Wilhelm Genazino
Die Liebesblödigkeit
Roman
Carl Hanser Verlag
ISBN-13: 978-3-446-24233-3
© 2005/2012 Carl Hanser Verlag München Wien
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
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Die Liebesblödigkeit
1
Ich betrachte eine junge Mutter, die sich eine Daumenspitze anfeuchtet und ihrem kleinen Kind einen braunen Fleck auf der rechten Wange wegreibt. Das Kind schließt die Augen und hält der Mutter ruhig das Gesicht hin. Danach folge ich einer offenbar verwirrten Frau, die kurz nacheinander drei halbvolle Mülltonnen umwirft und dabei halblaut schimpft, dann aber umkehrt und die Mülltonnen wieder aufstellt. Zwei Halbwüchsige springen mehrmals auf die untere Plattform einer Rolltreppe, um sie zum Stillstand zu bringen. Aber die Rolltreppe leistet Widerstand und bleibt nicht stehen. Die beiden Jungen verhöhnen dafür die Rolltreppe und ziehen dann weiter. Wieder tritt die Frage an mich heran, ob ich mich für das, was um mich herum geschieht, interessieren soll oder nicht. Über die Breite einer ganzen Schaufensterscheibe steht mit großen weißen Buchstaben: Zwei Pizzen zum Preis von einer. Ich überlege, ob ich mit Sandra oder Judith dieses Lokal besuchen soll. Aber Sandra mag keine Pizzen und Judith keine Steh-Lokale. Gegen meinen Willen denke ich im Weitergehen über das Pizza-Angebot nach. Es kann nur funktionieren, wenn man gerade jemanden bei sich hat, der zufällig ebenfalls Hunger und außerdem ein bißchen Zeit und nichts gegen diese Pizzeria, das heißt vor allem nichts gegen die fürchterliche Musik einzuwenden hat, die aus der offenen Tür auf die Straße herausdröhnt. Diese Voraussetzungen treten vermutlich niemals gleichzeitig ein. Ein Scheinangebot! denke ich still triumphierend und vergesse die Pizzeria. Ich schaue einem Sightseeing-Bus nach und belustige mich ein bißchen über ihn. Unsere Stadt glaubt, sie sei sehenswert, und läßt in den Sommermonaten zwei oder drei richtige Doppeldecker-Busse durch die Straßen fahren. Erstaunlich ist, daß es pro Fahrt immer wieder vier oder fünf Personen gibt, die sich tatsächlich auf den Oberdecks der Busse verteilen und das Spiel mitmachen. Offenbar fällt niemandem auf, daß es pro Rundfahrt zwischen sechzig und siebzig frei bleibende Bus-Plätze gibt, die den Anspruch der Sehenswürdigkeit genauso still verhöhnen, wie ich ihn bemerke. Ein kurzsichtiger Mann geht dicht an mir vorüber und zählt das Kleingeld in seiner Hand. Ein anderer Mann, der an einem Brötchen kaut, hat plötzlich keine Lust mehr am Essen und legt das halb aufgezehrte Brötchen auf einem Fenstersims ab. Mich fesselt eine verwahrloste Frau, die neben dem Eingang eines Kaufhauses steht und junge Katzen verkauft. Zwei Tiere trägt sie auf der Armbeuge, weitere Tiere befinden sich in einem Karton, der zu ihren Füßen steht. Ein ebenfalls verwahrlostes Kind hält den Deckel des Kartons zu. Zwei größere Kinder tun so, als seien sie behindert. Sie legen ihre nach vorne gestreckte Zunge auf die Unterlippe und lallen dazu. Sie können die Verstellung nicht lange durchhalten, dann brechen sie in Gelächter aus. Ich weiß nicht, warum mich die Kinder an meinen ersten Schultag im Gymnasium erinnern. Bevor der Unterricht losging, trat damals eine Ärztin vor die Klasse und sagte, daß wir untersucht werden. Sie rief die Kinder in alphabetischer Reihenfolge auf und griff jedem Jungen in die Hose. Sie griff am Penis vorbei und suchte nach den Hoden. Denn sie mußte nachprüfen, daß die Hoden richtig nach außen getreten waren und ordentlich in dem für sie vorgesehenen Säckchen lagerten. Zwei Jungen (einer von ihnen war ich) fielen in Ohnmacht, vermutlich deswegen, weil wir so den Nachforschungen der Ärztin aus dem Weg zu gehen hofften. Tatsächlich durften wir uns eine Weile auf eine Bank legen und schienen gerettet. Aber als wir wieder zu uns kamen, öffnete uns die Ärztin unter den Blicken der Klasse den Hosenladen und überprüfte, jetzt sogar bei heruntergelassenen Hosen, per Augenschein die Lage unserer Hoden. Ich frage mich, warum mein Gedächtnis diese Szene aufbewahrt hat. Sandra hat mir am Telefon den Auftrag gegeben, ich solle ein paar Pfirsiche, ein Viertel spanische Salami und ein kleines Weißbrot mitbringen. Ich werde den heutigen Abend und die Nacht bei Sandra verbringen. Sandra wird wie üblich kochen, wir werden zusammen essen und plaudern, dann ein wenig fernsehen und früh ins Bett gehen.
