Willhelm Genazino
Ein Regenschirm für diesen Tag
Roman
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24234-0
© 2001/2012 Carl Hanser Verlag München Wien
Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten
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Barbara gewidmet
1
Zwei Schüler stehen vor einer Litfaß-Säule und spucken auf ein Plakat. Dann lachen sie über die Spucke, die die Litfaß-Säule herunterrinnt. Ich gehe ein wenig schneller; früher war ich solchen Vorkommnissen gegenüber viel duldsamer. Ich bedaure, daß ich neuerdings so schnell abgestoßen bin. Wieder fliegen ein paar Schwalben durch die Fußgänger-Unterführung. Sie stürzen die U-Bahn-Station hinab und stoßen acht oder neun Sekunden später durch den gegenüberliegenden Ausgang wieder nach oben. Ich würde gerne selber die Fußgänger-Unterführung durchqueren und mich dabei seitlich von den rasenden Schwalben überholen lassen. Aber diesen Fehler darf ich nicht noch einmal machen. Vor etwa zwei Wochen habe ich diese Unterführung zum letzten Mal benutzt. Die Schwalben flitzten an mir vorüber, es dauerte leider nur zwei oder drei Sekunden. Dann entdeckte ich die nassen Tauben, die ich zunächst nicht gesehen hatte. Sie saßen zusammengedrängt in einer gekachelten Ecke. Zwei am Boden liegende Obdachlose versuchten, mit den Tauben Kontakt aufzunehmen. Weil die Vögel auf ihre Laute und Gesten nicht reagierten, verhöhnten die Obdachlosen die Tiere. Kurz danach sah ich auf meiner rechten Schuhspitze einen eingetrockneten Ketchup-Fleck. Ich wußte nicht, wie der Fleck dorthin geraten war, ich wußte nicht einmal, wie es möglich war, daß ich erst jetzt auf ihn aufmerksam wurde. Nie mehr gehst du durch diese Unterführung, sagte ich unernst zu mir selber. Auf der anderen Seite der Unterführung sehe ich Gunhild. Ich fürchte mich ein wenig vor Frauen, die Gunhild, Gerhild, Mechthild oder Brunhild heißen. Gunhild geht durch ihr Leben und macht kaum eigene Beobachtungen. Ich bin blind, sagt sie oft; sie sagt es scherzhaft, meint es aber ernst. Man muß ihr sagen, was sie sich anschauen könnte, dann ist sie zufrieden. Im Augenblick habe ich kein Bedürfnis nach einer Begegnung mit Gunhild. Ich weiche ihr aus, indem ich kurz in die Herderstraße zurücktrete. Wenn Gunhild ihre Augen öffnen würde, dann wüßte sie vielleicht, daß ich vor ihr fliehe, jedenfalls manchmal.
Schon zwei Minuten später bereue ich, daß Gunhild nicht bei mir ist. Denn Gunhild hat dieselben Augenwimpern wie Dagmar, die ich mit sechzehn geliebt habe, damals im Freibad, auf der Bügeldecke meiner Mutter. Wo andere Frauen nur eine Wimper haben, sprossen bei Dagmar gleich zwei oder drei oder sogar vier hervor, ja, ich kann sagen, Dagmars Augen waren büschelweise mit Wimpern umsäumt. Dieselbe Art von Augenwimpern hat Gunhild. Wenn ich sie ein wenig länger anschaue, habe ich plötzlich das Gefühl, ich sitze wieder neben Dagmar auf der Bügeldecke. Ich glaube, es sind nicht Erlebnisse, die uns andere Menschen unvergeßlich machen, sondern solche körperlichen Details, die uns erst richtig auffallen, wenn wir die Personen schon lange nicht mehr kennen. Ich will heute allerdings nicht an Dagmar erinnert werden, obwohl ich bereits minutenlang an sie denke und mir jetzt sogar die Farbe ihres Badeanzugs einfällt. Unsere Kinderliebe nahm damals ein unerfreuliches Ende. Ein Jahr später erschien Dagmar mit einer Taucherbrille im Freibad. Sie zog sie jedesmal über, wenn sie mit mir ins Wasser ging. Das bedeutete, daß ich plötzlich nicht mehr ihre Augenwimpernbüschel sehen konnte, die im Wasser und in der Sonne besonders schön waren, weil sie dann glänzten und glitzerten wie kleine Zuckerkörner. Ich wagte damals nicht, Dagmar den Grund meines Rückzugs einzugestehen. Noch heute spüre ich einen kleinen lächerlichen Schmerz, wenn ich leise vor mich hin sage: Dagmar, es war die Taucherbrille.
