt mit Menschen, die krank sind oder sterben. Spätvormittags bekam ich oft mit, wie Patienten nach der Operation aufwachten und vor Schmerzen schrien. Wenn ihr eigenes Wohlbefinden das Einzige ist, was eine Krankenschwester antreibt, stellt sich die Frage, warum sie sich nicht einen angenehmeren Arbeitsplatz sucht; schließlich können Krankenschwestern auch woanders arbeiten als in einem Krankenhaus.
Soldaten, die ihr Leben opfern, haben höhere Ziele als den selbstsüchtigen Wunsch nach Wohlbefinden. Der Gefreite George Philips hielt am 14. März 1945 auf der Insel Iwo Jama Wache. Während seine Kameraden nach einem Tag schwerer Kämpfe schliefen, flog plötzlich eine feindliche Handgranate in das Lager. Der Soldat George Philips warf sich auf die Granate, um die Explosion zu dämpfen und das Leben seiner Kameraden zu retten. Aufgrund seiner Tapferkeit wurde ihm posthum die Ehrenmedaille Congressional Medal of Honor für besondere Tapferkeit im Kampfeinsatz verliehen. Ich nehme an, die Vertreter der Lustprinzip-Theorie könnten sagen, er habe lediglich versucht, ein Leben in Schuldgefühlen zu vermeiden, weil er andernfalls hätte zusehen müssen, wie seine Kameraden sterben. Aber eine derartige Erklärung erscheint mir sehr konstruiert und somit wenig überzeugend. Ich glaube, es ist wesentlich einfacher und zutreffender, davon auszugehen, dass sein Bedürfnis nach Ehre die Entscheidung des Gefreiten George Philips bestimmt hat, sein Leben zu opfern. Es war seine Pflicht, Wache zu halten und seine Kameraden zu schützen, und genau das tat er. Sein Opfer hatte einen Sinn und war kein versteckter Versuch, sich Wohlbefinden zu verschaffen.
Je mehr ich über diese Frage nachdachte, desto mehr wuchs meine Überzeugung, dass Freude und Schmerzen unser Verhalten nicht halb so stark beeinflussen, wie viele Psychologen annehmen. Freude ist ein Nebeneffekt der Erfüllung unserer Bedürfnisse und kein Ziel an sich. Das Ziel, Wohlbefinden zu empfinden, weckt in einer Krankenschwester nicht den Wunsch, Patienten zu helfen; vielmehr ist es der Altruismus, der sie dazu veranlasst, Opfer für ihre Patienten zu bringen. Nicht das Ziel, Schuldgefühle zu vermeiden, weckt in einem Soldaten den Wunsch, sein Leben für das Wohl seines Vaterlandes zu opfern; vielmehr ist es die Ehre, die ihn dazu veranlasst, sich zu opfern.
Wenn Menschen mit dem Tod konfrontiert werden und nach dem Sinn in ihrem Leben suchen, konzentrieren sie sich auf ihre Spiritualität, ihre Familie, ihre Beziehungen, ihre Leistungen und Ideen. Bei der abschließenden Bilanz über die Dinge, die in unserem Leben wirklich zählen, spielen Freude und Schmerzen keine so große Rolle. Das können Sie erkennen, wenn Sie sich mit philosophischer Lektüre befassen und die logischen Fehler im Hedonismus erkennen (die Schlussfolgerung, dass Wohlbefinden unser Verhalten motiviert, weil es die universelle Konsequenz der Bedürfnisbefriedigung darstellt), aber auch durch Selbstreflexion und persönliche Erfahrungen.
Als ich das Krankenhaus verließ, war ich nicht nur entschlossen, meine Lebererkrankung zu besiegen, sondern auch, eine neue Theorie über die menschlichen Bedürfnisse und Lebensmotive zu entwickeln, die auf Sinnstiftung statt auf Freude und Wohlbefinden basiert. Als Leiter des Nisonger Center an der Ohio State University und Experte in klinischer und Persönlichkeitspsychologie beschloss ich, eine Studie über die menschliche Motivation durchzuführen.
