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ÜBER DIE AUTORIN

Francesca Segal, 1980 in London als Tochter des Autors Erich Segal (Love Story) geboren, studierte in Oxford und Harvard und ist Journalistin und Kritikerin. Sie veröffentlichte unter anderem im Granta Magazine, Guardian und Daily Telegraph. Drei Jahre lang schrieb sie für den Observer eine Prosakolumne, bis vor Kurzem war sie Feuilletonistin für das Tatler Magazine. Die Arglosen ist Segals Debüt, das in elf Ländern erscheinen wird und mit dem renommierten Costa First Novel Award, dem National Jewish Book Award und dem Sami Rohr Prize prämiert wurde.

ÜBER DAS BUCH

Adam und Rachel stecken mitten in ihren Hochzeitsvorbereitungen. Doch mit der Rückkehr von Ellie, Rachels unangepasster Cousine, kommen Adam plötzlich Zweifel. Zweifel an einer Beziehung, die eingebettet ist in den Charme Nordwestlondons, in gesellige Feiertage, Urlaube in Israel und allgegenwärtige Mütter.

Der Roman Die Arglosen porträtiert das moderne jüdische Leben mit viel Humor und Empathie und wurde bereits mit zahlreichen wichtigen Preisen ausgezeichnet.

»Klug, witzig und weitsichtig!« The Times

»Francesca Segal wird bald in einem Atemzug mit Zadie Smith und Monica Ali genannt werden.« Stylist

Francesca Segal, Die Arglosen, Roman, Aus dem Englischen von Verena Kilchling, Kein & Aber

Für meine Eltern

In der Abfolge der Feldfrüchte gab es einen festen Platz für Wildhafer, aber er durfte nicht mehr als ein Mal gesät werden.

Edith Wharton

Zeit der Unschuld

Teil Eins

EINS

Adam hatte sich für den Anlass einen neuen Anzug gekauft. Er hatte zwischen einem Nadelstreifen-Zweireiher in dandyhaftem Schwarz und einem etwas traditionelleren Modell aus dunkelblauer Wolle mit zwei Knöpfen geschwankt und sich nach reiflicher Überlegung für die dunkelblaue Variante entschieden, die ihm angemessener erschien für einen frisch verlobten Mann.

Jetzt saß er in diesem Anzug in der Synagoge und betrachtete die Buntglasfenster, die ein gesprenkeltes Lichtmuster in hellem Rosé und noch hellerem Saphirblau auf die stark geschminkten Gesichter der Frauen auf der Empore warfen. Es gab drei Fenster: Auf einem war ein goldener Chanukka-Leuchter mit roten Flammen zu sehen, auf einem ein Regenbogen vor kobaltblauem Himmel, unter dem weiße Bleiglastauben hindurchflatterten, und auf dem dritten die zwei abgerundeten silberglänzenden Tafeln der Zehn Gebote, erleuchtet von einem orangefarbenen und einem zitronengelben Sonnenstrahl und umrahmt von giftgrünen Palmen. Unter diesem dritten Fenster saß Rachel Gilbert zwischen ihrer Mutter und ihrer Großmutter und hatte den Blick aufmerksam zur Kanzel gerichtet. Adam wiederum senkte seinen Blick von den Fenstern herab und betrachtete seine Verlobte eingehend.

Sie waren seit ihrem sechzehnten Lebensjahr ein Paar, im Sommer waren es zwölf Jahre. Zwölf ganze Jahre lang war sie seine Freundin gewesen, und jetzt war sie seit einer Woche seine Verlobte. Alles fühlte sich plötzlich ganz anders an. Er hatte sie unmöglich vorausahnen können, diese tiefgreifende, nicht in Worte zu fassende Veränderung, die der funkelnde Ring an Rachels Finger in ihm auslöste, der Ring, über dessen Auswahl er sich so den Kopf zerbrochen hatte. Es war mehr als ein Gefühl von Besitz, von Verbundenheit, von Liebe. Was sich zwischen ihnen eingestellt hatte, war vollkommenes Vertrauen, war Gewissheit und die Aussicht darauf, dass diese Gewissheit für immer andauern würde.

Neben ihm verlagerte Jasper Cohen plötzlich seinen massigen Körper unter dem Gebetsmantel. »Rachels Cousine ist hier!« Er stieß Adam unsanft seinen Ellbogen in die Rippen und wies mit dem Kinn zur Empore hinauf, wo auf einer Mahagonibank in Reih und Glied die Frauen der Gilbert-Familie saßen, ordentlich frisiert und mit besinnlichen Mienen. Rachels Mutter Jaffa Gilbert saß dem Rabbiner am nächsten. Ihre kurz geschnittenen, hennagefärbten Haare waren unter einem grünen Hut verborgen, und ihre rote, an einer Plastikkette befestigte Brille ruhte auf ihrer ausladenden, samtverhüllten Brust. Neben ihr saß Rachel, die ihrerseits sittsam in hochgeschlossene dunkelgraue Seide gekleidet war und auf ihre Hände hinunterblickte. Ihr Gesicht wurde halb von einer breiten, dunklen Haarsträhne verdeckt, die ihr in die Stirn gefallen war. Rachels Großmutter Ziva Schneider saß auf der anderen Seite und starrte mit konzentriertem oder vielleicht auch skeptischem Ausdruck auf den Text in ihrem Schoß. Neben ihr komplettierte Rachels Cousine Ellie Schneider die Reihe.

»Ja. Und?«

»Du hast mir gar nicht von ihrer Rückkehr aus New York erzählt.«

»Ich wusste ja nicht, dass dich das interessiert.«

»Wenn es bedeutet, dass wir in Zukunft öfter ein halb nacktes Fotomodell in der Synagoge bestaunen dürfen, interessiert es mich auf jeden Fall.« Jasper beugte sich über Adam, um besser sehen zu können. »Mein Gott, ist die groß. Da braucht man ja eine Leiter.«

»Eins achtzig.«

»Zu groß für mich. Du würdest vielleicht mit ihr klarkommen.« Jasper blätterte einige Seiten in seinem Gebetbuch um, ohne auch nur einen Blick hineinzuwerfen. »Wann kriegen wir endlich diesen Porno in die Finger, in dem sie mitgespielt hat?«

»Arthouse, nicht Porno«, zischte Adam. An Jaspers mangelndes Feingefühl war er seit vielen Jahren gewöhnt, heute jedoch beunruhigte es ihn. Er wollte auf keinen Fall, dass in der Gemeinde das Gerücht herumging, seine Verlobte sei mit einem Pornostar verwandt.

Jasper schnaubte laut. An ihm war alles laut, weil er fest davon überzeugt war, ihm würde niemand Beachtung schenken, wenn er sich nicht aufdrängte.