An der Nikolai-Kirche, wo zur Zeit ein kleiner Zirkus gastiert, fragt mich eine junge Frau, ob ich eine Weile auf ihren Koffer aufpassen kann. Ja, sage ich, warum nicht. In zehn Minuten bin ich wieder da, sagt die Frau. Sie stellt ihren Koffer neben mir ab, macht eine freundliche Geste und geht weiter. Immer wieder wundere ich mich darüber, warum mir Fremde ein solches Vertrauen entgegenbringen. Der Koffer ist klein und hat vermutlich schon viele Reisen hinter sich. Schon schauen mich Leute an und machen sich Gedanken darüber, ob der Koffer und ich zusammengehören oder nicht. Nein, wir gehören nicht zusammen. Früher habe ich angenommen, Menschen schauen einander an, weil sie sich immerzu vor dem Eintreffen schlimmer Nachrichten fürchten. Dann glaubte ich, indem sie sich anschauen, suchen sie nach Worten für die Merkwürdigkeit des Lebens. Denn in den Blicken der Leute schwirrt diese Merkwürdigkeit unablässig hin und her, ohne sich doch je anschauen zu lassen. Heute denke ich kaum noch etwas, ich schaue nur umher. Wie man sieht, bin ich dabei ins Lügen verfallen. Denn es ist nicht möglich, in den Straßen umherzugehen, ohne etwas zu denken. Im Augenblick denke ich gerade, wie schön ich es fände, wenn die Menschen plötzlich wieder arm wären. Und zwar alle, und alle auf einmal. Wie schön es wäre, wenn ich sie ohne ihre Sonnenbrillen sehen könnte, ohne ihre Handtaschen, Sturzhelme, Rennräder, ohne ihre Rassehunde, Rollschuhe, Funkuhren. Sie sollten nichts am Leib haben als die paar Fetzen, die sie schon vor Jahren am Leib hatten, wenigstens eine halbe Stunde lang.
Ich kann mir nicht erklären, warum ich jetzt ein wenig verstimmt bin. Seit dem frühen Morgen bin ich voller Verständnis für jede Art von Armut. Zwei stinkende Männer kommen an mir vorüber, ich habe sofort Nachsicht mit ihnen. Es sind Wohnungslose, sie haben kein Bad und keine Empfindlichkeit mehr, man muß ihr Elend hinnehmen, wie man das Elend immer hingenommen hat. Es ist sehr schön, in der Gegend zu stehen und nicht sagen zu können, wem der Koffer gehört, auf den man aufpaßt. Am Rand des Zirkusgeländes führt eine junge Frau ein Pferd zur Seite und beginnt, es zu bürsten. Sie zieht die Bürste in klaren festen Linien über den Rücken des Tieres. Ihr Gesicht ist nahe am Fell. Das Tier hebt ein Bein und stößt mit dem Huf auf das Pflaster, wobei ein schönes Klirren entsteht. Fast gleichzeitig schiebt sich das Geschlecht des Tieres hervor. Schon bleiben in einiger Entfernung ein paar Zuschauer stehen. Es ist eine Weile nicht klar, was die Zuschauer von dem Pferd sehen wollen. Am Keifen zweier Männer kann ich dann doch erkennen, daß sie gar nichts sehen wollen, sondern etwas erwarten. Sie warten auf den Augenblick, in dem die Frau plötzlich das Geschlecht des Tieres entdeckt. Warum tritt sie nicht einen Schritt zurück und schaut wie zufällig unter den Leib des Tieres? Die Frau ahnt nicht, daß es ein paar Zuschauer gibt, die auf einen Zwischenfall des Sehens warten. Sie hält ihr Gesicht wie abwesend nahe am Rücken des Tieres. Jetzt! Ein kleiner Schritt zur Seite würde genügen, und der Zwischenfall wäre da.