Die historische Entwicklung
Wenn es nicht Freude und Leid sind, die unser Verhalten bestimmen, was ist es dann? Was ist uns wirklich wichtig? Laut Platon (427 – 347 v. Chr.) ist das Bedürfnis nach Wahrheit (Neugier) eine der treibenden Kräfte im Leben und Weisheit eine der größten intrÖffentlicher Ansporn mitteilung mit der Information insischen Freuden.2 Platon entwickelte die Vision einer idealen Welt der ewigen und unwandelbaren Wahrheiten; wenn wir diese ewigen Ideale entdecken, erfahren wir die Freude des Lernens. Platon legte außerdem großen Wert auf Vernunft, moralische Pflicht und Dienst an der Öffentlichkeit.3
Sigmund Freud (1856–1939) vertrat eine ganz andere Sicht der menschlichen Motivation. Seiner Auffassung nach wollen Menschen von der Wiege bis zum Totenbett nichts anderes als Sex, Sex und noch mehr Sex. Der Grund, warum wir das nicht erkennen, so Freud, ist, dass viele unserer sexuellen Motive im Unterbewusstsein angesiedelt sind, was bedeutet, dass sie nicht ohne überwältigende Gefühle der Angst, Schuld und Peinlichkeit ausgelebt werden können. Später modifizierte Freud seine Theorie und vertrat die These, neben Sex sei außerdem die Aggression eine maßgebliche Triebkraft für unser Verhalten.
Wenn Sie weder Freud gelesen haben noch in den Genuss gekommen sind, die persönliche Bekanntschaft eines Psychoanalytikers der alten Schule zu machen, ist Ihnen wahrscheinlich nicht bewusst, wie ernst diese Experten die psychologische Bedeutung von Sex nahmen. Freud war von dessen Bedeutung so beeindruckt, dass er dem sexuellen Verlangen sogar einen neuen Namen gab: Libido. Er schrieb, für das Unterbewusstsein symbolisiere ein Bleistift einen Penis und eine Schachtel eine Vagina.4 Außerdem war Freud der Begründer des Ödipus-Komplexes – eine Theorie, die besagt, dass ein vier bis fünf Jahre alter Junge mit seiner Mutter schlafen will. Und er glaubte, junge Mädchen litten an einem Minderwertigkeitskomplex, den er als »Penisneid« bezeichnete. Als ich Psychologiestudent in Yale war, hörte ich eine Vorlesung von John Dollard, der zu jener Zeit zu den weltbesten Psychoanalytikern zählte. Egal was wir sonst mit unserem Leben vorhatten, so riet uns Dollard, sollten wir auf jeden Fall dafür sorgen, dass wir genügend Sex hätten. Er bekniete uns, auf seinen Rat zu hören, andernfalls würden wir Neurosen entwickeln. Da er vor lauter jungen College-Studenten sprach, hatte Dollard keinerlei Mühe, sein Publikum von der Bedeutung seiner Theorie zu überzeugen.
Viele Psychologen der Generation von Sigmund Freud sowie der Folgegenerationen schlossen sich zahlreichen seiner Theorien an, vertraten jedoch unterschiedliche Auffassungen, was die Bedeutung der sexuellen Motivation betrifft. Carl Jung (1875–1961) zum Beispiel war der Überzeugung, der Lebenswille – eine allgemeine Lebenskraft – sei der größte menschliche Motivator. Alfred Adler (1870–1937) schrieb über das Bedürfnis nach Überlegenheit und Macht.5 Erik Erikson (1902–1994) entwickelte eine Theorie der Ego-Entwicklung, die sich auch ungefähr als Bedürfnis nach menschlicher Entwicklung bezeichnen lässt.6
Verschiedene Schulen des Behaviorismus haben unterschiedliche Sichtweisen über die Frage zum Ausdruck gebracht, was Menschen motiviert. Clark Hull (1884–1952) und Kenneth Spence (1907–1967) entwickelten ein einflussreiches Verhaltensmodell, das die menschlichen Motive als eine Reihe erlernter und nicht erlernter Triebe beschreibt, so wie der Esstrieb bei Hunger oder der Drang, Angstgefühle loszuwerden.7 Dieser Ansatz legte einen größeren Schwerpunkt auf die stimulierende Funktion der Motive als auf die Rolle spezifischer Motive, die Menschen dazu bringen, ein bestimmtes Ziel eher zu verfolgen als ein anderes. Die Hull-Spence-Theorie übte in der Zeit von 1950 bis 1970 einen enormen Einfluss aus.
B. F. Skinner (1904–1990), ein weiterer führender Vertreter des Behaviorismus, drängte Psychologen, sie sollten der Entdeckung der grundlegenden Motive, die unser Leben bestimmen, weniger Aufmerksamkeit schenken. Skinner glaubte, alle Motive, Gedanken und Gefühle (einschließlich Freude und Schmerz) seien privater Natur. Ihm zufolge wissen nur Sie selbst, welches Ihre Motive sind, und wenn Sie uns diese nicht mitteilen, können wir darüber nur Vermutungen anstellen.8 Da sich die Motive eines Menschen nicht mit wissenschaftlicher Gewissheit feststellen lassen, so argumentierte Skinner, sollten Psychologen ihnen keine Beachtung schenken. (Wenn Ihr Ehepartner aufgehört hat, sich für Ihre Motive, Gedanken und Gefühle zu interessieren, liegt das vielleicht daran, dass er oder sie zum Verhaltenstheoretiker mutiert ist.)