»Arsch House trifft es eher. Ich habe Auszüge auf YouTube gesehen, Alter. Glaub mir: Das ist ein Pornofilm. Wir müssen uns das Ding bestellen.«

»Nein.«

»Nein, es ist kein Pornofilm, oder nein, wir bestellen es nicht? Gideon hat erzählt, die zensierte Version sei eine halbe Stunde kürzer als das Original, aber in den Staaten komme man immer noch an die unzensierte Fassung.«

»Das war nicht Gideon, der das erzählt hat, sondern ich. Rachel war stinksauer deswegen.«

»Na ja, jedenfalls hat die Columbia University sie deswegen relegiert, also gibt es auf jeden Fall was zu sehen.«    

»Pssst«, machte Adam und runzelte die Stirn. Er war nicht der Einzige, der sich an Jaspers Getuschel störte. Im Flüsterton stattfindende Gespräche zwischen den Männern in den hinteren Sitzreihen wurden normalerweise toleriert oder sogar ermuntert, wenn der Inhalt interessant genug war. Vor allem Fußball war ein beliebtes Thema. Während der Hohen Feiertage zogen sich die Gottesdienste endlos in die Länge, und es galt als völlig normal, sich ein wenig die Zeit zu vertreiben. Doch während des Kol Nidre – eines wichtigen Gebets zur Einleitung von Jom Kippur – eine anhaltende Diskussion über Pornografie zu führen, ging eindeutig zu weit. Schließlich sollte die Gemeinde bis zum Sonnenuntergang des morgigen Tages fasten und sühnen. Auch Adam hatte die Clips von Ellie Schneiders Schauspieldebüt im Internet gesehen. In einem davon blickte sie, nur mit einem befleckten T-Shirt der Columbia University bekleidet, in die Kamera und hielt einen gehauchten, auf hypnotische Weise rhythmischen Monolog, während ihr Unterleib von einem bedrohlich wirkenden Filmpartner entkleidet und bearbeitet wurde. Die Synagoge war nicht gerade der Ort, an dem sich Adam an diese Szene erinnern wollte. Die anderen Gemeindemitglieder sprachen gerade das Al-Chet-Bekenntnis: Für die Sünde, die wir vor dir durch unanständige Gedanken begangen haben, für die Sünde, die wir durch unflätige Sprache begangen haben. Verzeih uns, vergib uns, büße für uns.

Adam verdrängte mühsam die Bilder in seinem Kopf und konzentrierte sich stattdessen auf die Frauenempore, in der Hoffnung, Rachels Aufmerksamkeit zu erregen. Und tatsächlich blickte sie mit weit aufgerissenen Augen zu ihm herunter. Ihr Gesichtsausdruck verriet deutlich, dass ihr einiges auf der Zunge brannte. Sie fühlte sich zutiefst blamiert von ihrer Cousine und konnte nicht fassen, dass Ellie tatsächlich mit in die Synagoge gekommen war, noch dazu in diesem Aufzug! Unter ihrer Smokingjacke blitzte vom Schlüsselbein bis zum Nabel nackte Haut hervor, und dazu trug sie eine enge schwarze Hose – eine Hose! –, die schimmernd wie Rohöl an ihrer Haut klebte. Ein einziger Blick auf Rachel genügte Adam, um zu wissen, was sie ihm mit dem dezenten Zusammenkneifen ihrer Lippen und dem Hochziehen ihrer dunklen Augenbrauen signalisieren wollte. Er beherrschte das Vokabular ihrer Mimik aus dem Effeff und kannte jeden Ausdruck ihres hübschen Gesichts. Ihm war unbegreiflich, was andere Männer an unberechenbaren Frauen fanden. Rachel überraschte ihn nie, und er betrachtete es als Beweis ihrer innigen Vertrautheit, Rachels Reaktionen mit absoluter Sicherheit vorhersagen zu können. Das Leben hielt schon genug Unvorhergesehenes bereit, das hatte er am eigenen Leib erfahren. Eine zuverlässige, loyale Kopilotin an seiner Seite zu wissen, war wichtiger als die flüchtigen Reize, die ein impulsiveres Temperament bieten mochte. Er lächelte Rachel zu.

Nach dem Gottesdienst wartete Adam vor der Synagoge auf Rachel und ihre Familie. Für Ende September war es ungewöhnlich warm, und die Blätter der Eichen, die wie hoch aufragende Wächter den leeren Parkplatz säumten, waren noch grün und klammerten sich hartnäckig an die Zweige. An diesem Abend ließen sich die Leute Zeit mit dem Aufbrechen, falteten in aller Ruhe ihre Gebetsmäntel zusammen, holten ihre Jacken, begrüßten Freunde. Schließlich wartete zu Hause kein Abendessen auf sie; der Fastenritus besagte, dass keine Mahlzeiten mehr eingenommen werden durften, bis die Gemeindemitglieder am folgenden Abend erneut die Synagoge verließen, dann allerdings mit weit größerer Eile. Heute jedoch mussten sie sich geistige – oder zumindest soziale – Nahrung suchen. Jetzt, wo der Gottesdienst zu Ende war, gesellten sich Männer und Frauen wieder zueinander, und Adam beobachtete, wie sich die Familien vor der Synagoge vereinten, plaudernd auf der Treppe stehen blieben oder an ihm vorbeibummelten, bevor sie sich von anderen Familien verabschiedeten und in die dunstige Herbstdämmerung verschwanden.

»Hi. Treffen wir uns also wieder an diesem Ort.«

Die leise Stimme hinter seiner Schulter klang amerikanisch. Er drehte sich um und sah Ellie Schneider vor sich stehen, die eine noch nicht angezündete Zigarette in der Hand hielt und sich gerade ein langes graues Tuch um den Hals wickelte.

Bisher hatte Adam ein ziemlich klares Bild von Rachels Cousine gehabt, das er sich aus Zeitschriften und dem Internet zusammengestückelt hatte: seidenglatte Beine, champagnerblondes Haar, hohe Wangenknochen und spitze Brüste. Er wusste natürlich auch von ihrer dunklen Seite hinter dieser glamourösen Fassade. Das Mädchen war am Ende, das stand fest. Auf den Zeitschriftenfotos jedoch war ihre blasse Haut so glatt wie flüssige Sahne, und die hellgrünen, weit aufgerissenen Augen gaukelten eine Frische und Unschuld vor, die in krassem Gegensatz zu der Finsternis stand, die sich dahinter verbarg, wie Adam wusste. Aber sie war nun mal mit seiner Freundin verwandt, weshalb er ihr gegenüber einen gewissen Beschützerinstinkt entwickelt hatte.