Sandra ist dreiundvierzig Jahre alt, sie ist einen Kopf kleiner als ich, sie hat dunkle Augen und kurzgeschnittenes Haar, eine gute Figur und eine ausreichende Bildung, die sie jedoch als mittelmäßig empfindet. Sandra ist mitteilsam, glaubt jedoch, sich nicht ausdrücken zu können, worüber ich mich amüsiere. Sie ist Chefsekretärin und arbeitet jeden Tag zwischen acht und neun Stunden lang und leidet nach eigener Aussage nicht unter ihrer Arbeit. Es gefällt ihr, daß sie in ihrer Position so gut wie alles über die Mitarbeiter des Betriebs (einer kleinen Fabrik für Sanitärgeräte) weiß und daß sie zuweilen selber Entscheidungen treffen darf, die für alle Mitarbeiter bindend sind. Wir kennen uns seit dreiundzwanzig Jahren, allerdings mit Unterbrechungen. Als wir uns zuerst begegneten, waren wir noch sehr jung, und zu Beginn gab es eine Zeit, in der wir beinahe geheiratet hätten. Aber dann stellte sich heraus, daß Sandra Kinder haben wollte, und an diesem Konflikt scheiterte nicht unsere Zuneigung, wohl aber das weitere Zusammenbleiben. Ich hatte und habe keine Neigung, Nachkommen zu zeugen. Sandra verließ mich nach zwei Jahren bitterer Auseinandersetzungen und heiratete bald darauf einen Elektrotechniker. Rasch bekam sie einen Sohn und blieb sechs Jahre verheiratet. Noch während ihrer Ehe trafen wir uns wieder und wurden erneut ein (heimliches) Paar. Sandras längst erwachsener Sohn ist heute mit einer Krankenschwester verheiratet und besucht seine Mutter zu selten, findet Sandra. Zu ihrem früheren Ehemann hat Sandra kaum noch Kontakt und wünscht auch keinen.
Ich betrete ein Kaufhaus und fahre mit der Rolltreppe nach unten in die Lebensmittelabteilung. (Bis heute durchweht mich, wenn ich die Hodenuntersuchung erinnere, die Scham von damals. Die Geschichte ist belanglos geworden, aber die Scham ist immer frisch. Wo nimmt die Scham ihre Lebendigkeit her? Es ist, als würden sich die Gefühle von ihren Erlebnissen lösen und selbständig weiterleben.) Ich kaufe ein Viertel Paprikawurst und ein kleines Brot. Bei einer jungen Verkäuferin verlange ich ein Kilo der schönen rot-gelben Pfirsiche, die genau unter einem hellen Punktstrahler liegen. Die Verkäuferin fragt zurück: Wollen Sie gelbfleischige oder weißfleischige Pfirsiche?
Ich verstehe die Frage nicht und stutze. Die Verkäuferin wiederholt ihre Frage. Um das Problem aus der Welt zu schaffen, deute ich mit dem Zeigefinger auf die von mir gemeinten Pfirsiche.