Carl Rogers (1902–1987) sagte, Menschen seien mehr oder weniger von zwei Bedürfnissen beziehungsweise Grundmotiven getrieben: dem Bedürfnis zu wachsen und sich weiterzuentwickeln – auch als Selbstverwirklichung bezeichnet – und dem Bedürfnis nach Selbstakzeptanz.9 Seiner Ansicht nach liegt der Schlüssel zum Glücklichsein darin, sein Leben im Einklang mit den eigenen Werten zu leben. Wenn Menschen etwas tun, das nicht zu ihren Werten passt, dann verlieren sie den Respekt vor sich selbst, hören auf, sich weiterzuentwickeln, und werden unglücklich. Rogers Theorie stellte einen neuartigen Versuch dar, einen Großteil der Dinge, die für uns einen Sinn haben, auf einige wenige übergeordnete Motive zu reduzieren.
Der großartige amerikanische Psychologe, Philosoph und Pädagoge William James (1842–1910) und der brillante Harvard-Sozialpsychologe William McDougall (1871–1938) waren der Überzeugung, das Verhalten sei von instinktiven Bedürfnissen gesteuert. In seinem monumentalen Werk The Principles of Psychology liefert James die folgende Liste grundlegender instinktiver Bedürfnissen:10
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das Bedürfnis, zu sammeln und zu horten |
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das Bedürfnis, etwas zu errichten und zu erreichen |
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das Bedürfnis, zu erforschen und zu lernen |
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das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit |
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das Bedürfnis, Kinder großzuziehen |
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das Bedürfnis, Nahrung zu finden |
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das Bedürfnis nach Reinlichkeit und Organisation |
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das Bedürfnis nach Spaß |
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das Bedürfnis nach Fortpflanzung |
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das Bedürfnis, Ausgrenzung zu vermeiden |
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das Bedürfnis, aversive Gefühle zu vermeiden |
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das Bedürfnis nach Beziehungen |
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das Bedürfnis nach Aggression |
McDougall erweiterte diese Liste und arbeitete sie weiter aus.11 Gemeinsam erkannten James und McDougall, dass das menschliche Bedürfnis viele Facetten hat. Sie widerstanden der Versuchung, alle Aspekte auf ein oder zwei Supermotive zu reduzieren, wie Freud es mit dem Sex- und Aggressionstrieb tat oder Adler mit dem Bedürfnis nach Überlegenheit. James und McDougall waren die ersten einflussreichen Psychologen, die eine umfassende Theorie über die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse und Lebensmotive entwickelten.
Nach James’ Ableben im Jahr 1910 traf McDougall auf den Widerspruch sowohl der Verhaltenstheoretiker als auch der Psychoanalytiker. Erstere lehnten McDougalls These ab, Bedürfnisse seien erblich; sie hielten Bedürfnisse für erlernt. Die Psychoanalytiker, die das menschliche Verhalten zum größten Teil als sexuell motiviert betrachteten, warfen James und McDougall vor, sie hätten zu viele instinktive Bedürfnisse identifiziert. Der Einfluss von James und Mc-Dougall wäre vielleicht für immer verloren gewesen, wenn nicht der Harvard-Psychologe Henry A. Murray (1893–1988) McDougalls Liste der Instinkte als Liste psychologischer Bedürfnisse wieder zu Bedeutung verholfen hätte.12 Murrays Arbeit war einflussreich, was zum Teil darauf zurückging, dass er eine populäre Technik zur Einschätzung der Motive eines Menschen entwickelte.13
Ein anderer Psychologe, der einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der menschlichen Motivation leistete, war Abraham Maslow (1908–1970). Maslow war einer der wenigen Psychologen, der die menschliche Natur in erster Linie aus motivationsorientierter Perspektive betrachtete.14 Er traf die bedeutende Feststellung, dass wir bedürfnisgetriebene Wesen sind, die immer nach irgendetwas streben. In dieser Hinsicht analysierte Maslow das menschliche Verhalten auf ganz andere Weise als die meisten Psychologen. Ich schließe mich Maslows Thesen an und erweitere sie sogar dahingehend, dass ein motivationsorientierter Ansatz das menschliche Verhalten wahrscheinlich wesentlich besser erklären kann, als gemeinhin angenommen wird.