Über Jahre hatte er in seiner Fantasie eine Beziehung zu Rachels jüngerer Cousine aufgebaut – eine enge, irgendwie väterliche Beziehung, in der auch ein wenig geflirtet werden durfte, natürlich nur innerhalb der Grenzen dessen, was zwischen alten Freunden angemessen war. Sie würde ihm ihre Eskapaden beichten, und er würde ihr ein wenig tadelnd, aber liebevoll mit klugen Ratschlägen aus der Patsche helfen. Wenn Rachel und er erst einmal verheiratet waren, würde Ellie bei ihnen ein und aus gehen und ab und zu bei ihnen übernachten (wobei sie auch manchmal in Unterwäsche durchs Haus laufen würde, was allerdings nicht Schwerpunkt von Adams Tagträumen war, wie man zu seiner Verteidigung anmerken muss). Rachel und er würden Ellie helfen, ihre schwierige Vergangenheit hinter sich zu lassen und ihr Leben wieder in den Griff zu kriegen. Wenn er mit Jasper und den anderen Jungs im Pub saß, diskutierte er mit ihnen regelmäßig über Ellies Leben in New York, auf selbstverständliche, besitzergreifende Weise. Ellies zwielichtiger Glamour bildete einen scharfen Kontrast zu ihrer bodenständigen Cousine, färbte jedoch auch ein wenig auf sie ab. Niemand sonst hatte eine so anrüchige und gleichzeitig so verführerische Verwandte wie Rachel. Die beiden Mädchen hatten sich als Kinder sehr nahegestanden, und in der Abgeschiedenheit seiner eigenen Gedanken nahm auch Adam diese Nähe für sich in Anspruch und betrachtete sich als guten Freund und Vertrauten. Erst jetzt, als er Ellie vor der Synagoge gegenüberstand, wurde ihm bewusst, dass sie in Wirklichkeit eine fast völlig Fremde für ihn war.

Sein konstruiertes Bild von ihr wurde nun auf unbefriedigende Weise von der jungen Frau vor seiner Nase überlagert. Ihre Augen, die ihn mit träger Neugier musterten, waren genauso leuchtend grün und klar wie in seiner Vorstellung, aber unter ihren dichten Wimpern zeichneten sich dunkle Schatten in den Farbnuancen Grau, Pflaume und Lavendel ab, als würde sie sich vor dem Schlafen nie abschminken, oder gar nicht erst ins Bett gehen. Die Frisuren der anderen Synagogenbesucherinnen waren sorgfältig in Form geföhnt, damit sie vor den Urteilen Gottes und der Gemeinde bestanden, doch Ellies gebleichte, strohblonde Mähne war zu einem losen Pferdeschwanz gebunden und wirkte vernachlässigt. Ihre vollen Lippen waren rissig und aufgesprungen, und unter dem aufklaffenden Kragen ihrer Jacke sah ihr magerer Körper so flachbrüstig aus wie der eines kleinen Jungen. Als sie für einen Moment den Kopf zur Seite drehte, um ihren Pferdeschwanz unter dem Tuch hervorzuziehen, entdeckte Adam einen tiefblauen Schatten unter dem linken ihrer markanten Wangenknochen. Adam verbarg seine Überraschung und blickte vorwurfsvoll auf ihre Zigarette, um ihr zu verstehen zu geben, was für ein schamloser, extravaganter Fauxpas es wäre, sie an Jom Kippur anzuzünden, zumal sie sich noch auf dem Synagogengelände befanden. Er wollte nicht, dass sich Rachels Eltern noch mehr für sie schämen mussten als ohnehin schon.

»Sind wir uns denn hier schon mal begegnet?«, fragte er. Trotz der engen Beziehung, die er in seiner Fantasie zu ihr aufgebaut hatte, überraschte es ihn, dass sie sich auch an ihn erinnerte.

»Ja, vor einer halben Ewigkeit. Jaffa hat mich damals mitgenommen, um Rachel nach eurer Israelreise abzuholen. Ich wollte unbedingt mit, weil ich sie so schrecklich vermisst hatte. Als euer Bus vorfuhr, habe ich gerade auf dem Klettergerüst dort drüben gespielt.« Sie wies mit dem Kinn zum anderen Ende des Parkplatzes, und Adam folgte ihrem Blick zu der leeren betonierten Stelle, wo vor Jahren ein niedriges Klettergerüst und eine kleine Plastikrutsche gestanden hatten. »Ich habe Rachel geradezu angebetet und war in jenem Sommer wahnsinnig eifersüchtig, weil ich dachte … Ach egal. Jedenfalls ist sie zusammen mit dir aus dem Bus gestiegen, und du hast ihre Tasche getragen. Das hat mich schwer beeindruckt, weil ich zum ersten Mal gesehen habe, dass ein Junge so etwas für ein Mädchen tut. Und dann hat sie dich mit zu uns geführt und dich Jaffa und Lawrence vorgestellt. So haben wir uns kennengelernt.«

»Du warst damals noch ziemlich klein, oder?«

»Zehn.«

»Gutes Gedächtnis.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ihr saht irgendwie beide so glücklich aus. Das hat großen Eindruck auf mich gemacht, weil es so selten vorkommt.«

In diesem Moment tauchten Rachels Eltern hinter Ellie auf, sodass Adam keine Gelegenheit mehr hatte, ihr zu antworten. Ihr letzter Kommentar ärgerte ihn. Er kannte viele glückliche Menschen. An den Tag, den Ellie beschrieben hatte, erinnerte er sich noch genauso deutlich wie sie. Allerdings nicht wegen der ernsten, blonden Zehnjährigen, die ihm mit der Förmlichkeit einer Politikerin die Hand geschüttelt hatte, sondern wegen Rachel. Er hatte sie während der gemeinsamen Jugendreise nach Israel kennengelernt, und als sie zusammen mit den anderen braungebrannten Jugendlichen auf den Parkplatz eingebogen waren, hatte er sie gefragt, ob sie mit ihm gehen wolle. Von dem Augenblick an, als sie sein Lächeln schüchtern erwidert und Ja gesagt hatte, hatte er – mochte es auch noch so unzeitgemäß und unüblich gewesen sein – gewusst, er würde sie eines Tages heiraten. Rachel hatte schon damals mit großer Gewissheit und gelassener Überzeugung an das Gute und an die vielen Verheißungen geglaubt, die diese Welt für sie bereithielt. Ihr unerschütterlicher, sachlicher Optimismus war für Adam, dessen Mutter jederzeit mit stählerner Verbissenheit auf das Schlimmste gefasst war, wie eine Offenbarung gewesen. Bevor er Rachel begegnete, hatte er nicht gewusst, dass auch er auf ein ruhiges, glückliches Leben hoffen durfte. Ihre Zuversicht war so groß, dass sie keinerlei Zweifel zuließ und für sie beide reichte.

Er liebte Rachel seit jenem herrlichen Monat der Freiheit, den sie zusammen in Israel verbracht hatten. Die Jungen hatten sich auf die Decken arabischer Schmuckhändler gekniet, um sich die Ohren durchstechen zu lassen und peinliche goldene Ohrstecker zu tragen, während Rachel und ihre Freundinnen im Schneidersitz auf Teppichen saßen und sich von jungen äthiopischen Frauen die Haare zu schmalen Zöpfen flechten ließen. Diese wurden anschließend mit bunten Baumwollbändern umwickelt, und wenn die Mädchen ihre Zöpfe zum Pferdeschwanz banden, sahen die Frisuren aus wie steife grüne oder rote Würmer. Ihre gemeinsame jugendliche Rebellion war unschuldig und banal und von kurzer Dauer gewesen – den Ohrschmuck hatten sie schon in Heathrow wieder herausgenommen. Es war ein wenig geknutscht worden, und der eine oder andere frühreife Junge hatte seine Hand in den BH eines Mädchens geschoben, mehr war nicht passiert. Adam und Rachel hatten beides nicht getan, sondern in den letzten Tagen der Reise angefangen, sich im Bus nebeneinanderzusetzen und sich schüchtern anzulächeln. Die ganze Gruppe war glücklich und ausgelassen gewesen, da hatte Ellie recht. Aber Rachel und er waren auch jetzt noch glücklich.