Da kommt die Frau zurück, deren Koffer ich bewache. In der linken Hand hält sie ein Rezept. Jetzt ist klar, sie war beim Arzt, wollte dort aber nicht mit einem Koffer erscheinen. Vermutlich ist sie keine Reisende, sondern eine Art Stadtwanderin, eine Unbehauste. Sie bedankt sich und nimmt ihren Koffer an sich. Ich möchte sie ermahnen, ihr Vertrauen nicht so leicht herzuschenken. Im gleichen Augenblick muß ich über meine Fürsorge lachen. Die Überraschung der Zuschauer wird ausbleiben. So langsam, wie es sich herausgeschoben hat, zieht sich das Geschlecht des Pferdes in seine samtene Umhüllung zurück. Durch das Umherschauen gerate ich in Abenteuer, die ich so nicht will, obgleich sie den Abenteuern ähneln, die ich oft vermisse. Ringsum legt sich die heimliche Erregung der Zuschauer. Einer der Männer geht auf einen bunten Kasten zu, auf dem in großer Schrift steht: HIER IHRE GEWINNKARTE EINWERFEN! Der Mann wirft einen kleinen Coupon in den Schlitz. Er schaut noch einmal zu dem Pferd zurück. Seine zu schnell erkaltete Erregung zwingt ihm ein Lachen ab. Zufällig sehe ich, daß die Pferdepflegerin mit dem Gesicht nahe an den Körper des Tieres herangeht. Es sieht aus, als würde sie am Fell riechen. Jetzt streckt sie beide Arme hoch und legt sie locker über den Rücken des Tieres. Etwa drei Sekunden lang senkt sie ihr Gesicht in die Flanke des Pferdes. Es hält still und schaut umher wie immer. Ich bin sicher, es ist eine besondere Freude, das Fell zu riechen. In diesen Augenblicken streift Gunhild über den Platz. Sie erkennt mich und kommt direkt auf mich zu. Das kann nur heißen, Gunhild hat in der Zwischenzeit nichts gesehen, nichts gehört und nichts gedacht. Genauso ist es auch. Ich laufe mal wieder mit der Idee herum, es müßte etwas Besonderes mit mir geschehen, sagt sie. Aber es geschieht nichts! Natürlich will ich gar nicht, daß etwas mit mir geschieht, aber ich stelle es mir immer wieder vor. Das ist meine persönliche Verrücktheit! Wieso persönlich? frage ich zurück. Weil meine Verrücktheit nicht öffentlich ist und weil ich sie beherrschen kann, sagt Gunhild. Allmählich beruhigt sie sich. Ich überlege, ob ich sie auf die Spiele der Pferdepflegerin aufmerksam machen soll oder nicht. Gunhild schlägt die Augen nieder, so daß ich ihre Augenwimpernbüschel sehr gut sehen kann. Arme Dagmar! Vermutlich wäre mein Interesse an Gunhild gering, wenn sie nicht diese Wimpern hätte. Morgen oder übermorgen werde ich noch einmal hierherkommen und sehen, ob die Pflegerin wieder das Pferd bürstet. Gunhild steht neben mir. Vermutlich wartet sie darauf, daß ich sie auf irgend etwas hinweise. Die Pflegerin führt das Pferd zurück in den Stall.