Ahhh, macht die Verkäuferin, also die weißfleischigen.
Ahhh, sage ich, von diesen Neuerungen weiß ich nichts.
Aber weißfleischige Pfirsiche gibt es doch seit meiner Jugend, sagt die Verkäuferin lachend.
Ja, sage ich, seit Ihrer weißfleischigen Jugend! In meiner schon leicht angegilbten Jugend hat man diesen Unterschied noch nicht gekannt.
Es gefällt der Verkäuferin, daß ich vor ihr und den anderen Kunden ihre Jugend betont habe. Lachend packt sie die Pfirsiche ein. An meiner Antwort erkenne ich, daß ich guter Laune bin und mich auf den Abend mit Sandra freue. Trotzdem verstehe ich nicht, warum ich vor fremden Leuten auf mein Alter hinweise. Mit meinen zweiundfünfzig Jahren bin ich gewiß nicht mehr jung, aber auch noch nicht so alt, daß ich öffentlich auf meine Vergänglichkeit anspielen sollte. Ich weiß nicht, warum ich mich zu solchen Bekenntnissen hinreißen lasse. Wieder (wie in letzter Zeit öfter) habe ich das Gefühl, daß ich mich ohne Not unwürdig darstelle. Ich nehme die Pfirsiche an mich und verlasse das Kaufhaus.
Eine halbe Stunde später fragt mich Sandra im Stil einer langjährigen Ehefrau: Na, wie war dein Tag? Ich antworte wahrheitsgemäß, daß ich heute mehr gearbeitet habe, als ich von mir habe erwarten können. Dann setz’ dich hin und ruh’ dich aus, sagt Sandra. Ich folge ihr in die Küche. Sandra steht im Unterrock am Herd. Das heißt, obenrum trägt sie eine dünne Wollweste. Sandra weiß, daß ich sie gern im Unterrock herumwirtschaften sehe. Knapp unterhalb ihres linken Ohrs wächst ihr ein einzelnes, langes dunkles Haar, das Sandra nicht entfernt. Später, im Bett, wenn ich das Haar auf der weißen Bettwäsche werde liegen sehen, wird es mich beeinträchtigen. Auch bei Sandra zeigt sich das Älterwerden. Zum Beispiel bewahrt sie jetzt Gegenstände, die sie früher ohne Überlegung weggeworfen hat (eine leere Keksdose, gebrauchtes Geschenkpapier, nichtssagende Urlaubspostkarten) sorgfältig auf. Sandra kocht einen Risotto mit wunderbar frischen Meeresfrüchten. Sie gibt mir eine Flasche Weißwein zum Öffnen und stellt zwei Gläser auf den Tisch. Später erzählt mir Sandra die neuesten Turbulenzen aus dem Leben eines schwulen Kollegen. Dieser wohnt neuerdings mit einem erheblich jüngeren Schwulen zusammen und wird von diesem laufend betrogen. Ich höre diesen Geschichten mit mäßigem Interesse zu, muß allerdings zugeben, daß sie mich in eine lebenszugewandte Stimmung versetzen, die ich, wenn ich allein bin, nicht so ohne weiteres zustande bringe. Nach zehn Minuten lache auch ich über die Schwulen und ihren merkwürdigen Zwang, so gut wie täglich über ihr Intimleben zu reden. Nach dem Essen nimmt Sandra ihr Dessert-Tellerchen (mit einer Portion Cassata) und geht ins Zimmer nebenan. Sie will im Fernsehen einen Film über Mischehen sehen. Sie ruft mir zu, ich solle neben ihr Platz nehmen. Tatsächlich schaue ich mir den Film über Mischehen an, obwohl mich das Problem sowenig interessiert wie die Eifersucht schwuler Männer. Doch mein Unwille bleibt unerheblich. Nach dem Mischehen-Film will Sandra auch noch einen Film über brasilianische Kinderbanden sehen. Das wird mir zuviel. Ich sage, daß ich mich schon mal nebenan ins Schlafzimmer begebe. Sandra ist über diese Abendgestaltung nicht beunruhigt, sie ist zwischen uns seit langer Zeit eingespielt. Im Grunde weiß ich bis heute nicht, wie man mit einem vertrauten Menschen einen ganzen Abend verbringt. Ich verberge meine Ratlosigkeit, indem ich mich dem von Sandra eingeführten Schema unterwerfe. Sandra krault mir liebevoll die Kniekehlen und sagt, daß sie gleich nachkommen wird. Nach weniger als fünf Minuten habe ich mir die Zähne geputzt und liege im Bett.