»Sehr gut, ihr habt euch also schon gefunden.«

Rachels Vater Lawrence gab Adam einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken, bevor ihn wie jedes Mal, wenn er an die Verlobung seiner Tochter dachte, die Gefühle überwältigten. Er packte Adam bei den Schultern und hielt ihn auf Armlänge von sich weg, um ihn liebevoll zu mustern. Dann umarmte er ihn überschwänglich. Adam und Lawrence waren gleich groß – ein Meter achtundachtzig –, doch Adam hatte breite Schultern, wohingegen Lawrence eher hager war und immer leicht gekrümmt ging, als wollte er vermeiden, dass sich jemand von seiner beeindruckenden, für einen Juden höchst untypischen Körpergröße eingeschüchtert fühlte. Trotzdem wurde Adam vollkommen eingenommen von den langen Armen seines zukünftigen Schwiegervaters; allein Lawrence’ Herzlichkeit und Wärme hatten schon diese Wirkung. Adam selbst war zwar stolz auf seine Körpergröße, zumal aschkenasische Männer normalerweise nicht über einen Meter fünfundsiebzig hinauskommen, aber auch froh, dass er nicht noch weiter gewachsen war. Es wäre ihm nicht richtig erschienen, Lawrence zu überragen.

Jaffa, die ebenso klein und mollig war wie ihr Mann groß und dünn, bedachte Ellies Zigarette mit einem Stirnrunzeln. »Ellie, das kann doch bestimmt noch ein paar Minuten warten, oder? Ein bisschen Respekt, bitte.« Sie hatte ihren grünen Hut inzwischen abgenommen, unter dem kurze, dunkelviolett gefärbte Haare zum Vorschein kamen, die an einigen Stellen zu einem hellen, verwaschenen Aubergineton ausgeblichen waren. Ab einem gewissen Alter schienen viele israelische Frauen ein Faible für diese Farbe zu haben, was Adam noch nie verstanden hatte.

Ziva Schneider gesellte sich gerade rechtzeitig zu ihnen, um die Ermahnung ihrer Tochter zu hören. »Meinst du etwa, Gott findet es respektvoller, wenn sie an Kol Nidre zum Rauchen um die Ecke geht?«, fragte sie Jaffa.

Jaffa schmollte genervt. Ihre Mutter wusste genau, dass es nicht das Urteil Gottes war, um das sie sich sorgte. Während die Gemeinde aus der Synagoge kam, wollte sie triumphierend auf dem Parkplatz stehen und gnädig die Gratulationen zur Verlobung ihrer Tochter entgegennehmen. Sie wollte ihre Naches, ihr Gefühl der Genugtuung, voll auskosten. Erst zu Rosch ha-Schana würde wieder eine so große Menschenansammlung zusammenkommen, daher war sie fest entschlossen, die frohe Kunde beim diesjährigen Jom Kippur so vielen anderen Müttern wie möglich unter die Nase zu reiben. Adam war ein absoluter Traumschwiegersohn, das stand fest. Es hatte allerdings in letzter Zeit auch noch andere Verlobungen und Hochzeiten gegeben, und im Jewish Chronicle waren die baldigen Vermählungen von weit jüngeren Mädchen bekanntgegeben worden. Jaffa und Lawrence hatten sich schon Sorgen gemacht, Adam könnte sich zu lange »zieren«, aber jetzt war es doch endlich passiert, und wenn sie sich mit der Planung beeilten, würde Rachel noch keine dreißig sein, wenn sie unter die Chuppa trat. Heute war also ein wichtiger Tag, und Jaffa Gilbert hatte keine Lust, sich auch noch um das rebellische Verhalten ihrer Nichte zu kümmern. Also drehte sie Ziva und Ellie ihren stattlichen Rücken zu und nahm Adams Gesicht zwischen ihre molligen Hände.

»Ach, Adam, Adam. Rachel lässt ausrichten, sie komme gleich nach, Bubele. Sie unterhält sich noch mit Brooke Goodman. Du brichst doch morgen Abend mit uns das Fasten, oder?«

Adam nickte. Sein Gesicht war immer noch zwischen Jaffas Handflächen eingeklemmt, und ihre vielen Ringe – schweres Silber und farbenfroher Modeschmuck – kratzten an seinen Wangen.

»Ich warte hier auf Rachel, geht ihr ruhig schon mal vor.«

»Ich gehe nirgendwohin, sondern lasse mich abholen«, erklärte Ziva und setzte sich auf eine niedrige Ziegelmauer. »Ich bin eine alte Dame und gehe bestimmt nicht zu Fuß nach Hause. Es steht nirgendwo geschrieben, dass ich das muss. Ich bin achtundachtzig und gebrechlich. Pikuach nefesch. Ich habe bereits heute Morgen bei Addison Lee angerufen, und Ellie fährt auch mit.«

»Du und gebrechlich? Eise meschuggas? At lo chola, Ima!«

»Scha, schtil«, entgegnete Ziva und wischte den Protest ihrer Tochter mit einer herablassenden Handbewegung beiseite. In diesem Moment hielt ein schwarzer Volkswagen am Straßenrand, und Ziva sprang behände auf die Füße und stieg ein, bevor Jaffa sie davon abhalten konnte. Ellie zwängte sich auf den Beifahrersitz, und das Auto fuhr los. Adam blickte ihm neugierig hinterher.

»Eise meschuggas?«, wiederholte Jaffa und zog beleidigt das Kinn an, wobei sich mehrere Speckfalten bildeten. Obwohl sie sich weitere Kommentare verkniff, erkannte man an der Heftigkeit, mit der sie die Arme vor ihrem gewaltigen, in Samt gehüllten Busen verschränkte, was sie von alldem hielt. Die Verlobung rückte die Familie am diesjährigen Jom Kippur ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit, was ein absolut korrektes Verhalten von allen Familienmitgliedern erforderte. Als Jaffa und Lawrence aufbrachen, machte Lawrence ein sorgenvolles Gesicht, während seine Frau in raschem Hebräisch aufgebracht auf ihn einredete. Er verstand zwar nicht alles, was sie sagte, stand aber bedingungslos hinter ihr. Lawrence war ein einfacher Mann, der ausschließlich und mit voller Hingabe für seine Frau und seine Tochter lebte. Erst wenn Jaffas seelisches Gleichgewicht wiederhergestellt war, war auch er wieder glücklich.