Sollen wir in den Zirkus gehen? fragt Gunhild. Sie lacht spöttisch über ihre eigene Frage.
Warum nicht, sage ich.
Du würdest wirklich in den Zirkus gehen? ruft Gunhild.
Klar, sage ich, du nicht?
Dann müßte ich dauernd denken, daß mir nichts Besseres als der Zirkus eingefallen ist, sagt Gunhild.
Daraufhin schweige ich und sehe auf einen schlafenden Säugling, der dicht neben uns in einem Kinderwagen liegt. Der Säugling zuckt mit den Lippen, wenn er im Schlaf unbekannte Geräusche hört. Warum mit den Lippen, warum nicht mit den Fingern? Aus Bosheit gegenüber Gunhild behalte ich die Frage für mich. Die Mutter holt einen Schnuller aus ihrer Handtasche und schiebt ihn dem Kind in den Mund. Dabei rutschen eine Menge Wattestäbchen aus ihrer Handtasche. Sie fallen auf den Boden und verteilen sich vor den Füßen der Mutter. Das heißt, zwei Wattestäbchen bleiben vor Gunhilds Schuhen liegen. Oh, macht Gunhild. Die Mutter hebt alle Wattestäbchen wieder auf, außer den beiden, die vor Gunhilds Schuhen liegen. Gunhild könnte die beiden Wattestäbchen aufheben und sie der Mutter geben. Aber Gunhild kann weder in einen Zirkus gehen noch Wattestäbchen aufheben. In solchen Situationen kann Gunhild nur schnell aufbrechen. Im Grunde ist mir Gunhild deswegen sympathisch. Aber jedesmal ist sie verschwunden, ehe ich ihr meine Sympathie gestehen kann. Auch jetzt flüstert sie mir ein leises Tschüs! zu und löst sich aus der Situation. Ich schaue ihr nach, bis ich eine Frau sehe, der ein Kaugummi aus dem Rucksack gefallen ist. Die Frau ist in die Auslage eines Juweliers vertieft, sie hat den Verlust nicht bemerkt. Soll ich zu ihr hingehen und sagen: Sie haben ein Kaugummi verloren? Vielleicht würde es genügen, wenn ich sagte: Ihnen ist etwas heruntergefallen. Oder einfach: Sie haben etwas verloren. Zur Verdeutlichung (und weil ich das Wort Kaugummi nicht aussprechen mag) könnte ich mit dem Zeigefinger auf den am Boden liegenden Gegenstand deuten. Allerdings wäre (ist) mir das Deuten mit dem Finger peinlich. Es ist schrecklich, ich ähnele Gunhild, ich kann niemanden auf nichts aufmerksam machen. Vermutlich will die Frau gar nicht auf den Verlust hingewiesen werden. Die Frau ist ganz und gar in schwarzes Kunstleder eingehüllt, ich denke mal, sie ist eine Motorradfahrerin. Sie geht weiter, das Kaugummi bleibt zurück. Während sie geht, gibt das Leder leise, aber dennoch gut hörbare Quietschgeräusche von sich. Das Quietschen flößt mir sonderbarerweise die Gewißheit ein, daß es gut war, daß ich den Mund gehalten habe. Wahrscheinlich gehen sowieso die meisten Menschen heutzutage davon aus, daß man hin und wieder ein Kaugummi verliert, nur ich habe es wieder nicht rechtzeitig bemerkt. Die Motorradfahrerin interessiert sich nur für Schaufensterauslagen. Jetzt steht sie vor der Auslage eines Bäckers und betrachtet Nußhörnchen, Streuselkuchen, Blätterteig. Sie betritt den Laden und kauft sich eine Brezel. Ich kann sehen, daß sie noch im Laden beginnt, die Brezel aufzuessen. Kauend tritt sie wieder auf die Straße und stellt sich vor das Schaufenster eines