Sandra lebt in einer Altbauwohnung, und in ihrem Schlafzimmer befindet sich neben der Tür ein wuchtiges Waschbecken. Es stammt aus der Zeit, als die meisten Wohnungen noch kein eigenes Badezimmer hatten. Sandra fühlt sich durch den Anblick des Waschbeckens gestört, aber der Hausbesitzer duldet seine Entfernung nicht. Sandra hat wenig Verständnis für die Eigentümlichkeiten von Wohnungen. Sie schimpft, weil die Küche nicht genauso warm wird wie das Wohnzimmer, weil die Balkontür klemmt und weil die Toilettenspülung zu langsam ist. Der Gedanke, daß Wohnungen genauso fehlerhaft sind wie Menschen und daß man ihr Ungenügen deswegen tolerieren muß, ist Sandra fremd. Ich neige dazu, mich an Mängel zu gewöhnen. Es macht mir Vergnügen, die Analogien zwischen den Mängeln der Dinge und den Mängeln der Menschen fortlaufend zu beobachten. Sandra gegenüber muß ich verschweigen, daß ich das Waschbecken in ihrem Schlafzimmer sogar für eine Bereicherung halte. Morgens und abends kann ich Sandra vom Bett aus dabei zuschauen, wie sie sich wäscht. Immer wieder wundere ich mich, daß sie sich obenrum zart, untenrum jedoch mit heftigen, ja stoßartigen Bewegungen zu Leibe rückt. Durch die beiden Waschvorgänge fällt die Person für den Betrachter gewissermaßen auseinander. Ich kann sagen, obenrum wäscht sie sich wie eine junge, untenrum wie eine ältere Frau. Wobei ich mir nicht erklären kann, wie die Verlaufsbilder es schaffen, die Person beziehungsweise die Lebensalter so deutlich zu trennen. Nebenan wird der Fernsehapparat abgeschaltet. Sandra vergewissert sich, daß ich noch nicht eingeschlafen bin, und wäscht sich flüchtig. Wir sind in einem Alter, in dem man manchmal vögelt, um hinterher schnell einschlafen zu können. Vergleichsweise häufig sind wir zusammen, um Sandras Ängstlichkeiten zu zerstreuen. Sie fürchtet, nicht mehr begehrenswert zu sein. Aus diesem Grund ist sie fast immer beischlafwillig. Mit zwei zärtlich überprüfenden Handgriffen überzeugt sich Sandra wenig später, daß ich geschlechtsbereit bin, und nimmt die Brückenhaltung ein. Ich knie mich hinter sie, Sandra sinkt mit dem Kopf in die Kissen. Eine Minute lang haben wir keine Probleme, dann greift ein schmerzhafter Krampf in mein linkes Bein und zwingt mich, mich von Sandra zu lösen. Ich verlasse das Bett, verlagere das Körpergewicht auf das verkrampfte Bein und gehe mit durchgedrückten Knien eine Weile im Schlafzimmer umher. Sandra läßt ihren Körper flach auf das Bett absacken. Nach einer halben Minute läßt der Schmerz nach, verschwindet aber nicht ganz. Sandra schaut mir wortlos zu, dann stemmt sie ihren Körper in die Brückenstellung zurück. Es rührt mich, wie offen Sandra zeigt, daß sie mit einer Fortsetzung des Beischlafs rechnet. Aber meine Stimmung ist dahin, außerdem fürchte ich eine Wiederkehr des Krampfs. In diesen Augenblicken wirft sich Sandra ihr Nachthemd über. Ich soll mich mit dem Bauch auf das Bett legen, sagt sie. Ich folge ihr. Sandra setzt sich auf den Bettrand und massiert mir die Waden und die Rückseiten der Schenkel. Vor meinen Augen verwandelt sich Sandra von einer Geliebten in eine Krankenschwester. Tatsächlich