Adam setzte sich auf die Mauer, die Ziva und Ellie gerade verlassen hatten, und nickte grüßend den vielen vertrauten Gesichtern unter den Gemeindemitgliedern zu. Bei den meisten handelte es sich um entfernte Bekannte, deren Lebensweg er früher einmal gekreuzt hatte und die auch jetzt noch oft genug in seinem Leben auftauchten, dass er das eine oder andere über sie wusste, ohne sich aktiv um diese Informationen bemüht zu haben. So war das im jüdischen Nordwesten Londons – niemand verschwand je ganz von der Bildfläche. Stattdessen kreisten Adams Altersgenossen um einen unveränderlichen Mikrokosmos, kehrten vom College zurück, um sich ein Haus in Hendon zu mieten oder eine erste Wohnung in West Hampstead zu kaufen, in der Umlaufbahn gehalten von der warmen Sonne der jüdischen Gemeinde. Wenn sie doch einmal für kurze Zeit fernab weilten – zum Beispiel, weil sie für ein Jahr in eine Anwaltskanzlei in Shanghai versetzt wurden oder ihre Facharztausbildung in einer Klinik in Edinburgh absolvierten –, waren ihre Eltern weiterhin vor Ort und hielten den Kontakt, sodass ihre Koordinaten zu keiner Zeit verloren gingen. Erst an der Uni hatte Adam gemerkt, wie ungewöhnlich es war, von allen ehemaligen Kindergartenfreunden den derzeitigen Aufenthaltsort aufsagen zu können und zu wissen, ob sie geheiratet oder an Gewicht zugelegt hatten oder Beamte geworden waren. Selbst über ihr Sexualleben wusste er bestens Bescheid. Seine Kommilitonen fanden das völlig unbegreiflich, es sei denn, sie stammten aus einem sehr kleinen Dorf. Aber in einem kleinen Dorf ist es eher unwahrscheinlich, dass man wieder dorthin zurückkehrt, wenn man erst mal fortgegangen ist, wohingegen in Adams Heimatgemeinde niemand lange wegblieb.

An diesem Abend vor Jom Kippur waren sie alle gekommen: Hayley Pearl, die Schwester von Jaspers Freundin; Dan Kirsch, der mit Adam und Jasper in einer Pfadfindergruppe gewesen war und zwei Mal ein Tennisferienlager mit Rachel besucht hatte; Ari Rosenbaum, dessen Bruder die Exfreundin von Dan Kirsch geheiratet hatte. Adam lächelte ihnen allen zu, als sie an ihm vorbeigingen, doch seine Augen kehrten immer wieder zu den Stufen vor der Synagoge zurück, in Erwartung seiner zukünftigen Frau.

ZWEI

Das macht sie auf jeden Fall mit Absicht.«

»Was?«

»Man kann nicht mit halb nackten Titten in der Synagoge erscheinen, ohne es zu merken.«

»Adam, du sprichst hier von meiner Cousine! Und benutz bitte nicht dieses Wort.« Rachel gab ihm einen tadelnden Klaps auf den Unterarm und streichelte ihn sofort reumütig, als tue ihr ihre aufgesetzte Entrüstung bereits leid. Sie stritt nicht gerne mit Adam. »Vielleicht sind die Synagogenbesucher in New York nicht so konservativ wie hier.«

»New York ist doch kein anderer Stern. Ich glaube nicht, dass sie dort so viel toleranter sind.«

»Ach, ich weiß auch nicht. Irgendwie ist sie in allem das komplette Gegenteil von mir.«

»Stimmt«, gab ihr Adam recht. »Zum Glück!«

Sie fuhren gerade vor Zivas Haus in Islington vor, und bevor er sich umdrehte, um rückwärts in eine Parklücke zu fahren, drückte er zärtlich Rachels Arm. Sie hatte natürlich recht. Absolut alles an ihr war das Gegenteil von ihrer jüngeren Cousine. Ellie wirkte unstet und weltgewandt, während Rachel am glücklichsten war, wenn alles in gewohnten Bahnen verlief und sich möglichst nie änderte. Es wäre allerdings ungerecht gewesen, sie als ignorant zu bezeichnen. Dass es auch noch andere Lebensweisen gab als ihre, war ihr durchaus bewusst, aber sie kannte ihren Platz in der Welt und verspürte keinerlei Neugier auf Fremdes. Schon als sie sechzehn gewesen war, hatte Adam in ihren Augen das Leben ablesen können, das er mit fünfzig an ihrer Seite führen würde. Rachel wusste, wer sie war.

Was ihr Äußeres anging, unterschied sie sich ebenso deutlich von ihrer Cousine. Rachel strotzte geradezu vor Gesundheit. Ihre Haut war rosig, ihre glatten dunklen Haare schimmerten, und auf ihren gepflegten Fingernägeln glänzte Nagellack von Chanel. Ellie hingegen hatte auf ihn vor der Synagoge einen ziemlich ausgebrannten Eindruck gemacht, obwohl sie erst zweiundzwanzig war. Ihm waren ihre abgekauten Nägel und die entzündeten Nagelhäutchen aufgefallen, die tiefen Augenringe. Allerdings war sie schon vor Monaten von der Columbia University geflogen, wo sie angefangen hatte, Kreatives Schreiben zu studieren. Wenn sie schlaflose Nächte hatte, dann nicht, weil sie für die Uni paukte.

Ein abendlicher Regen hatte eingesetzt, leicht und lautlos, aber beständig genug, um die Welt durch die Windschutzscheibe verschwimmen zu lassen. Adam sprang aus dem Auto, öffnete Rachel die Tür und hielt seine Jacke über sie, damit ihre Haare nicht nass wurden. Seit der Verlobung führte er diese kleinen galanten Gesten mit besonderem Stolz aus, denn er sah Rachel nun mit anderen Augen. Sie war nicht mehr seine Freundin, sondern die Frau, der er seine Zukunft versprochen hatte. Umso deutlicher spürte er die Bürde seiner Verpflichtungen ihr gegenüber, die, unausgesprochen, natürlich auch schon vorher existiert hatten. Doch durch die Verlobung hatten sie sich nun konkretisiert. Rachel war die achtundzwanzigjährige Matriarchin zukünftiger Generationen von Newmans.

Er beobachtete sie, während sie mit vorsichtigen Schritten den unbeleuchteten Fußweg zu Zivas Haustür entlangging und seine Jacke dabei fest unter dem Kinn zusammenhielt, was ihr das Aussehen einer Nonne verlieh. Anders als Ellie mit ihren langen Gliedmaßen und spitzen Knochen war Rachel rund und weich und hatte dieselben üppigen Brüste wie ihre Mutter. An ihrem kleinen Körper wirkten sie lächerlich riesig, und Rachel schnallte und zurrte sie immer, so hoch sie konnte. Diese Brüste hatten ihr schon viele Stunden des Kummers und der Scham und Adam mindestens ebenso viele Stunden des Vergnügens bereitet. Er musste zugeben, dass seine Verlobte durch ihre große Oberweite ein wenig plump aussehen konnte, wenn sie nicht darauf achtete, ihre Taille zu betonen. In weiter Kleidung erweckte sie oft irrigerweise den Eindruck, ihr Körper stünde überall so weit vor wie auf Brusthöhe, ein Fass auf zwei Beinen. Aber unbekleidet waren ihre Brüste einfach göttlich. Zu ihren jetzigen Ausmaßen waren sie erst in den Jahren nach ihrem Kennenlernen herangewachsen. Er hätte niemals gedacht, dass das geblümte Bikinioberteil in Größe S, das er in Israel von Weitem bewundert hatte, so viel Potenzial entwickeln könnte. Irgendwann war es endlich so weit gewesen, und sie hatte sich für ihn ausgezogen. Da hatten sie vor ihm gelegen, die ersten Brüste, die er jemals berührt hatte. Auch jetzt noch konnte er sich keine schöneren vorstellen. Im Vergleich dazu sah Ellie aus wie ein Junge. Während Adam an der Tür klingelte, überlegte er flüchtig, in welcher Aufmachung sie wohl heute Abend erscheinen würde.

