Für diese neue Ausgabe von Leichenfresser danke ich allen bei Deadite Press. Andrew van den Houten, Gregory Wilson, William Miller, der gesamten Besetzung und Mannschaft der Verfilmung, den Leuten bei ChillerTV, Kelli Own, John Urbancik, Tod Clark und Mark Sylva, Kelly Perry, Dallas Mayr, Don Coscarelli, Mary SanGiovanni, Cassandra Burnham und meinen Söhnen.
Timmy und Doug starrten durch Timmys Zimmerfenster und beobachteten den sintflutartigen Regen. Es goss wie aus Eimern und der Sturm peitschte die Wipfel der Bäume hin und her wie Federn. Sie lauschten den Windglöckchen seiner Mutter, die bimmelten und sich unkontrollierbar drehten, als die tosenden Böen sie umherwirbelten. Am nächsten Morgen würde der Boden übersät von herabgefallenen Ästen und Blättern sein. Beide fragten sich, ob der Strom ausfallen würde, doch bislang war es nicht dazu gekommen. Timmys Digitaluhr schimmerte in der Dunkelheit. Die Regentropfen prasselten wie Hagelkörner auf das Dach.
Das Gewitter hatte kurz nach Mitternacht begonnen, gewaltvoll, zornig, Aufmerksamkeit gebietend. Trotzdem hatte es Randy und Elizabeth nicht geweckt, die ungeachtet der misstönenden Donnerschläge weiterschliefen. Auch die Jungen hatte es nicht geweckt, denn sie waren bereits wach gewesen. Tatsächlich hatten sie gar nicht geschlafen. Stattdessen hatten sie Comichefte gelesen und Monopoly gespielt, wobei sie darüber stritten, wer die Bank verwaltete und wer das Auto als Spielstein bekam. Außerdem hatten sie sich im Spätprogramm Das Böse angesehen. Der Film gefiel ihnen beiden, nicht nur weil es sich um einen Horrorstreifen handelte, sondern auch wegen des Hauptdarstellers. Er glich einem Spiegelbild ihrer selbst, samt einem Friedhof als Spielplatz. Doug war wegen der fliegenden Silberkugeln, die ihre Opfer in Stücke rissen, ziemlich ausgeflippt, ebenso wegen der schauerlichen Kapuzenzwerge und des morbiden Bösewichts, eines übernatürlich anmutenden Bestattungsunternehmers, der als »Tall Man« bezeichnet wurde. Timmy hatte sich lediglich darüber geärgert, dass all die guten Szenen herausgeschnitten worden waren, und wünschte sich wie so oft einen Videorekorder, um sich Filme unzensiert ansehen zu können. Er verstand nicht, warum Loni Anderson in einem Badeanzug auf WKRP in Cincinnati herumstolzieren konnte, Blut und Eingeweide aber nicht gezeigt werden durften.
Als Elizabeth gegen elf den Kopf zur Tür hereingestreckt und sie aufgefordert hatte, das Licht auszuschalten, gehorchten sie und legten sich etwas widerwillig in die Betten. Die vergangenen zwei Stunden hatten sie damit verbracht, sich im Flüsterton im Licht einer Taschenlampe zu unterhalten, bis das Gewitter sie unterbrach.
»Tja«, meinte Timmy enttäuscht. »So viel dazu, den Tunnel heut Nacht zu erkunden.«
»Glaubst du, Barry wird sich rausschleichen?«
»Nicht bei dem Wetter. Ich schätze, wir werden’s auf morgen verschieben müssen. Wie geht’s deinem Knöchel?«
»Besser. Ich denke, er ist bald verheilt. Trotzdem hätt ich zu gern gewusst, was mich da erwischt hat.«
»Ach, bestimmt nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.«
Timmy saß mit untergeschlagenen Beinen im Bett. Er trug einen karierten Pyjama. Doug lag ausgestreckt auf dem Boden in dem behelfsmäßigen Lager, das Timmys Mutter für ihn gemacht hatte, bekleidet mit seinen Boxershorts und einem von Randy Gracos ausgewaschenen alten T-Shirts, weil Timmys Hemden ihm nicht passten. Das T-Shirt verkündete stolz: ORTSGRUPPE 1407 DER PAPIERINDUSTRIE. Auf der Rückseite stand: HERGESTELLT IN AMERIKA BEDEUTET HERGESTELLT VON DER GEWERKSCHAFT. Er stützte sich auf die Ellbogen und blickte erneut durchs Fenster nach draußen.