Friseurs. Häuser, Hauseingänge, Klingeltafeln, Türen, Briefkästen oder Fenster schaut sie nicht an. Mir ergeht es mit Häusern oft wie mit Menschen. Man schaut Personen jahrelang, viele von ihnen sogar jahrzehntelang an und wird von ihnen ebenfalls angeschaut. Aber eines Tages sind bestimmte Häuser plötzlich verschwunden oder derart umgebaut, daß ich viele von ihnen nicht wiedererkenne und aus Verärgerung dann auch nicht mehr anschaue. Ich weiß nicht, ob heute ein solcher Tag ist oder eher nicht. Wenn ja, hätte ich wieder die Empfindung, Leuten wie mir soll mitgeteilt werden, daß sie verschwinden oder umgebaut werden sollen wie alte Häuser. Diese Empfindung verbindet sich dann mit einem Gefühl, das ich oft habe: Daß ich ohne meine innere Genehmigung auf der Welt bin. Genaugenommen warte ich noch immer darauf, daß mich jemand fragt, ob ich hier sein möchte. Ich stelle es mir schön vor, wenn ich, sagen wir: heute Nachmittag diese Genehmigung erteilen könnte. Dabei spielt keine Rolle, daß ich gar nicht weiß, wer es eigentlich sein soll, der diese Genehmigung bei mir einholt.
Außer der Motorradfahrerin sehe ich im Augenblick einen Sanitäter in einer weißroten Plastikjacke und einen Wachmann. Er trägt eine gutgepflegte Phantasie-Uniform und steht neben dem Eingang einer Bank. Er schaut die Vorübergehenden an wie Leute, von denen eine Gefahr ausgeht. Es stört ihn offenbar nicht, daß man sich über ihn keine Gedanken macht. Der Sanitäter und der Wachmann sehen aus wie Menschen, die inzwischen ganz billig geworden sind. Wenn jemand käme und wollte zum Beispiel den Sanitäter kaufen, dann müßte er, glaube ich, höchstens fünf Mark bezahlen. Auch die Motorradfahrerin ist ganz billig, ich übrigens ebenfalls, wegen der fehlenden Genehmigung. Ein etwa zwölfjähriger Junge setzt sich auf den Rand des Stadtbrunnens. Er hat ein kleines Segelboot dabei, das er bedachtsam auf das Wasser setzt. Die Fontäne ist heute niedrig eingestellt, so daß die Wasseroberfläche sich kaum bewegt. Es dauert nicht lange, dann greift ein leichter Wind in die beiden Segel des Schiffs und treibt es langsam über das Becken. Ich setze mich ungefähr dort auf den Brunnenrand, wo das Segelboot vermutlich ankommen wird. Wenn das Schiff gut an der Fontäne vorbeischwimmt und der Wind nicht erlahmt, wird das Boot für die Überquerung nur wenige Minuten brauchen. Der Junge geht langsam um das Becken herum und läßt sein Boot nicht aus den Augen. Die jungen Frauen, die ebenfalls auf dem Brunnenrand sitzen und sich unterhalten, beachtet er nicht. Auch für die Frauen ist der Junge nicht interessant. Ich schaue auf das Boot wie jemand, der sich von seiner Ankunft viel verspricht. Einzelne Worte der Frauen werden vom Wind zu mir herübergetragen. Nachts …, sagt die Frau links, nachts … frage ich mich oft … wenn ich nicht schlafen kann … Dann verstehe ich nichts mehr. Eben kommt das kleine Segelboot auf meiner Seite des Beckens an. Der Junge greift freudig ins Wasser und hebt sein Schiff heraus und trägt es fort, unterm Arm, wie ein lebendes Tier, das er niemals wieder hergeben wird.
