
Prolog
Zeit: 500 000 v. Chr.
Buu lag in seinem Baumnest und blickte hinauf zu den Sternen am dunklen Himmel. Der haarige junge Humanoide schlief nur deswegen nicht, weil seine Neugier ihn wach hielt. Eine halbe Million Jahre später hätte die ihn plagende Neugier seinen Geist hinaus in das Universum geführt, um die mathematischen Geheimnisse der Relativität zu ergründen. Jetzt …
Buu starrte weiter zu den glänzenden Sternen hinauf. Ein Pünktchen strahlte plötzlich heller. Verängstigt – und gleichzeitig fasziniert – beobachtete Buu den wachsenden Fleck intensiven Lichts, bis er hinter einem dicht belaubten Ast verschwand. Wenn er die nahe gelegene Lichtung aufsuchte, konnte er ihn vielleicht noch einmal sehen. Er kletterte von seinem Nest hinunter – direkt in die gestreiften Schlingen Kaas.
Kaa blieb nicht viel Zeit, sich über seinen Fang zu freuen. Das Leben war schwer für ihn in einer Welt mit zwei Sonnen. Die neue Sonne war winzig und weiß, während die alte groß und gelb war. Die neue Sonne kreiste stets am Himmel. Sie ging nie unter, und Kaa konnte nachts nichts mehr fangen. Er starb – und mit ihm andere Jäger, die ihre Gewohnheiten nicht schnell genug zu ändern vermochten.
Ein Jahr lang versengte das neue Licht den Himmel. Dann wurde es langsam schwächer, und innerhalb einiger Jahre kehrte die Nacht auf die nördliche Hemisphäre der Erde zurück.
Fünfzig Lichtjahre vom Sonnensystem entfernt hatte es einmal ein Doppelsternsystem gegeben. Der eine Stern befand sich in seiner normalen gelbweißen Phase, der andere jedoch blähte sich auf und verwandelte sich in einen roten Riesen, der die ihn umgebenden Planeten verschluckte. Dem roten Riesen ging der nukleare Brennstoff genau fünfzig Jahre vor dem Zeitpunkt aus, als Buu seiner Neugier wegen den Tod fand. Sobald das Fusionsbombenzentrum abgeschaltet war, fehlte dem Stern die Energie, die er brauchte, um sich gegen seine eigene Gravitation durchzusetzen, und er brach zusammen. Im Mittelpunkt wurde die nach innen fallende Materie unter dem ungeheuren Druck dichter und verwandelte sich fast vollständig in Neutronen. Die Neutronen drängten sich enger und enger zusammen, bis sie ohne Zwischenräume aneinandergepackt waren.
Unter diesen beengten Bedingungen waren die starken nuklearen Abstoßungskräfte endlich imstande, dem Gravitationsdruck zu widerstehen. Die Materie stürzte nicht länger nach innen, sondern nach außen, und ihre Bewegung erzeugte eine weißglühende Schockwelle, die nach oben und durch die äußere Schale des roten Riesen wanderte. Auf der Oberfläche blies die Schockwelle die äußeren Schichten des Sterns in einer Supernova-Explosion davon, die in einer Stunde mehr Energie abgab als der Stern in den vorhergegangenen Million Jahren.
Unterhalb der sich ausbreitenden Wolke flammenden Plasmas hatte sich der rote Riese verändert. Was einmal ein großer, roter, langsam rotierender Ballon, zweihundert Mal größer als die Sonne, gewesen war, war jetzt eine winzige weißglühende Kugel von zwanzig Kilometern Durchmesser. Sie bestand aus überdichten Neutronen und drehte sich über tausend Mal pro Sekunde.
Das ursprüngliche Magnetfeld des Sterns blieb in der hochleitenden zusammenbrechenden Wolke aus Sternenmaterie gefangen. Und ebenso wie das Sonnenfleckenmuster des ursprünglichen Sterns richtete sich das Magnetfeld nicht nach der Rotationsachse des Neutronensterns aus, sondern befand sich in einem seltsamen Winkel dazu. Der eine magnetische Pol war sehr konzentriert und ein bisschen oberhalb des Äquators. Der andere (eigentlich eine Gruppe von Polen) lag auf der entgegengesetzten Seite des Sterns. Ein Teil seiner komplizierten Struktur befand sich unterhalb des Äquators, aber der Hauptteil in der nördlichen Hemisphäre.