»Mann«, flüsterte Doug, um Timmys Eltern nicht zu wecken. »Da fällt ja echt ganz schön was runter. Sieh nur, wie der Regen im Garten hochspritzt.«
»Ja. Wenn das so weitergeht, steigt der Codorus Creek mit Sicherheit an. Dann können wir morgen Schlauchraften gehen.«
»Was ist mit dem Tunnel?«
»Den können wir auch morgen Nacht noch erkunden. Wahrscheinlich ist es ohnehin besser, bis zum Einbruch der Dunkelheit zu warten. Dann ist die Gefahr geringer, erwischt zu werden.«
»Und woher kriegen wir Schläuche?«
»Barrys Dad hat ein paar in der Garage liegen. Ich hab sie gesehen, als Barry und ich nach seinem Football gesucht haben. Vier Reifenschläuche von einem Traktor – große, wie man sie auf einer Baustelle findet.«
»Woher hat er die?«
»Keine Ahnung.« Timmy verstummte. »Da wir grade davon reden ... Ist dir in letzter Zeit etwas an Barrys Dad aufgefallen?«
»Abgesehen davon, dass er noch gemeiner ist als sonst? Nein.«
»Er hat eine Menge Zeug, das er vorher nicht hatte.«
»Was meinst du?«
»Als hätte er mehr Geld oder so. Mrs. Smeltzer trägt neuen Schmuck. Barry kriegt angeblich ein neues BMX-Rad. Und so, wie Barry redet, sind sie in letzter Zeit oft zum Essen ausgegangen.«
»Du hast das schon mal erwähnt. Am Tag, als dein Opa ... na ja, an dem Tag eben.«
Timmy verspürte bei der Erwähnung seines Großvaters einen Anflug von Traurigkeit. »Ja, aber seither ist mir noch viel mehr aufgefallen.«
»Vielleicht versucht sein Dad, einen Teil der Scheiße wiedergutzumachen, die er abgezogen hat. Indem er ihnen Sachen kauft.«
»Ja«, meinte Timmy. »Vielleicht. Aber das erklärt immer noch nicht, woher er all das Geld hat. Sie sind zwar nie bettelarm gewesen, trotzdem hat er immer darüber gemosert, dass ihm die Kirche nicht genug bezahlt.«
Ein greller Blitz erhellte Dougs Gesicht. »Vermutlich hat er eine Lohnerhöhung bekommen.«
»Schon möglich. Wundert mich nur, dass Barry nichts davon erwähnt hat. Als die Gewerkschaft zuletzt für meinen Dad eine Lohnerhöhung rausgeschlagen hat, sind wir zum Feiern ins Chuck E. Cheese gegangen.«
»Vergiss das mal alles«, sagte Doug. »Woher er die Schläuche hat, spielt keine Rolle. Wie schaffen wir sie aus der Garage raus, ohne dass er’s merkt?«
»Wenn’s den Anschein hat, als ob er ein Problem damit haben könnte, warten wir, bis er mit der Arbeit beschäftigt ist – oder bis er drinnen weggetreten ist. Dann brauchen wir sie nur noch aufzublasen und dafür können wir die Luftpumpe unten an der Old-Forge-Tankstelle nehmen.«
Dougs Züge hellten sich auf. »Wenn wir schon dort sind, kann ich mir gleich ein paar Hershey’s-Riegel kaufen. Und die haben dort Sinistar und Golden Axe und Spy Hunter. Und diese coolen alten Flipper, mit denen unsere Väter als Kinder gespielt haben.«
»Dein Dad hat geflippert?«
Doug zuckte die Achseln und begann, die Begleitmusik von Spy Hunter zu summen.