Aus der Grenadierstraße kommt Susanne Bleuler hervor. Hoffentlich sieht sie mich nicht. Ich kenne Susanne seit Kindertagen, und noch heute vergeht kaum eine Woche, in der wir uns nicht treffen. Ich weiß schon lange nicht mehr, was ich zu ihr sagen soll. Die Geschichte, die es einmal zwischen uns gab, ist in hundert Unschlüssigkeiten zerfallen. Susanne Bleuler arbeitet heute als Empfangsdame in einem großen Anwaltsbüro. Sie ist unzufrieden mit dieser Beschäftigung, aber sie findet nichts Besseres. Eigentlich hält sich Susanne für eine Schauspielerin und möchte immer noch Margerita Mendoza genannt werden. Tatsächlich hatte sie, als sie jung war, eine Schauspielschule besucht und danach zwei oder drei Engagements an kleinen Theatern bekommen. Das liegt etwa fünfundzwanzig Jahre zurück. Ich selbst habe Susanne nie auf einer Bühne gesehen. Deswegen kann ich nicht beurteilen, ob sie eine gute, eine schlechte, eine mittelmäßige oder eine unglückliche Schauspielerin ist oder war. Ich darf sie nicht Margerita Mendoza nennen, weil dieser Name sie an ihre mißratene Karriere erinnert. Ich darf aber auch nicht Susanne Bleuler zu ihr sagen, weil ihr richtiger Name sie an das unbedarfte Wünschen ihrer Jugend erinnert. Beziehungsweise, es ist komplizierter. In ihrem Innern, fürchte ich, hält sie ihr Scheitern für ungerecht. Sie spricht mit höchster Verachtung von den »Theaterkreisen«, sie spricht, als gebe es viele Menschen, die sich an sie als Schauspielerin erinnern und sie auf der Bühne wiedersehen wollen. Jetzt geht sie weiter, vermutlich direkt in das Anwaltsbüro. Sie schaut kaum auf, vermutlich spricht sie einen Rollentext, von dem sie vergessen hat, daß sie ihn nicht mehr brauchen wird. Oben, am Himmel, entdecke ich ein Segelflugzeug. Still, weiß und langsam gleitet es dahin, große Kreise ziehend im Blau des Firmaments. In mir hat Susanne Bleuler jemand, der die Echtheit ihrer Wünsche verbürgen kann, weil mir Susanne schon als Zwölfjährige während des Schlittenfahrens (ich saß hinter ihr auf dem Zweisitzer) gestanden hat, daß sie Schauspielerin werden wird und sonst nichts. Bei diesen Schlittenfahrten ist es mir zum ersten Mal passiert, daß ich die Brust eines Mädchens berührte. Ich habe damals lange nicht bemerkt, daß es sich dabei um einen Busen handelte. Ich saß immer nur hinter Susanne und umfaßte sie von hinten. Auch Susanne fiel nicht auf, daß meine beiden Hände bei jeder Abfahrt auf ihrer Brust lagen. Erst als Susanne dreizehn geworden war, schob sie plötzlich meine Hände beiseite und lachte dabei. Ich lachte ebenfalls, und erst durch dieses gemeinsame Lachen ging uns auf, daß es Brüste und Hände gab und ein neuartiges Erschrecken zwischen uns, das uns dann auseinandertrieb, jedenfalls für eine Weile.