Ziva war allein, wie sie ihnen mitteilte, und hatte sich gerade Kaffee aufgebrüht. Adam und Rachel sollten sich doch bitte eine Kleinigkeit zu essen nehmen. Obwohl Ziva schon seit vielen Jahrzehnten in London lebte, hatte sie sich einen kernigen österreichischen Akzent und eine eigenwillige Grammatik bewahrt, wenn sie Englisch sprach – ihre fünfte Sprache nach Deutsch, Jiddisch, Französisch und Hebräisch. Dennoch besaß sie ein größeres Vokabular als die meisten englischen Muttersprachler. Ihr Weg hatte sie von Österreich in das damalige Mandatsgebiet Palästina geführt, und später von Israel nach London. Ziva, Jaffa, Rachel – drei Generationen, drei Muttersprachen, eine typische jüdische Familie. Wenn Adam und Rachel einmal Nachwuchs bekamen, würden es seit fast einem Jahrhundert die ersten Kinder sein, die im selben Land geboren wurden wie ihre Mutter.

Erst nachdem er mehrmals zu Besuch gewesen war, hatte Adam bemerkt, dass Ziva in jedem Zimmer Essbares hortete. Wie üblich hatte sie auch heute eine Schüssel Schlagsahne auf dem Kaffeetablett stehen, aber Adam hatte noch nie jemanden gesehen, der sich davon bediente. Auf Papieruntersetzern standen Kristallschälchen mit gezuckerten Mandeln bereit, und ein langes Boot aus dunklem Kokosholz lag für immer auf dem Wohnzimmertisch vor Anker, bis oben hin gefüllt mit kleinen, einzeln verpackten Schokoladentäfelchen, wie sie im Flugzeug oft zum Kaffee gereicht werden. In einer mit Birnen bemalten Schale fristeten Trockenfrüchte ihr Dasein, und in einer Waterford-Zuckerdose neben dem Telefon setzten Rosinen Staub an. Auf der Anrichte reihten sich neben einer großen Schale mit Pistazien mehrere Karaffen mit hochprozentigen Pflaumen- und Kirschschnäpsen. Adam erinnerte sich noch genau daran, wie Rachel ihm eines Nachmittags erzählt hatte, dass ihre Großmutter an Jom Kippur niemals faste. Stattdessen sei es der einzige Tag im Jahr, an dem sie Kuchen backe, mehr schlecht als recht zwar, aber mit großer Verbissenheit, bis die Sterne am Himmel leuchteten und das Fasten vorbei sei. Mit sechzehn Jahren war er empört gewesen, so respektlos und gotteslästerlich war ihm dieses Verhalten erschienen, doch als ihm Ziva einige Jahre später mit würdevoller Ruhe erklärt hatte, sie habe in ihrem Leben schon mehr als genug gehungert, hatte er sich für seine selbstgerechte Missbilligung geschämt.

Jetzt nahmen sie im Wohnzimmer Platz: Ziva und Rachel auf einem riesigen Chippendale-Sofa mit Mahagonifüßen und weinrot-senfgelb gestreiften Polstern, Adam gegenüber auf einer Bauhaus-Liege aus schwarzem Leder, die ganz und gar nicht zum Rest der Möbel passte. Die Chrombeine der Liege hatten sich über die Jahre in den darunter liegenden Perserteppich gegraben.

Ziva streckte sich unter Schwierigkeiten nach ihrer Tasse. Als sich Adam jedoch vorbeugte, um sie ihr zu reichen, wies sie seine Hilfe mit einem Stirnrunzeln zurück, atmete pfeifend durch die Zähne aus und versuchte es erneut. Ihre Enkelinnen wussten längst, dass Ziva nur dann Unterstützung akzeptierte, wenn sie ausdrücklich den Befehl dazu erteilt hatte – ungebetene Hilfsangebote waren in ihren Augen eine ernsthafte Beleidigung und wurden mit Verachtung gestraft. Schließlich fehle ihr nichts, wie sie beharrlich behauptete. Sie sei nur ein wenig steif vom langen Stillsitzen, und dagegen helfe am besten Bewegung. Dennoch verunsicherte es Adam zutiefst, dass er ihr nicht helfen durfte.

»Glaubst du etwa, ich würde nie selbstständig meine Teetasse vom Tisch nehmen und zum Mund führen, wenn ich allein bin, sondern einfach nur dasitzen und sie anstarren?« Nachdem sie die Untertasse samt Tasse endlich in der Hand hielt, lehnte sie sich zufrieden auf dem Sofa zurück und blickte von Rachel zu Adam. »So. Und jetzt erzählt ihr mir, wie es euch in letzter Zeit ergangen ist.«

»Es ist einfach wunderbar, Oma!«, schwärmte Rachel. »Alle sind so lieb zu uns, seit wir uns verlobt haben. Ständig gratulieren uns Leute, die wir kaum kennen, alle scheinen es zu wissen. Und neulich waren wir auf einer Party bei Ethan und Brooke Goodman mit bestimmt hundert Gästen und haben reihenweise Einladungen zum Abendessen entgegengenommen.«

»Es ist immer ein Vergnügen, ein frisch verlobtes Paar bei sich zu Gast zu haben. Im Leben gibt es nicht so viele schöne Dinge, deshalb will jeder ein Stück davon abhaben. Apropos, das hatte ich ganz vergessen: Holt doch bitte mal die Sachertorte. Sie steht in der Küche auf dem Tisch. Und Teller.«

»Nein, danke, für mich nicht.« Rachel legte schützend die Hand über ihren Bauch.

»Schscht. Nicht für dich, für Adam. Du wirst bis zur Hochzeit nichts Essbares mehr anrühren, wie ich dich kenne. Aber Adam hätte gerne ein Stückchen Torte, und ich auch.«

Rachel errötete. Während Adam die Torte holte, dachte er darüber nach, wie oft sie seit der Verlobung schon ein Stück Kuchen oder Torte zurückgewiesen hatte. Dieses untypische Verhalten amüsierte ihn, und er war gespannt, was dabei herauskommen würde. Keine der unzähligen Diäten, die Rachel im Laufe der Jahre begonnen hatte, hatte je auch nur die geringste Wirkung gezeigt, doch er ahnte, dass es diesmal anders sein würde.

»Und die Hochzeit wird wann stattfinden?«, fragte Ziva.