Timmy schüttelte den Kopf. »Kumpel, vergiss das mal. Willst du den ganzen Tag Videospiele spielen oder willst du Schlauchraften gehen? Wir können uns von Bowmans Wald durch Colonial Valley ganz runter bis in den Teich der Papierfabrik treiben lassen. Dann laufen wir zurück nach Hause. Wir müssen nur drauf achten, nicht an Ronnys oder Jasons Haus vorbeizugehen. Das wird lustig. Wir könnten sogar unsere Angelruten mitnehmen und Karpfen fangen, während wir den Bach runtertreiben.«
»Was ist mit Schnappschildkröten? Der Bach ist voll davon. Und Wasserschlangen. Ich mag keine Schlangen.«
»Ich nehm meine Kanone mit. Wenn wir eine sehen, knall ich sie ab, bevor sie auch nur in unsere Nähe kommt.«
»Du meinst, falls dich deine Ma lässt.«
Timmy zuckte mit den Schultern. »Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß. Ich wüsste nicht, warum ich ihr jede Kleinigkeit melden sollte, die ich tagsüber unternehme. Wir sind ja nicht in Russland.«
»Manchmal wünschte ich, meine Ma würde mich fragen, wohin ich gehe und was ich treibe. Wäre schön, zu wissen, dass ihr was an mir liegt.«
Timmy wusste nicht recht, was er darauf erwidern sollte. »Ihr liegt was an dir, Mann. Sie hat ... bloß eine merkwürdige Art, es zu zeigen.«
Ihm wurde auf Anhieb klar, wie unaufrichtig er sich anhörte.
Doug antwortete nichts darauf. Er starrte in den Regen hinaus und beobachtete, wie die Tropfen an den Fensterscheiben herunterliefen und vom Dach des Schuppens der Gracos strömten.
»Ernsthaft«, sagte Timmy, obwohl er es selbst nicht glaubte, »du weißt doch, dass sie dich liebt, oder?«
Langsam sah Doug ihn an. Seine Unterlippe zitterte, und in den Augen hatte er einen gequälten, wilden Ausdruck, den Timmy noch nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Sein Gesicht war erbleicht.
»Das ist es ja grade. Sie liebt mich zu sehr. Sie ...«
Er schluchzte und konnte nicht weitersprechen. Schniefend wandte er sich ab. Er ballte die Hände zu Fäusten und schlug sich damit wieder und wieder auf die Beine.
Timmy streckte den Arm aus. »He.«
Dougs gesamter Körper begann zu beben. Er gab einen Laut wie ein verwundetes Tier von sich.
»Sie ...«
»Doug, was ist?«
Ein Teil von Timmy fürchtete, die Antwort bereits zu kennen, und ein anderer Teil von ihm fürchtete sich noch mehr davor, dass sich sein Verdacht bestätigen könnte – davor, was es für seinen Freund und für sie alle bedeuten könnte. Einen Verlust der Unschuld, einen dunklen Übergang von der Kindheit in den Beginn der Männlichkeit. Nicht einmal sich selbst gegenüber vermochte er, die Emotionen zu beschreiben, doch sie waren vorhanden, steckten tief in ihm, sprudelten an die Oberfläche und quollen über den Rand.
»Was immer es ist, du kannst es mir erzählen.«
»Sie ... oh Gott!«
Tränen rollten über Dougs Wangen. Als er zu reden anfing, begann er langsam, würgte jede Silbe, jedes Wort qualvoll gedehnt hervor. Aber je weiter er kam, desto schneller sprach er – und bestätigte alles, was Timmy befürchtet hatte.