Susanne will bis heute mit mir über diese Einzelheiten sprechen. Sie nennt diese Einzelheiten unsere einzigartige Kindheit. Zum Beispiel findet sie es interessant, daß ich auf dem Schlitten immer hinter ihr saß. Wenn ich vorne gesessen hätte, hätte ich auch nicht ihren Busen berühren können. Nur der Platz hinter ihr gab mir dazu die Möglichkeit. Also hätte ich schon damals Grund gehabt, an dieser Sitzordnung unter allen Umständen festzuhalten. Ich kann hundertmal sagen, daß ich durch ihren Anorak, ihren Pullover, ihre Bluse und ihr Unterhemd hindurch nicht habe fühlen können, daß sich darunter ihr Busen befand, Susanne glaubt mir nicht recht. Dabei rede ich nicht mehr gerne über meine Kindheit. Das Umherschweifen in der Stadt geschieht oft nur deshalb, weil es mir während des Gehens leichter fällt, mich nicht zu erinnern. Ich möchte auch nicht erläutern müssen, warum ich mich nicht mehr gerne an die Kindheit erinnere, und schon gar nicht möchte ich andere Personen bitten, sie mögen aufhören, von meiner Kindheit zu erzählen. Ich möchte nicht, daß sich meine Kindheit immer mehr in eine Erzählung über meine Kindheit verwandelt, ich möchte sie als etwas aufbewahren, das hinter meinen Augen ausharrt, launisch, verworren, bissig. Susanne hingegen glaubt, daß durch das Sprechen über die doch einmalige Kindheit eine andere, zweite, neue Kindheit hervorgeht, was in meinen Augen ein grober Unfug ist. Wir stritten damals, zuerst in einem Lokal, dann auf der Straße, und ich überlegte zum ersten Mal, ob ich mir vielleicht ein kleines Schildchen an mein Revers heften soll. Darauf könnte stehen: BITTE KEINE GESPRÄCHE ÜBER IHRE ODER MEINE KINDHEIT. Oder auch, etwas schroffer: VERMEIDEN SIE BITTE DAS THEMA KINDHEIT. Natürlich würde ich mich vielerlei Gefahren und Mißverständnissen aussetzen, wenn ich mit einem solchen Schild herumliefe. Susanne würde das Schild nicht begreifen und ausrufen, jetzt bist du endgültig übergeschnappt. Das hat sie schon öfter gesagt, sie sagt es eigentlich immer, wenn sie etwas nicht sofort begreift oder nicht hinnehmen möchte. Ich schaue hinauf zum blauen Himmel und entdecke ein zweites Segelflugzeug. Ein Segelflugzeug am Himmel ist wunderbar, zwei Segelflugzeuge sind schon eine öffentliche Bedürfnisbefriedigung. Jetzt habe ich doch wieder die Gesellschaft kritisiert! Immer will ich mich zurückhalten, aber dann verliere ich die Beherrschung und falle zurück. Susanne ist offenbar nicht mehr in der Nähe. Sonst hätte sie sich längst neben mich auf den Brunnenrand gesetzt, um über ihre oder meine Kindheit zu sprechen oder auch über Sartres Theaterstück ›Geschlossene Gesellschaft‹, in dem sie einmal die Rolle der Estelle gespielt hat, allerdings vor etwa siebenundzwanzig Jahren.
Eine angenehme Müdigkeit zieht in mich hinein oder durch mich hindurch, ich weiß es nicht. Wenn es mir möglich wäre, würde ich mich hier niederlegen und eine halbe Stunde schlafen, dicht neben dem Glitzern des Wassers. Aber ich brauche, um zu schlafen, einen geschlossenen Raum um mich. Ich erhebe mich und gehe schräg über den kleinen Platz. Es ist Mittag, die Kaufhäuser sind jetzt fast angenehm, weil halb leer, leise und nichtssagend. Wenn ich mich recht erinnere, werden Herrensocken in der zweiten Etage verkauft. Ich durchstreife das Erdgeschoß und suche die Rolltreppe. Links von mir stehen auf langen Regalen Rasierseifen, Haarwasser, Rasierschaum in Tuben, Herrenparfüms, Wattestäbchen, Hautcremes, Babyartikel. Ich mache einen kleinen Umweg und biege in den Gang mit Haushaltsreinigern, Insektensprays und Wischlappen ein. Ich weiß nicht, warum ich etwa zehn Sekunden später ein