»Nächstes Jahr August, hatten wir gedacht«, antwortete Rachel und warf Adam einen Blick zu, weil sie genau wusste, dass er weniger an nächstes Jahr August gedacht hatte als an dieses Jahr Dezember. Rachel und ihre Mutter bestanden auf ihrer These, die Planung einer Hochzeit nehme viele Monate in Anspruch, und gegen das glühende Temperament einer Jaffa Gilbert, die ständig in alles ihre Nase steckte, kam man nicht an. Aber auch ohne Jaffas Einmischung hätte Adam sich vermutlich Rachels Wünschen gefügt, denn er konnte ihr in letzter Zeit überhaupt nichts mehr abschlagen. Sie war ihm noch nie so reizend und so wunderschön vorgekommen wie jetzt, wo in ihren dunklen Augen eine neue Schüchternheit lag, die ihm sehr zu Herzen ging. Manchmal hob er den Kopf und ertappte sie dabei, wie sie ihn mit einer merkwürdigen Mischung aus Angst und Hoffnung anblickte. Trotz der vielen gemeinsamen Jahre fühlte sich zwischen ihnen alles neu und aufregend an, was von der schieren Unermesslichkeit der Zukunft herrühren musste, der sie gemeinsam entgegensahen. In Anbetracht des langen Ehelebens, das vor ihnen lag, hatten sie sich quasi gerade erst kennengelernt, ein Gedanke, bei dem er sich plötzlich wieder sehr jung fühlte. Dennoch war ihm klar, dass mit der Hochzeit endgültig der Ernst des Lebens beginnen würde. Er erwiderte Rachels Lächeln, trotz ihrer kleinen Rebellion gegen ihn.

»Bis August bin ich längst tot«, erklärte Ziva. »Danke«, fügte sie hinzu und nahm einen Teller von Adam entgegen.

»Oma!«

»Könnte doch sein. Warum so lange warten?«

»Ganz meine Rede«, sagte Adam, der dankbar war, eine Verbündete gefunden zu haben.

»Die Hochzeitsvorbereitungen dauern eine Ewigkeit. Wir müssen ein Hotel finden, ich brauche ein Kleid, der Blumenschmuck muss …«

»Dann heiraten wir eben an einem ganz normalen Wochentag in der Synagoge, und Ziva schmeißt für uns hier den anschließenden Empfang. Das machst du doch, oder, Ziva?«

»Das mache ich ganz sicher nicht, weil meine Tochter sich querstellen wird. Ihr werdet also im Hotel heiraten, mit allem Drum und Dran. Aber warum nicht früher?«

»Weil früher das Wetter schlecht ist.«

»Soweit ich weiß, haben heutzutage die meisten Hotels ein Dach. Wirklich eine wunderbare Erfindung.«

»Die Hochzeit findet im August statt, Oma, und so Gott will, wirst auch du dabei sein.«

»Gott. Haha. Für jemanden, den es gar nicht gibt, hat er mir schon eine Menge Kummer bereitet.«

Rachel, die fast genauso häufig mit Gott sprach wie mit ihrer Mutter, öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Ziva fuhr ungerührt fort: »Erzähl doch mal von der Party bei den Goodmans, Rachele.«

»Du hast gesagt, dass du nicht mitwillst, weil es bestimmt eine ›Inszenierung‹ wird«, sagte Rachel bockig.

»Sehr richtig, das habe ich gesagt. Und es war zweifellos auch eine einzige große Inszenierung, aber eine, über die ich gerne alles erfahren würde, wenn ihr so nett wärt. Ethan Goodman ist ein liebenswerter Mensch und ein sehr besonnener Geschäftsmann. Ich habe wirklich keine Ahnung, warum er auch noch für Hinz und Kunz diese Partys schmeißen muss.«

»Weil sie einem guten Zweck dienen«, merkte Adam an.

»Weil sie seinem gesellschaftlichen Fortkommen und der Prahlerei dienen«, konterte Ziva.

Die Goodmans waren ein ewiges Rätsel. Niemand schien zu wissen, wie Ethan Goodman zu seinem Vermögen gekommen war. Selbst diejenigen, die ebenfalls in der Finanzbranche arbeiteten, konnten keine zufriedenstellende Auskunft darüber erteilen. Ethan und seine Frau Brooke waren bereits wohlhabend aus Kalifornien aufgetaucht und noch reicher geworden, nachdem sie in Mayfair mehrere private Investmentfonds gegründet hatten. Im Nordwesten Londons interessierte man sich weniger für das genaue Zustandekommen ihres offenbar stetig wachsenden Wohlstands als für ihr uneingeschränktes Engagement für die Gemeinde. Die Goodmans wurden in Ausschüsse und Gremien gewählt, stellten den Festsaal ihrer Villa an der Bishops Avenue jedem zur Verfügung, der einen großen Veranstaltungsort brauchte, und zogen ihre karitative Arbeit fast schon wie ein professionelles Wirtschaftsunternehmen auf. Auf jeder Charity-Einladung, die Adam je in den Händen gehalten hatte, war die Goodman Charitable Foundation im Kleingedruckten des Briefkopfs zu finden gewesen. Brooke Goodman, eine durchtrainierte Blondine Ende vierzig, die von Adams Mutter beinahe ebenso sehr für ihren Trizeps wie für ihre Großzügigkeit bewundert wurde, hatte einmal spontan einen privaten Scheck über eine Million Pfund unterschrieben, als ein Videoaufruf bei der eher bescheidenen kleinen Spendengala eines Kinderhilfswerks sie zu Tränen gerührt hatte, und Ethan war schon dabei beobachtet worden, wie er auf der Benefiz-Auktion einer Alzheimer-Stiftung zweihunderttausend Pfund für ein Gemälde bot, das er zuvor selbst gestiftet hatte. Es hieß, der Goodman ABS Fonds biete, was es nur äußerst selten gebe: einen sicheren, risikoarmen Wertpapierbestand, der durchgehend hohe Rendite abwerfe. Ethan Goodman verwaltete inzwischen die Vermögen verschiedener enger Freunde, die – so wurde gemunkelt – bereits reich belohnt worden seien für ihr Vertrauen.

Es klingelte an der Tür, und Adam stand auf, um zu öffnen.

»Das ist Ashish – gibst du ihm bitte ein Pfund Trinkgeld?«, rief Ziva ihm hinterher. Rachels Großmutter konnte nicht kochen und fuhr daher jeden Mittag mit dem Bus nach Golders Green, wo sie im jüdischen Zentrum für Holocaust-Überlebende zu Mittag aß. Ansonsten kochte Jaffa für sie mit und brachte ihr jede Woche ein Brathähnchen oder eine Lachshälfte vorbei, und wenn das einmal nicht der Fall war, bestellte Ziva beim Lieferservice.

Adam fischte ein paar Münzen aus der Tasche und öffnete die Tür, in der Erwartung, eine warme Plastiktüte mit in Folie verpacktem Naan-Brot in die Hand gedrückt zu bekommen. Stattdessen landete Ellie Schneiders Hand in seiner, bevor Rachels Cousine in schwindelerregend hohen Stiefeln über die Türschwelle trat und sich dann an Adam abstützte, um sich ihres Schuhwerks zu entledigen. Ein winziger schwarzer Hund trippelte hinter ihr herein und gab ein hohes, krächzendes Bellen von sich.