Die beinahe festen Trillion-Gauß-Magnetfelder, die von den beiden magnetischen Polen des sich rasend schnell drehenden Sterns ausgingen, zerrissen die glühenden Rückstände der Supernova-Explosion. Sie schleuderten die massiven Ionen-Wolken in sprühenden Kaskaden von dem Stern weg. Der Neutronenstern setzte sich einem Feuerrad gleich nach Süden in Bewegung, direkt auf seinen nahe gelegenen Nachbarn Sol zu, und der magnetische Propeller ließ eine glühende Spur zurück. Nach kurzer Zeit wurde die Plasmadichte geringer, und der Raketenantrieb hörte auf. Aber bis dahin hatte der Stern, ein winziger Spaziergänger quer über die Sternenstraßen der Galaxis, bereits eine respektable Eigenbewegung von dreißig Kilometern pro Sekunde beziehungsweise einem Lichtjahr in 10 000 Jahren erreicht.
Zeit: 495 000 v. Chr.
Während der Neutronenstern auf seinem Weg durch den Raum dahinkreiselte, fiel der Schutt, den er mit seinem Gravitationsfeld anzog, nach innen. Wenn sich die interstellare Materie der Kugel mit ihrem Durchmesser von zwanzig Kilometern bis auf ein paar tausend Kilometer angenähert hatte, wurde sie aufgeheizt und von der ungeheuren Schwerkraft und den wirbelnden Magnetfeldern ihrer Elektronen beraubt. Das ionisierte Plasma fiel jetzt in länglichen Tropfen auf den Stern zu. Seine Geschwindigkeit hatte ein Viertel der Lichtgeschwindigkeit erreicht, als es in den östlichen und westlichen Magnetpolregionen auf die Kruste aufschlug. Die bombardierte Kruste antwortete mit Fackeln geladener Teilchen, die hinaus in den Raum schossen und, vorangepeitscht von den Magnetfeldlinien, an Geschwindigkeit gewannen und Radioenergie ausstrahlten.
Die Gaswolke der ursprünglichen Supernova-Explosion, die von der pulsierenden Strahlung und den Strömen heißen Plasmas aufgeblasen wurde, expandierte mit einem Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Nach 5000 Jahren passierte die Front der Schockwelle das Sonnensystem. Tausend Jahre lang wurden die schützenden Magnetfelder von Sonne und Erde durch die unsichtbaren interstellaren Hurrikans bedrängt. Die erschütterten Magnetfeldlinien verloren ihre Fähigkeit, die gefährlichen, hochenergetischen Partikel der kosmischen Strahlen von der verletzlichen Erde fernzuhalten. Die Ozonschicht der oberen Atmosphäre brach zusammen, und die Lebensformen auf der Erde lagen unter dem Sperrfeuer einer Mutationen hervorrufenden Strahlung.
Als der tausend Jahre währende Sturm sich endlich legte, war auf der Erde eine neue Spezies von beinahe haarlosen Humanoiden entstanden. Die ursprüngliche Gruppe war klein, aber ihre Mitglieder waren schlau. Sie benutzten ihre Intelligenz dazu, ihre Umwelt zu kontrollieren, statt der Natur und den Muskelprotzen ihren Willen zu lassen. Es dauerte nicht allzu lange, bis sie als einzige Humanoide auf dem Planeten übrig waren.
Zeit: 3000 v. Chr.
Gemächlich mit einem Lichtjahr in 10 000 Jahren dahinziehend, näherte sich der Neutronenstern dem Sonnensystem. Die intelligenten Wesen, die vor einer halben Million Jahren während der Feuertaufe geboren worden waren, hatten sich bis zu einem Punkt entwickelt, an dem sie ernsthaft den Himmel zu erforschen begannen. Der Neutronenstern glühte weiß, aber er war zu winzig, als dass menschliche Augen ihn hätten sehen können.
Obwohl er um vieles heißer war als die Sonne, war der Neutronenstern keine Kugel aus heißem Gas. Stattdessen hatte das Gravitationsfeld von 67 Milliarden g die flammende Materie in einen festen Ball mit einer dicken Kruste aus dicht gepackten neutronenreichen Nuklei zusammengepresst, die über einem dichten Kern aus flüssigen Neutronen ein kristallines Gitter bildeten. Mit der Zeit kühlte der Stern sich ab und schrumpfte. Die dicke Kruste brach auf; Berge und Verwerfungen entstanden. Die meisten Formationen der Oberfläche waren nur ein paar Millimeter hoch, aber die größeren Bergketten erhoben sich zu beinahe zehn Zentimetern und streckten ihre Gipfel über die Eisendampf-Atmosphäre hinaus. Am höchsten waren die Berge an den magnetischen Polen im Osten und Westen, denn dahin war der Großteil der Meteoritenmasse durch die Magnetfeldlinien geleitet worden.