Die Brücke zwischen Philosophie und Psychologie
Dieses Buch basiert auf wirklichen wissenschaftlichen Untersuchungen über die grundlegenden menschlichen Bedürfnisse, die unserem Leben einen Sinn verleihen. Viele Menschen sind sich nicht darüber bewusst, dass die berühmtesten Analysen des menschlichen Verhaltens in der Geschichte nicht auf wissenschaftlichen Studien beruhten. Seit 2500 Jahren haben die größten Philosophen und Wissenschaftler zahlreiche Antworten auf die Frage gegeben, was den Menschen bewegt. Wenngleich ihre Theorien brillant und faszinierend waren, hatten nur wenige überhaupt eine wissenschaftliche Grundlage und keine beruhte auf wissenschaftlich gültigen Untersuchungen der Art, wie sie in diesem Buch angeführt werden. Das Signifikanteste an der Antwort, die dieses Buch gibt, ist wahrscheinlich die Tatsache, dass sie auf der Befragung von sehr vielen Menschen beruht, die uns mitgeteilt haben, welche Dinge für sie die größte Bedeutung haben.
Die Untersuchungen waren nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Um wissenschaftlich gültige Studien über die Motivationen der Menschen durchzuführen, mussten meine damalige Diplomstudentin Susan Havercamp und ich zunächst eine Reihe technischer Probleme lösen, und zwar sowohl hinsichtlich der Konzepte, an denen sich die Untersuchungen orientieren sollten, als auch im Bezug auf die Methoden, die zur Erhebung der Daten eingesetzt werden sollten. Diese Probleme lösten wir, indem wir Elemente aus der Psychologie und der Philosophie kombinierten. Psychologen haben wissenschaftliche Methoden für das Verständnis des menschlichen Verhaltens entwickelt, wohingegen Philosophen zahlreiche aussagefähige Konzepte entwickelt haben. Durch die Kombination der psychologischen Methoden mit den philosophischen Konzepten hofften wir, einen neuen Ansatz für die Suche nach Lebenssinn und Erfüllung zu finden.15
Unsere Arbeit ermöglichte es, die menschliche Motivation umfassend zu erforschen. Im vergangenen Jahrhundert wurden wissenschaftliche Studien zur Motivation eher unsystematisch durchgeführt, weil pro Studie jeweils nur ein oder zwei Motive betrachtet wurden. Die einzige Gruppe von Psychologen, die das Thema Motivation umfassend untersucht haben, bestand aus psychodynamischen Forschern, die projektive Tests, wie zum Beispiel die Interpretation von Tintenklecksen und daraus abgeleiteten Geschichten, verwendet haben. Diese Untersuchungen gelten jedoch nicht als wissenschaftlich gültig, weil es ihnen an objektiven Messtechniken mangelt.16
In diesem Buch werde ich zeigen, wie sich Ihr Verhalten und das Verhalten anderer Menschen auf neue Weise analysieren lassen. Mithilfe einer Befragung von 6000 Menschen in den verschiedensten Lebensstadien haben Susan und ich 16 Lebensmotive und Werte entdeckt, die fast alle unsere Handlungen steuern. Die hier vorgestellten 16 Lebensmotive sind ein wirksames Instrument zur Selbsterkenntnis und Selbstwahrnehmung und lenken unsere Aufmerksamkeit auf Aspekte unseres Verhaltens, die wir oft übersehen. Dieses Instrument kann dazu beitragen, dass Sie Ihre Reaktion auf andere Menschen und deren Reaktion auf Sie verstehen, und es liefert neue Erkenntnisse über Liebesbeziehungen, berufliche Entwicklungen und Spiritualität.
Die Kenntnis dieser 16 Lebensmotive kann Ihnen letztlich bei der Verbesserung Ihrer Fähigkeiten helfen, wertebasiertes Glück zu empfinden, nämlich das Gefühl, dass Ihr Leben einen Sinn hat – das Gefühl, nach dem wir alle streben. Dieses Buch wird Ihnen zeigen, wie Sie diese 16 Bedürfnisse in Ihrem Alltag erkennen. Es wird beschreiben, wie Sie diese Bedürfnisse durch Beziehungen, Arbeit, Familie, Sport und Spiritualität erfüllen können. Und indem Sie diese 16 Lebensmotive erfahren und erkennen, welche davon für Sie persönlich am wichtigsten sind, werden Sie schließlich lernen, wie Sie Ihre Beziehungen, Ihre Familie, Ihre Arbeit und Ihren Alltag sinnvoller strukturieren, um dauerhaft wertebasiertes Glück zu finden.