»Sie ... sie kommt nachts zu mir. In mein Zimmer. Wenn ich schlafe. Sie f-fasst mich an. Da unten. Und ich will nicht, dass es mir gefällt. Ich will keinen ... du weißt schon, keinen Steifen kriegen. Aber ich tu’s trotzdem. Tief in mir will es ein Teil von mir. Ich kann nichts dagegen tun. Ich kann es nicht kontrollieren. Sie nimmt ... nimmt mein Ding ... in den Mund ... und ich kann sie nicht aufhalten. Und dann passieren Sachen. Ich mag nicht, wie es sich anfühlt, trotzdem lasse ich es sie tun.«
Doug schauderte angesichts der Erinnerungen, und Timmy stellte fest, dass es ihm genauso erging.
»Wie lange?«
Verwirrt sah Doug ihn an. »Wie lange was?«
»Wie lange geht das schon so?«
»Es hat angefangen, nachdem mein Dad verschwunden ist. Kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Manchmal ist alles verschwommen, verstehst du? Sie hat ihren Job als Krankenpflegerin in der Privatschule verloren. Etwa um dieselbe Zeit ist Dad abgehauen. Statt sich irgendwo anders eine Stelle als Schulkrankenpflegerin zu suchen, ist Ma einfach zu Hause geblieben und hat angefangen, zu trinken. Sie hat vor dem Fernseher gehockt, vor sich hingestarrt und geweint oder sich zwölf Stunden am Stück in ihrem Zimmer eingeschlossen. Irgendwann hat sie damit begonnen, die ganze Nacht wach zu bleiben, meist betrunken, und dann den ganzen Tag zu schlafen. Und um die Zeit ging’s damit los, dass sie nachts in mein Zimmer kam. Timmy – die Sachen, die sie sagt ... die Dinge, die sie tut ... Irgendwie fühlen sie sich gut an. Und das ist das Schlimmste daran – weil sie das nicht sollten. Barry und du reißen Witze darüber, wenn wir im Bunker sind und die Briefe in diesen Zeitschriften lesen, aber im echten Leben ... Im echten Leben ist es grauenhaft. Man will so was nicht hören. Nicht von der eigenen Mutter. Nicht von ...«
Der Rest ging in Tränen unter. Er ließ den Kopf hängen und schluchzte in seine Brust. Nach einer Weile stieg Timmy aus dem Bett und tapste zu ihm hinüber. Er setzte sich hin, zögerte kurz und schlang den Arm um seinen besten Freund. Doug versteifte den Körper, rührte sich jedoch nicht. Lange Zeit verharrten sie so. Gelegentlich drückte Timmy die Schulter seines Freundes.
Draußen grollte der Donner. Ein weiterer heftiger Schlag ließ die Fenster vibrieren. Bei dem Geräusch zuckten beide Jungen zusammen, dann beruhigten sie sich wieder.
»Deshalb hab ich innen an meiner Tür ein Schloss angebracht«, erklärte Doug und wischte sich die Nase mit dem T-Shirt ab. »Barry und du, ihr habt mich wegen diesem Riegel ausgelacht, aber ihr habt es nicht verstanden. Ihr habt es nicht gewusst. Der ist dafür da, dass sie nicht reinkommen kann. Früher kam sie oft rein, wenn ich schlief. Ich bin dann aufgewacht und da stand sie im Mondlicht, manchmal nackt. Ein paar Mal hat sie so’n Zeug wie die Frauen auf den Faltpostern aus den Zeitschriften getragen. Oder schlimmer noch, manchmal lag sie auch schon im Bett bei mir. Unter der Decke, wo sie ... Sachen mit mir gemacht hat.«
Timmy nickte. Ihm war speiübel. Er stellte sich vor, wie Carol Keiser die Dinge tat, die Doug beschrieb, und wünschte sich sofort, er hätte es nicht getan.