»Ellie.«

»Hey, Cousin.«

Ein Auto hupte zwei Mal, und sie ließ Adam los, drehte sich um und winkte. Über ihre Schulter hinweg sah Adam einen sehr alten Morris Minor wegfahren, auf dessen grellem orangefarbenem Lack sich einige Rostflecken befanden. Es handelte sich um ein Cabriolet, dessen heruntergelassenes Verdeck den Blick auf einen skandinavisch hellblonden Haarschopf freigab. Der Mann am Steuer hatte die Hand zum Abschied erhoben und trug einen breiten goldenen Ehering.

Adam sah zu, wie das Auto hinter der nächsten Straßenecke verschwand, und drehte sich dann wieder zu Ellie um, die nur sagte: »Ein Freund von mir. Wir waren zusammen shoppen.«

Ohne noch etwas hinzuzufügen, setzte sie sich auf die unterste Treppenstufe und fing an, sich mit zufriedenem Stöhnen die Zehen zu massieren. Der Hund, dessen vorstehende Augen zwischen dem langen seidigen Fell kaum zu sehen waren, fing an, sich jaulend im Kreis zu drehen. Seine zuckende Hysterie erinnerte Adam an den künstlichen Hasen, der bei Hunderennen zum Einsatz kam.

»Rocky, Rocky! Gib Ruhe, Kleiner. Oh Mann, ich hätte diese Dinger nicht anziehen sollen.«

»Aus mehreren Gründen«, stimmte ihr Adam zu und musterte missbilligend die langen schwarzen Wildlederröhren, die jetzt auf dem Boden lagen und eben noch Ellies Beine geziert hatten. Sie waren schenkelhoch und unterschieden sich nur durch ihre Absätze – verspielte Türme aus knorrigem, glänzendem Treibholz – vom typischen Rüstzeug einer Prostituierten. Sobald er seine Kritik ausgesprochen hatte, bereute er sie auch schon. Schließlich war er nur sechs und nicht sechzig Jahre älter als sie. Was Ellie trug, ging ihn überhaupt nichts an. Im Gegensatz zu Rachel war sie nicht seine Verlobte.

Mit einem Fuß in jeder Hand saß sie vornübergebeugt da und sah ihn schweigend an, mit großen hellgrünen, ausdruckslosen Augen. Jetzt, wo ihn die Stiefel nicht mehr ablenkten, musterte er auch den Rest ihres Outfits. Ihr Pullover war riesig und formlos, und ihre Daumen ragten aus Löchern in den Armbündchen. Dazu trug sie blaue Söckchen mit grinsenden weißen Kaninchen darauf. Adam registrierte, dass er ein wenig zu ruppig gewesen war.

»Bald sind wir wirklich Cousin und Cousine«, sagte er mit sanfterer Stimme.

»Ja. Masel. Willkommen in der Familie.«

»Danke.«

»Allerdings gehörst du wahrscheinlich schon viel mehr dazu als ich. Ich glaube, meine Tante tut seit fünf Jahren nichts anderes, als eure Hochzeit zu planen.«

Adam lächelte. »Zehn trifft es vermutlich eher.«

Ellie zog sich den Pullover über die nackten Knie und versteckte ihre Hände wieder in den Ärmeln. Rocky sprang in die Hängematte, die der Pullover in ihrem Schoß bildete. »Hast du keine Angst davor, dich schon so jung zu binden?«

»Nein, ich bin froh, jetzt alles in geordneten Bahnen zu wissen.« Ihm ging auf, dass das ziemlich unromantisch klang, weshalb er hinzufügte: »Rach ist die perfekte Frau.«

»Hier bei euch ist einfach alles perfekt«, sagte Ellie, und aus ihrem Mund klang es wie eine Krankheit.

»Freust du dich nicht, wieder in London zu sein?«

»Na ja … Irgendwie ist es ein ziemlicher Kulturschock. Ich hatte komplett vergessen, wie es hier ist. Ganz schön überwältigend. Jeder ist so glücklich und hat ein schönes Haus und ist mit allen befreundet. Wenn man hier aufwächst, ist man anscheinend automatisch süß und hübsch und glücklich und angelt sich einen süßen, hübschen Jungen, mit dem man sesshaft wird.« Sie sah Adam an. »Perfekt.«

»Nichts ist wirklich perfekt. So etwas gibt es nicht.«

»Nein? Bis auf Rachel, das hast du gerade selbst gesagt.«

Er ärgerte sich darüber, dass sie ihn bei einem Widerspruch ertappt hatte. »Außerdem: Wer spricht denn von ›sesshaft werden‹?«

du

»Keine Ahnung«, antwortete er und wunderte sich sofort, warum er das Gegenteil von dem sagte, was er dachte.

»Ach nein? Ganz schön fantasielos.« Ihr Tonfall hatte sich geändert. Er hatte sie enttäuscht, das spürte er.

»Komm doch rein und sag Rachel Hallo. Eure Großmutter hat indisches Essen bestellt, es müsste jeden Moment da sein.«

»Ich komme sofort, aber erst muss ich Rocky noch seine Augentropfen holen.«

Sie stand auf und klemmte sich den winzigen Hund wie eine Handtasche unter den Arm. Wie sie über Adam auf der Treppe aufragte, sah sie durchaus nicht mehr verletzlich aus, sondern war wieder ganz das unnahbare Model, das er in der Synagoge gesehen hatte – zu viel nackte Haut und intelligente, wissende Augen. Ihr Pullover war ihr von der Schulter gerutscht, und er war sich ihrer nackten Beine, ihrer Pfirsichhaut und ihrer langen Muskeln direkt vor seinen Augen nur allzu deutlich bewusst. Für einen kurzen Moment verspürte er den heftigen Drang, die Hand auszustrecken und Ellie zwischen den Schenkeln zu berühren.

Er machte einen Schritt nach hinten und wandte sich beschämt ab. Plötzlich war er wütend auf sich selbst. Er hatte geglaubt, gegen die billige Verlockung einer ansprechenden Fassade immun zu sein, und jetzt musste er bestürzt feststellen, dass das nicht stimmte. Ich respektiere Ellie doch gar nicht, redete er sich ein. Das müsste doch eigentlich genügen, um sie in meinen Augen unattraktiv zu machen.

So leicht es war, Ellie in Gedanken abzulehnen, so schwer fiel es ihm, wenn er in ihrer Nähe war. Sein Körper reagierte auf ihren Anblick, und dann spielte es plötzlich keine Rolle mehr, was er über sie dachte, weil er in ihrer Anwesenheit nicht mehr denken konnte. So etwas hatte er noch nie zuvor erlebt. Er fühlte sich erbärmlich, als er ihr nachblickte, während sie die Treppe hinaufging. Bloßgestellt.

Sie drehte sich um. »Ach ja, Adam: Ich würde gerne mal in Ruhe mit dir reden. Kommst du bald wieder?«

»Klar, gerne«, antwortete er und fragte sich, ob er es auch so meinte. Als er Ziva etwas rufen hörte, öffnete er schnell die Tür zum Wohnzimmer. Er sehnte sich danach, Rachels beruhigende Hand in seiner zu spüren.