Öffentlicher Ansporn
Am 15. Juni 1998 versandte die Ohio State University eine Pressemitteilung mit der Information, dass Susan und ich herausgefunden hatten, dass 16 Lebensmotive einen Großteil des menschlichen Verhaltens bestimmen. Innerhalb von einer Minute nach Ablauf der Geheimhaltungspflicht arrangierte der führende Wissenschaftsjournalist des BBC eine Interviewserie für den nationalen britischen Radiosender und seine verschiedenen internationalen Zweigstellen. Der Bericht über unsere Untersuchungsergebnisse erschien im allgemeinen Nachrichtenteil der großen englischen Zeitungen (The London Times, Telegraph, Observer, Scotsman) und verbreitete sich anschließend durch Zeitschriften und Radioberichte in der ganzen Welt, einschließlich der nationalen Zeitungen Indiens, Italiens und Kanadas.
Als Reaktion auf die Pressemitteilung erhielten wir Hunderte von Zuschriften. Nur wenige baten um Tipps zur Selbsthilfe. Einige fragten, wie sich unsere Forschungsergebnisse mit der Motivationstheorie von Maslow vergleichen ließen. Andere erkundigten sich, wie ihr eigenes Verhalten innerhalb der 16 Lebensmotive beziehungsweise Grundbedürfnisse einzuordnen sei. Sie wollten wissen, an welcher Stelle unserer Liste zum Beispiel das Bedürfnis stehe, Gott zu gehorchen, wo der Überlebenswille angesiedelt sei oder sogar das Bedürfnis nach Obdach. Die Zeitung Manchester Observer zitierte die Arbeit von Evolutionsbiologen, die Bedürfnisse nannten, die wir angeblich übersehen hatten. Die Zeitung St. Louis Post-Dispatch rief an, um mir mitzuteilen, sie habe unter ihren Redakteuren eine Umfrage durchgeführt, um herauszufinden, welche Bedürfnisse ihnen am wichtigsten seien. Die Zeitung The Columbus Dispatch brachte die Story auf der Titelseite und der Dallas Morning Star veröffentlichte einen ganzseitigen Artikel, so wie auch die nationale italienische Zeitung Corte. Die europäische Ausgabe des Time-Magazins berichtete über unsere Erkenntnisse. ABCnews.com forderte Internetsurfer auf, die 16 Lebensmotive nach ihrer eigenen Priorität zu ordnen, fast 10.000 Menschen folgten dieser Aufforderung an einem einzigen Tag. Radiointerviewer in Australien und England teilten mir mit, sie ließen Umfragen unter den Anrufern durchführen, um unsere Liste weiter zu verbessern. Selbst das britische Boulevardblatt Mirror berichtete darüber, ergänzt durch das obligatorische Foto einer nackten Frau, die übrigens nicht Gegenstand unserer Untersuchungen war.
Eine Reihe Reporter, die mich interviewten, schlugen vor, ich solle ein Buch schreiben. Also begann ich, das vorliegende Buch zu schreiben, und zwar mit dem Ziel, unsere Forschungsergebnisse und ihre Bedeutung zu erklären, um den Menschen zu helfen, ihr Leben besser zu verstehen.
Wie Sie dieses Buch lesen sollten
In diesem Buch, das aus zwei Teilen besteht, wird eine neue Theorie über menschliche Motivation vorgestellt. Der erste Teil erklärt das System der 16 Lebensmotive und zeigt, welche Aspekte in jedem Motiv enthalten beziehungsweise nicht enthalten sind. Teil II zeigt, wie wir unsere Lebensmotive erfüllen, um wertebasiertes Glück zu finden. Ich analysiere Beziehungen, Karrieren, Familie, Sport und Spiritualität aus der Perspektive dieser 16 Lebensmotive beziehungsweise Bedürfnisse und zeige, dass wir das Potenzial besitzen, unsere Lebensmotive in jedem dieser Lebensbereiche zu erfüllen.
In Kapitel 1 werden Sie die Grundlagen unserer Untersuchungen in Bezug auf die Definition eines Lebensmotivs erfahren und Sie werden sehen, wie psychologische Forschungsumfragen wirklich funktionieren. Jedes der 16 Lebensmotive ist tatsächlich eine Kategorie eng verwandter Bedürfnisse, wobei sich alle oder zumindest fast alle auch bei Tieren beobachten lassen. Die Bedürfnisse motivieren fast alle Menschen, allerdings nicht unbedingt auf dieselbe Art und Weise. Kapitel 1 erklärt, warum bestimmte Bedürfnisse, wie zum Beispiel der Überlebenswille, nicht zu den Lebensmotiven zählen.