»Ich musste ihr immer versprechen, nichts davon zu erzählen. Es sei unser Geheimnis, hat sie gesagt, weil es sonst niemand verstehen wird, und wenn ich es doch jemandem verrate, dann würde mein Dad vielleicht nie zurückkommen oder man wird mir sie auch noch wegnehmen.«
»Und was hast du gemacht?«
»Was konnte ich schon tun? Ich hab gar nichts gemacht. Ich hab nur da gelegen und ... es ertragen.«
»Großer Gott.«
»Wenn es vorbei war, ist sie manchmal zurück in ihr Zimmer oder ins Wohnzimmer gegangen. Einige Male ist sie auch bewusstlos geworden. In meinem Bett. So betrunken war sie. Ein paarmal hat sie mich mit dem Namen meines Dads angeredet, einmal mit dem von jemand anderem.«
»Von wem?«
»Jemanden, den ich nicht kenne. Irgendein Kerl. Harry. Wer weiß? Könnte ein früherer Freund von ihr gewesen sein, oder vielleicht hat sie meinen Dad auch betrogen.«
Oder vielleicht, dachte Timmy, war es ein anderer Junge. Jemand wie du, Doug. Immerhin war sie Schulkrankenpflegerin an einer Privatschule für Knaben.
Doug stand auf und holte sich ein Taschentuch aus dem Karton auf Timmys Kommode. Er putzte sich die Nase und setzte sich wieder. Seine Hände kneteten das zerknüllte Taschentuch, rollten es hin und her, kneteten es weiter, rollten es wieder.
»Ein paarmal«, fuhr er fort, »hat sie gemeint, ich sollte euch öfter bei mir übernachten lassen. Barry und dich. Sie hat gesagt, wenn ich euch davon überzeuge und ihr versprecht, nichts zu erzählen, würde sie euch auch Dinge mit ihr machen lassen. Sie anfassen und ... so was eben. Ich hab euch nie was davon gesagt, weil ich Angst hatte, ihr würdet es vielleicht jemandem verraten oder ...« Er verstummte und schüttelte den Kopf.
»Oder was, Doug?«
»Nichts.«
»Komm schon, Mann. Du kannst es mir ruhig sagen. Jetzt hast du mir schon so viel erzählt.«
»Und das hätte ich nicht tun sollen. Du darfst es niemandem weitersagen, Timmy. Keiner Menschenseele.«
»Ich werd’ nichts sagen. Was hast du geglaubt, was Barry und ich vielleicht tun?«
»Versprichst du, nicht sauer zu werden?«
»Klar. Ich versprech’s.«
»Du musst es schwören, Timmy. Bei allem, was dir heilig ist. Stein und Bein.«
Trotz des traumatischen Geständnisses seines Freundes musste Timmy kichern.
»Und auch noch bei meinem Leben, wenn wir schon dabei sind? Jetzt komm, Doug, wir sind doch nicht mehr im Kindergarten. Ich hab’s dir schon versprochen. Und ich schwör’s bei allem, was mir heilig ist.«
Doug leckte sich nervös über die Lippen. »Ich ... ich hatte Angst, dass ihr es vielleicht tun könntet.«
»Oh Mann! Du hast gedacht, wir würden’s mit deiner Ma treiben? Herrje, ist das krank.«
»Red nicht so laut.« Doug streckte den Arm aus und legte Timmy eine verschwitzte Hand auf den Mund. »Du weckst noch deine Eltern auf.«
Er schob Timmys Hand fort und hob mahnend zur Erinnerung einen Finger an die Lippen. Vor dem Fenster zuckte ein bläulicher Blitz über den Himmel und ließ die Nacht einen Lidschlag lang taghell werden.