Die Temperatur des Sterns war seit seiner Geburt gesunken. Die neutronenreichen Nuklei auf der glühenden kristallinen Kruste konnten jetzt immer kompliziertere Verbände bilden. Da diese Verbände die gewaltigen Kräfte der nuklearen Wechselwirkungen benutzten statt der schwachen elektronischen molekularen Kräfte, deren man sich auf der Erde bediente, funktionierten sie mit Atom- statt mit Molekülgeschwindigkeiten. Jede Mikrosekunde wurden Millionen von nuklearen chemischen Kombinationen ausprobiert, während es auf der Erde nur einige wenige waren. Schließlich bildete sich in einem schicksalhaften Sekundentrillionstel ein nuklearer Verband, der zwei sehr wichtige Eigenschaften besaß: Er war stabil, und er konnte eine Kopie seiner selbst herstellen.
Auf der Kruste des Neutronensterns war das Leben eingekehrt.
Zeit: 1000 v. Chr.
Immer noch ungesehen von menschlichen Augen näherte sich der weißglühende Neutronenstern weiter dem Sonnensystem. Als sich seine Oberfläche bis auf den kleinen Temperaturbereich abkühlte, der nukleonischem Leben am bekömmlichsten ist, gewann das ursprüngliche fortpflanzungsfähige nukleare Molekül an Mannigfaltigkeit und wurde immer komplizierter. Der Kampf um die einfacheren, nicht lebenden Moleküle, die als Nahrung dienten, wurde härter. Bald war das anfängliche Manna, das die Kruste bedeckt hatte, verschwunden, und an seiner Stelle befanden sich Klumpen von hungrigen Zellen. Einige Zellklumpen stellten fest, dass ihre Oberseiten, die nach außen, dem kalten, dunklen Himmel zugewandt waren, ständig eine niedrigere Temperatur hatten als ihre Unterseiten, die Kontakt mit der glühenden Kruste hatten. Sie erhoben einen Baldachin aus Haut und hatten bald unter Benutzung der Hitzemaschine, die sie zwischen einer tief in die heiße Kruste reichenden Pfahlwurzel und dem kühlen Baldachin oben in Gang brachten, einen gut funktionierenden Nahrungssynthese-Zyklus erreicht.
Der Baldachin war ein Wunder der Technik. Er benutzte starre Kristalle, in die superstarke Fibern eingebettet waren, um eine zwölfstrahlige freitragende Balkenkonstruktion zu bilden, die die dünne obere Haut gegen das Schwerkraftfeld von 67 Milliarden g hochstemmte. Natürlich waren dabei keine großen Höhen zu erzielen. Eine Pflanze konnte ganze fünf Millimeter Durchmesser haben, und doch reckte sich ihr Baldachin nur einen Millimeter hoch.
Die Pflanzen zahlten einen Preis für ihre Baldachine und Stützrahmen. Sie waren starr und mussten bleiben, wo sie verwurzelt waren. Während vieler, vieler Umdrehungen des Sterns bewegte sich nichts außer gelegentlich einem Sprühregen von Pollen, die aus der Spitze eines Balkens austraten, woraufhin sich an der Spitze einer nahebei stehenden Pflanze eine Klappe zusammenzog. Viele Umdrehungen später folgte diesem Vorgang der Fall einer reifen Samenschote, die unter dem ständigen Wind davonrollte.
Eines Tages zerbrach eine rollende Samenschote an einer Krustenscholle. Die Samen zerstreuten sich, und mehrere von ihnen begannen zu wachsen. Einer war kräftiger als die anderen, und bald erhob sich sein Baldachin über diejenigen seiner langsameren Geschwister. Erstickt von der Hitze, die der Stern unter ihnen und die Unterseite der größeren Pflanze über ihnen ausströmten, starben die meisten der kleineren Sämlinge.
Einer jedoch erfuhr eine merkwürdige Umwandlung, als seine Körperfunktionen zu versagen begannen. Er enthielt ein mutiertes Enzym, dessen normale Aufgabe es war, die kristallinen Stützstreben herzustellen und auszubessern. Aber unter dem Einfluss der gestörten nukleonischen Chemie eines Organismus, der dem Tod nahe war, wurde das Enzym wild und löste die kristalline Struktur, die es doch schützen sollte, auf. Die Pflanze verwandelte sich in einen Sack voller Säfte und Fibern und floss von dem sanften Abhang, auf dem sie Wurzeln geschlagen hatte, hinab zu einem neuen Ruheplatz. Die zwölf Pollendüsen, die eine gewisse Lichtempfindlichkeit besaßen, damit sie für die bestmögliche Ausrichtung des Pflanzenbaldachins sorgen konnten, wanderten nach oben. Nun, da der Organismus sich aus dem blockierenden Schirm der größeren Pflanze entfernt hatte, benahm sich das Enzym wieder normal. Die Pflanze schickte Wurzeln nach unten, baute ihren Baldachin wieder auf und versprühte und empfing viele Pollen. Die bewegliche Pflanze hatte viele Sämlinge, die alle die Fähigkeit besaßen, ihre starre Struktur aufzulösen und sich fortzubewegen, wenn die Bedingungen nicht die richtigen für ein optimales Wachstum waren.