Päckchen mit Rasierklingen in meiner Jackentasche verschwinden lasse. Vermutlich ist es wieder die Verstimmung darüber, daß ich ohne innere Genehmigung lebe. Gerade hier, in diesem Kaufhaus, möchte ich gefragt werden, ob ich auf der Welt sein möchte. Ich brauche nur ein einziges Paar Herrensocken, aber ich werde an Hunderten von Paaren vorbeigehen und mindestens ein Dutzend persönlich in die Hand nehmen müssen, ehe ich ein geeignetes Paar Herrensocken gefunden haben werde. Aber es tritt niemand an mich heran, es nimmt mich niemand zur Seite, es stellt mir niemand die Frage, ob ich jemals die Zustimmung dazu gegeben habe, daß ich hier umhergehe. Statt dessen sehe ich eine Behinderte in einem Rollstuhl durch die Gänge fahren. Im Augenblick gleitet sie an riesigen Packungen mit Toilettenpapier und ebenso riesigen Packungen mit Papierwindeln vorbei. Routiniert greift sie mit ihren kleinen Händen in die Speichen der beiden Rollstuhlräder. Ihr Anblick bewirkt, daß ich die Rasierklingen in meiner Jackentasche nun doch bezahlen möchte. Ich begreife diesen Zusammenhang nicht. Es scheint so zu sein, daß das Erscheinen einer Person, der es noch schlechter geht als mir, in mir das Verhalten eines guten Menschen hervorruft. Der Satz klingt plausibel, in Wahrheit klärt er nichts und läßt mich ratlos zurück. Ich schaue nur der mit erhöhter Geschwindigkeit davonrollenden Behinderten nach und würde in diesem Augenblick (gäbe es jemanden, der mich fragte) die Genehmigung des Auf-der-Welt-Seins vermutlich nicht erteilen. Schon stehe ich an der nächsten Kasse. Die Rasierklingen habe ich unauffällig aus meiner Jackentasche herausgeholt. Es sieht jetzt so aus, als hätte ich sie von Anfang an zur Kasse tragen wollen und als sei mir eine noch so versteckte Auflehnung gegen das nicht genehmigte Leben vollkommen fremd. Und während ich in der langen Reihe an der Kasse stehe und nur langsam vorankomme, sehe ich über die Oberkanten mehrerer Warenregale hinweg das ziemlich verwitterte Gesicht meines ehemaligen Freundes Himmelsbach. Ich habe ihn schon mindestens ein halbes Jahr lang nicht mehr gesehen und ebenso lang nicht mehr gesprochen. Es gibt zwischen uns ein Zerwürfnis, das ungefähr sieben Jahre zurückliegt. Es ging Himmelsbach schon damals nicht mehr gut, und er fragte mich, ob ich ihm fünfhundert Mark leihen könne. Ich gab ihm das Geld, ich habe es bis heute nicht zurückerhalten. So ging eine alte Freundschaft in die Brüche, beziehungsweise sie löste sich mehr und mehr in peinliche Situationen auf, von denen sich jetzt gerade wieder eine abzuspielen beginnt. Himmelsbach arbeitete in früheren Jahren als Fotograf in Paris. Das heißt, er wollte als Fotograf in Paris arbeiten, er hatte sich sogar eine kleine Wohnung im 8. Arrondissement gemietet, die er mir einmal für vierzehn Tage zur Verfügung stellte, während er in Südfrankreich auf Reisen war. Die Wohnung hatte eine kleine Küche, ein kleines Bad, ein größeres und ein kleineres Zimmer. Das große Zimmer durfte ich nicht benutzen, es war sein Privatraum und während seiner Abwesenheit abgeschlossen. Schon am ersten Tag, als ich allein in der Wohnung war, stellte ich fest, daß es in das für mich bestimmte kleine Zimmer hereinregnete. Im Fenster fehlte außerdem ein großes Stück der Scheibe, so daß der Wind hereinzog und das Zimmer praktisch immer kalt war. Ich hielt mich deshalb die vierzehn Tage weitgehend draußen auf und benutzte die Wohnung nur zum Übernachten. Als Himmelsbach zurückkehrte, öffnete er das als Privatraum bezeichnete große Zimmer, das vollkommen trocken geblieben war und außerdem über einen funktionierenden Heizkörper verfügte.