Eine ausführliche Beschreibung jedes Lebensmotivs wird in den Kapitel 2, 3 und 4 geliefert. In Kapitel 5 wird das Konzept des Motivprofils diskutiert. Ihr persönliches Motivprofil ist das, was Sie zu einem Individuum macht. Es zeigt, in welche Rangfolge Sie die 16 Lebensmotive bringen beziehungsweise welche Prioritäten Sie setzen. Susan und ich haben einen standardisierten psychologischen Test mit der Bezeichnung Reiss-Profil (»Reiss Profile of Fundamental Goals and Motivational Sensitivities«) entwickelt, mit dem sich das Motivprofil eines Menschen feststellen lässt.17 Mit den Informationen aus Kapitel 2, 3 und 4 beziehungsweise der Zusammenfassung der Fragen im Anhang können Sie Ihr ganz persönliches Motivprofil herausfinden. Mit dem Reiss-Profil lassen sich mehr als zwei Billionen verschiedene Wertprofile erstellen, von denen nur ein einziges auf Sie zutrifft.
Kapitel 6 erklärt, auf welche Weise Ihr Motivprofil Ihre Kommunikation mit anderen Menschen und deren Kommunikation mit Ihnen bestimmt. Es werden zwei Arten von Missverständnissen besprochen, die zwischen Menschen entstehen können: eine ineffektive Kommunikation und »gegenseitiges Unverständnis «. Missverständnisse als Folge einer ineffektiven Kommunikation lassen sich lösen, indem man zusätzliche Informationen liefert. Ein Missverständnis, das daraus entsteht, dass man nicht versteht, was der andere sagen will, ist die Folge stark unterschiedlicher Motivprofile der beiden Gesprächspartner. Wenn das geschieht, verstärken zusätzliche Informationen das Missverständnis üblicherweise noch. Die Vorstellung, »nicht zu verstehen, was der andere sagen will«, ist eine neue Betrachtungsweise der jahrhundertealten Frage, ob es überhaupt möglich ist, einen anderen Menschen wirklich zu kennen.
Teil II zeigt, wie wir unsere Lebensmotive durch Beziehungen, Arbeit, Familie, Sport und Spiritualität erfüllen können. Die 16 Lebensmotive legen eine neue Betrachtungsweise dieser Lebensbereiche nahe.
In Kapitel 7 werden Sie die Unterschiede zwischen zwei Arten von Glücksempfinden kennenlernen: das Glück, das aus kurzfristigen angenehmen Erlebnissen entsteht und das als Wohlfühlglück bezeichnet wird, und wertebasiertes Glück. Ersteres bezeichnet eine Empfindung, die von einem angenehmen Ereignis ausgelöst wird. Im Gegensatz dazu bezeichnet das wertebasiertes Glück das allgemeine Gefühl der Sinnstiftung, das wir empfinden, wenn unsere Lebensmotive erfüllt werden. Wie groß das Wohlfühlglück ist, das Sie empfinden, hängt davon ab, wie viel Glück Sie im Leben haben – Menschen, die reich, gesund und attraktiv sind, empfinden im Allgemeinen mehr Wohlfühlglück als kranke, arme oder unattraktive Menschen. Wertebasierte Glück ist hingegen der große Gleichmacher. Egal wer Sie sind oder wie Ihre Lebensumstände beschaffen sind, Sie haben fast immer dieselbe Chance auf ein sinnvolles Leben wie jede andere Person auf diesem Planeten auch.
Kapitel 8 beschreibt, wie Sie Ihre Bedürfnisse durch die Beziehung mit Ihrem Lebenspartner, Ehepartner, Ihrem engen Freund oder Ihrer engen Freundin erfüllen können. Ich erkläre, wie Lebensmotive entweder eine enge Bindung zwischen Ihnen und Ihrem Partner herstellen oder Sie beide im Verlauf der Jahre in unterschiedliche Richtungen lenken können. Es wird eine neue Methode der Bewertung der Kompatibilität in einer Partnerbeziehung vorgestellt. Anstatt nach ähnlichen Qualitäten Ausschau zu halten, bin ich der Meinung, dass es wichtiger ist, auf die Kompatibilität der Lebensmotive, Werte und Ziele zu achten. Ich unterscheide zwischen kurzfristigen und langfristigen Beziehungen. Kurzfristig können sich Menschen aus Gründen zueinander hingezogen fühlen, die eine Mischung aus Wohlfühlglück und wertebasiertem Glück sind. Mit den Jahren wird die Qualität der Beziehung jedoch zunehmend von den Faktoren geprägt, die das wertebasierte Glück bestimmen; das gilt vor allem für die Kompatibilität der individuellen Motivprofile.