Bald streiften die ersten Tiere über die Oberfläche des Neutronensterns. Sie stahlen Samenschoten von ihren unbeweglichen Vettern und stellten fest, dass es auf dem Stern viele gute Dinge gab, die sie essen konnten – vor allem die eigenen Artgenossen.
Wie die Pflanzen, von denen sie abstammten, hatten die Neutronenstern-Tiere nur fünf Millimeter Durchmesser, aber da es ihnen an einer steifen inneren Struktur mangelte, wurden sie von der Gravitation flachgedrückt. Aus den zwölf lichtempfindlichen Pollendüsen und -klappen wurden Augen, aber gleichzeitig behielten sie ihre ursprüngliche Funktion der Fortpflanzung. Die Tiere konnten »Knochen« wachsen lassen, wenn sie es wünschten. Meistens waren das degenerierte Formen der Stützstreben, die dazu benutzt wurden, ihre Augen auf Stielen hochzurecken, damit sie in die Ferne sehen konnten. Aber mit ein wenig Konzentration konnte ein Knochen überall innerhalb des Hautsacks gebildet werden. Eine zu hastige Knochenbildung ergab jedoch schlechte Qualität: Die Knochen wurden allein aus den kristallisierten inneren Säften hergestellt; es fehlten ihnen die eingebetteten Fibern, die die Pflanzenstruktur so stark machten. Diese Prozedur kostete zu viel Zeit.
Ungleich den Pflanzen mussten die Tiere mit dem Magnetfeld des Sterns ringen. Die Pflanzen bewegten sich nicht, und so machte es ihnen nichts aus, dass sie von den Magnetfeldlinien zu langen Ellipsen verzerrt wurden. Die Körper der Tiere wurden ebenfalls zu langen Ellipsen gezogen, aber da das gleichermaßen auf ihre Augen zutraf, waren sie sich der Verzerrung nicht bewusst. Doch stellten sie fest, dass es viel schwerer war, sich quer über die Magnetfeldlinien zu bewegen als entlang der Linien. Die meisten gaben den Versuch auf. Für sie war die Welt beinahe eindimensional. Die einzigen Richtungen, in die sie leicht wandern konnten, waren »Osten« und »Westen« – auf die magnetischen Pole zu.
Nach langer Zeit gab es überall auf der Oberfläche des Neutronensterns Pflanzen und Tiere. Einige der klügeren Tiere pflegten zum dunklen Himmel hochzublicken und sich Gedanken über die Lichtpunkte zu machen, die sich, der Drehung des Neutronensterns entsprechend, langsam über die Schwärze bewegten. Die Tiere auf der südlichen Hemisphäre waren besonders beeindruckt von dem sehr hellen Lichtfleck, der unbeweglich über dem Südpol stand. Das war die Sonne der Erde. Das Licht war so hell und so nahe, dass es nicht funkelte wie die anderen Pünktchen. Aber abgesehen davon, dass das seltsame Licht sehr praktisch als Leitstern war, der ihren magnetischen Orientierungssinn ergänzte, machte sich keines der Tiere die Mühe, weiter darüber nachzudenken. Die ständig wachsenden Pflanzen und die kleineren Tiere lieferten immer genügend Nahrung. Ein Tier hat es nicht nötig, Neugier und Intelligenz zu entwickeln, wenn es keine Probleme gibt, die es zu lösen gilt.
Zeit: 2000 Anno Domini
Der schimmernde, strahlende, wirbelnde Neutronenstern war jetzt ein Zehntel Lichtjahr von der Sonne entfernt. Nach einer Million Jahre hatte er sich abgekühlt und seine Rotationsgeschwindigkeit auf nur fünf Umdrehungen pro Sekunde verlangsamt. Er sandte immer noch Radiowellen aus, aber sie waren nur noch schwache Erinnerungen an seine glorreichen frühen Tage.
In ein paar hundert weiteren Jahren würde der Neutronenstern in einer Entfernung von 250 astronomischen Einheiten am Sonnensystem vorbeiziehen. Seine Schwerkraft würde die äußeren Planeten – besonders Pluto, 40 astronomische Einheiten von der Sonne entfernt – stören. Aber die Erde, in ihrer Umlaufbahn mit einem Radius von nur einer AE dicht an die Sonne geschmiegt, würde sein Vorbeiziehen kaum bemerken. Dann würde der Stern das Sonnensystem verlassen – um nie wieder zurückzukehren.
Inzwischen hatten die Lebensformen auf der Erde das Teleskop erfunden, aber auch das genügte nicht, um das winzige Lichtpünktchen in den weiten Himmeln zu erkennen, wenn man nicht genau wusste, wo man hinsehen musste.
Würde der Stern ungesehen vorüberziehen?