»Tut mir leid«, sagte Timmy. »Aber echt, Mann, ich meine ... wie konntest du so was über uns denken? Das würden wir dir nie antun. Ist ja widerlich. Das wär, als würde man’s mit dieser Jane Fonda treiben, die Mr. Messinger vom Zeitungskiosk für so heiß hält. Ja, war sie vielleicht mal ... vor 30 Jahren. Eklig! Deine Ma ist ... alt. Und sie ist deine Ma, um Himmels willen.«
»Ich weiß, ich weiß«, flüsterte Doug verschämt. »Aber ich war ... eifersüchtig, schätze ich. Schon klar, dass sich das seltsam anhört, ich meine, bei all dem, was sie mit mir gemacht hat und so. Aber trotz allem ist sie immer noch meine Mutter. Ich will immer noch, dass sie mich liebt. Nur eben nicht auf die Weise. Ich dachte, wenn ihr’s mit ihr treibt, dann liebt sie mich überhaupt nicht mehr.«
Er begann wieder zu weinen. Timmy hockte voll verdutzter, stummer Ungläubigkeit – und Verzweiflung – da. Was Dougs Ma mit ihm tat, war widerwärtig. Aber so krank und falsch es sein mochte, ein Teil von Doug liebte seine Mutter trotzdem. Die Angst, dass sie ihn verlassen könnte, überwog die abscheulichen Sachen, die sie mit ihm anstellte.
»Es war schön«, sagte Doug, »heute Abend hier zu sein, mit deiner Ma und deinem Dad. Hamburger zu essen, Spiele zu spielen, Filme zu sehen – es hat sich so echt angefühlt. So, wie sich eine richtige Familie anfühlen muss, verstehst du? Ich wünschte, ich hätte das auch.«
Timmy nickte.
»Du hast echt Glück, Timmy. Ich weiß, du bist immer noch traurig wegen deinem Großvater und ich weiß, dass du manchmal Streit mit deinen Eltern hast, aber du weißt gar nicht, wie gut du’s hast. Du solltest dankbar sein, Kumpel.«
»Bin ich«, erwiderte Timmy. »Glaub mir, das bin ich.«
»Ich will morgen nicht nach Hause gehen. Ich wünschte, ich könnte hierbleiben.«
»Hör mal, wenn wir morgen früh aufstehen, könnten wir doch mit meinen Eltern reden. Vielleicht können wir ...«
»Nein!« Dougs Aufschrei ging in einem Donnerschlag unter, dennoch verstummten sie beide und lauschten, ob er Timmys Eltern geweckt hatte.
»Nein«, wiederholte Doug, diesmal im Flüsterton. »Du hast versprochen, niemandem was davon zu sagen. Das kannst du nicht. Niemand sonst darf es je erfahren. Nicht mal Barry.«
Timmy fühlte sich innerlich zerrissen. Einerseits wollte er seinen Eltern davon erzählen. Diese Angelegenheit schien zu groß zu sein, um sie zu verschweigen. Seine Eltern wären in der Lage, zu helfen.
Er sorgte sich um Doug – darum, was es ihm emotional antun könnte. Offensichtlich hatte es bereits Auswirkungen auf ihn. Vielleicht würden seine Eltern Doug bei ihnen bleiben lassen.
Aber andererseits hatte er seinem Freund gegenüber ein Versprechen abgegeben, das er nicht brechen konnte. Er wollte nicht, dass Doug sauer auf ihn wurde.
Während er mit diesen widerstreitenden Gefühlen rang, entschuldigte sich Doug und schlich über den Flur ins Badezimmer. Timmy hörte, wie er Wasser ins Waschbecken einließ. Seine Mutter schnarchte leise, sein Vater furzte im Schlaf. Wieder zuckte ein Blitz, aber die Wucht des Unwetters schien nachzulassen. Der Regen verflachte zu einem Nieseln, und der Donner hörte sich mittlerweile entfernt an, gedämpft.
Doug kam ins Zimmer zurück und versuchte, zu lächeln. Er schloss die Tür hinter sich.
»Tut mir leid. Ich bin jetzt fertig mit Weinen.«
Er setzte sich und Timmy drückte ihm ein letztes Mal die Schulter.
»Es kommt alles wieder in Ordnung, Doug. Du wirst schon sehen. Es kommt alles wieder in Ordnung.« Aber tief in seinem Herzen wusste Timmy, dass nichts je wieder in Ordnung sein würde.
Eine lange Zeit verstrich, bis der Morgen dämmerte, und Timmy lag immer noch wach, als die ersten Strahlen der Sonne über den Horizont krochen.