Ihr Motivprofil bestimmt in mehrfacher Hinsicht Ihre Erfahrung am Arbeitsplatz; das ist Thema von Kapitel 9. Ihr Motivprofil hat einen Einfluss darauf, wie Sie über Ihren Vorgesetzten denken und wie dieser über Sie denkt. Es hat Einfluss darauf, wie sehr Sie Ihre Arbeit schätzen. Die berufliche Karriere bietet Chancen zur Selbstverwirklichung. Wenn Sie darüber nachdenken, Ihren Arbeitsplatz oder gar Ihren Beruf zu wechseln, kann Ihnen die Kenntnis Ihres Motivprofils als praktische, leicht handhabbare Methode zur Auswahl eines Berufs oder einer Tätigkeit dienen, die Sie wahrscheinlich als erfüllend empfinden werden.
In Kapitel 10 stelle ich vor, wie Ihr Motivprofil die Beziehung zu Ihren Kindern und Ihren Eltern beeinflusst. Das grundlegende Bedürfnis, das Eltern an ihre Kinder bindet, unterscheidet sich von dem Bedürfnis, das Kinder an ihre Eltern bindet. Darüber hinaus gilt für die Eltern-Kind-Beziehung das Individualitätsprinzip. Trotz gemeinsamer Gene haben Sie und Ihre Kinder höchst unterschiedliche Motivprofile. Das bedeutet, dass Ihre Kinder unter Umständen Lebenswege wählen, die Sie nicht gutheißen. Dann können Sie wählen, ob Sie versuchen, Ihre Kinder zu verändern, oder sie so zu akzeptieren, wie sie sind. Wenn Sie versuchen, Ihre Kinder zu verändern, werden diese entweder unglücklich, nämlich wenn sie tun, was Sie wollen (anstatt das zu tun, was sie selbst wollen), oder sie werden sich Ihnen gegenüber verschließen, und das möglicherweise für eine lange Zeit. Wenn Ihre Kinder ein bestimmtes Alter erreicht haben – ungefähr 14 Jahre –, ist Ihre Chance, sie zu formen, im Wesentlichen vorbei. Sie und Ihre Kinder sind wahrscheinlich besser dran, wenn Sie Ihre Kinder so akzeptieren, wie sie sind, anstatt den Rest des Lebens damit zu verbringen, mit ihnen zu kämpfen.
In Kapitel 11 bespreche ich, wie Menschen ihre Bedürfnisse durch Sport erfüllen. Meine These lautet, dass Sport wesentlich mehr ist als Spiel. Sportliche Aktivitäten bieten Chancen, intrinsisch wertvolle Gefühle zu erleben, die grundlegende psychologische Bedürfnisse erfüllen. Dieses Kapitel wird Ihnen wahrscheinlich Spaß machen; unter anderem gibt es eine Antwort auf die oft gestellte (aber selten beantwortete) Frage, warum Chicago die Baseballmannschaft Cubs liebt, Cleveland die Browns und mein Vater die New York Mets.
In Kapitel 12 erfahren Sie, wie die 16 Lebensmotive durch Spiritualität erfüllt werden können. In unserem Bemühen, die grundlegenden Elemente sinnstiftender Erfahrungen zu ermitteln, stellten Susan und ich keine direkten Fragen über Gott oder Religion. Dennoch beschreiben mindestens 12 der 16 Lebensmotive Merkmale von Gottheiten, die verschiedene Kulturen zu verschiedenen Zeiten in der Geschichte verehrt haben. Darüber hinaus finden sich bei den weltgrößten Religionen Praktiken, die zur Erfüllung aller 16 Lebensmotive beitragen. Die enge Verbindung zwischen den 16 Lebensmotiven und der Spiritualität legt nahe, dass diese spezifischen Bedürfnisse tatsächlich die Grundelemente einer sinnstiftenden Erfahrung darstellen.
Und schließlich werden Sie am Ende des Buches andere mögliche Anwendungen für das System der 16 Lebensmotive finden: Auswirkungen auf die persönliche Weiterentwicklung, auf Marketing und auf psychische Störungen. Sie werden erfahren, was einige der einprägsamsten Werbeslogans unserer Zeit – zum Beispiel L’Oréals »Weil Sie es sich wert sind« und Nikes »Just do it« – mit den 16 Lebensmotiven zu tun haben. Außerdem skizziere ich einige allgemeine Richtlinien, wie Sie Ihr Wissen über die 16 Lebensmotive nutzen können, um die Herausforderung einer Selbstveränderung erfolgreich zu bewältigen.
Teil I:
Die Lebensmotive, die unserem Leben einen Sinn geben
Was ist ein Lebensmotiv?
Wenngleich die meisten Menschen nicht daran gewöhnt sind, über menschliches Verhalten aus der Perspektive von Lebensmotiven nachzudenken, kann ihnen die Kenntnis unserer 16 Lebensmotive dabei helfen, Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wer sie sind und warum sie tun, was sie tun. Diese Lebensmotive bieten Ihnen einen neuen Weg, Ihr eigenes Verhalten zu analysieren. Wenn Sie Ihre Lebensmotive kennen, können Sie herausfinden, auf welche Weise Ihr Verhalten und Ihre Lebensziele mit Ihren Lebensmotiven verbunden sind. Weil Ihre Lebensmotive den Weg der psychologischen Entwicklung aufzeigen, den Sie nehmen müssen, um die Person zu werden, die Sie werden wollen, können sie Ihnen dabei helfen, darüber nachzudenken, was Sie benötigen, um wertebasiertes Glück zu finden.
Die 16 Lebensmotive sind zudem ein wirksames Instrument, um das Verhalten der Menschen in Ihrer Umgebung zu analysieren. Wenn wir wissen wollen, wie sich andere verhalten werden, sollten wir herausfinden, was sie sich wünschen, und davon ausgehen, dass sie versuchen werden, ihre Bedürfnisse und Motive zu erfüllen. Bedürfnisse teilen uns vielleicht nicht alles mit, was wir über uns selbst oder über andere wissen wollen, aber das, was sie uns mitteilen, ist äußerst wichtig, um Verhaltensweisen und Glücksempfinden zu verstehen.
Und das sind die 16 Lebensmotive – die Reihenfolge, in der sie hier präsentiert werden, hat nichts zu bedeuten:
Macht – das Bedürfnis, andere zu beeinflussen.
Unabhängigkeit – das Bedürfnis nach Eigenverantwortlichkeit.
Neugier – das Bedürfnis nach Wissen.
Anerkennung – das Bedürfnis nach Einbeziehung.
Ordnung – das Bedürfnis nach Organisation.
Sparen – das Bedürfnis, Dinge zu sammeln.
Ehre – das Bedürfnis, den eigenen Eltern und dem eigenen Erbe gegenüber loyal zu sein.
Idealismus – das Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit.
Beziehung – das Bedürfnis nach Gesellschaft.
Familie – das Bedürfnis, seine Kinder großzuziehen.
Status – das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung.
Rache/Wettbewerb – das Bedürfnis, mit jemandem abzurechnen oder sich mit jemandem zu vergleichen.
Sinnlichkeit – das Bedürfnis nach Sex und Schönheit.
Essen – das Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme.
Körperliche Aktivität – das Bedürfnis nach Muskelbetätigung.
Innere Ruhe – das Bedürfnis nach emotionaler Gelassenheit.
Wenn Sie wissen wollen, wie Sie diese Bedürfnisse nutzen können, und keine Informationen darüber benötigen, wie wir unsere Untersuchungen durchgeführt haben, können Sie gleich zu Kapitel 2, 3 und 4 weiterblättern, in denen die 16 Lebensmotive ausführlich besprochen werden. Der Rest dieses Kapitels handelt zum größten Teil von der zugrunde liegenden wissenschaftlichen Arbeit und der philosophischen Analyse, die uns dazu veranlasst hat, diese spezielle Lis te an Lebensmotiven zu erstellen und keine andere.
Der Ursprung der Lebensmotive
Lassen Sie uns betrachten, woher die 16 Lebensmotive stammen und wie sie von Erfahrungen und Kultur beeinflusst werden. William James und William McDougall vertraten die Auffassung, unsere Lebensmotive seien genetisch vorbestimmt.1,2 Das bedeutet, dass wir nicht bewusst entscheiden, was wir vom Leben erwarten; vielmehr entstehen unsere tiefsten Wünsche und Bedürfnisse automatisch, und sobald wir sie erfüllt haben, entstehen automatisch neue, andere Bedürfnisse, die wir dann wieder erfüllen wollen.
Laut William McDougall
»ist jeder Mensch so beschaff en, dass er bestimmte Ziele, die seiner Spezies eigen sind, anstrebt, ersehnt und erreichen will, wobei die Erfüllung dieser Ziele den Drang oder das Verlangen, das uns antreibt, befr iedigt und stillt. Diese Ziele … haben nicht nur alle Menschen, sondern auch 3