verliert sich langsam das Gefühl der Muskelverzerrung. Du solltest mal zum Arzt gehen, sagt Sandra. Gegen Krämpfe kann man nichts machen, glaube ich. Es geht nicht nur um Krämpfe, sagt Sandra, du solltest auch mal deine Blutwerte untersuchen lassen. Es erstaunt mich, daß Sandra über den mißratenen Beischlaf kein Wort verliert. Sie verhält sich, als hätte sie mit derlei Zwischenfällen schon länger gerechnet. Ich drehe mich auf die Seite, Sandra legt sich hinter mich und streichelt mir den Rücken. Hast du Schmerzen? fragt sie leise. Nein. Ich gestehe mir ein, daß ich diesen Stil des Umgangs zwischen Mann und Frau für unüberbietbar halte. Ich merke nicht, wer von uns beiden zuerst einschläft. Nach drei Stunden wacht Sandra auf, verläßt das Bett, holt sich in der Küche einen Butterkeks und kehrt ins Bett zurück. Im Halbschlaf kriege ich mit, daß sie neben mir liegt und langsam den Keks zerkaut (ihre Angewohnheit). Ich höre dem Kauen eine Weile zu und schlafe wieder ein. Ich verbringe eine Nacht ohne Störungen und Alpträume. Frühmorgens, gegen halb sechs, fast gleichzeitig mit der ersten Dämmerung, öffne ich die Augen. Mein Geschlecht ist vor mir wach, ich dränge mich an Sandra heran, sie versteht sofort. Eine halbe Minute später stecken wir ineinander. Ich weiß momentweise nicht, wofür ich dankbarer sein soll, über den verschwundenen Krampf oder über unsere Heftigkeit am frühen Morgen. Nach dem Vögeln schiebe ich Sandras Nachthemd wieder über ihren Hintern. Dieser Vorgang amüsiert Sandra jedesmal. Es ist, als wolltest du meinen Hintern wieder ordentlich in einer Schublade verstauen, sagt sie. Ein bißchen ist es auch so, sage ich, die guten Dinge muß man ordentlich verwahren. Sandra steigt lachend aus dem Bett und bereitet das Frühstück zu.
Es gefällt mir, wenn ich nach einer Nacht bei Sandra frühmorgens nach Hause gehe. Jedesmal habe ich das Gefühl, ich sei lange weg gewesen und kehre nach glücklich überstandenen Abenteuern zurück. Ich habe eine starke Empfindung von Freiheit, die wegen ihrer Heftigkeit ein bißchen lächerlich ist. In den Grünanlagen schaue ich nach Wacholderdrosseln. Ich suche nicht wirklich, ich will nur das Wort Wacholderdrossel ein paarmal denken. Statt dessen sehe ich schönen Klatschmohn auf einem Geröllhaufen. Die sanftroten Blüten wehen leicht hin und her. Ich durchstreife den Innenstadtbereich und erschrecke über die heruntergelassenen Stahlrolläden einer Bank. Ich ermahne mich, mich mehr für Wirtschaft und Globalisierung zu interessieren. Viele meiner Bekannten sagen, wir hätten eine Bankenkrise, die viel gefährlicher sei als eine gewöhnliche Wirtschaftskrise. Man hat jetzt Mitleid mit den Banken, das hat es in meiner Jugend nicht gegeben. Ich bin altmodisch, mein Mitleid gehört nach wir vor den Leuten, die von den Banken entlassen werden. Im Eingangsbereich der geschlossenen Bank haben sich einige Obdachlose angesiedelt. Handelt es sich vielleicht um gefeuerte Bankangestellte? Sie suchen sich solche windgeschützten Plätze, wo sie nicht vertrieben werden und wo es in der Nacht nicht völlig dunkel wird. Ich gehe an den schon angerosteten Stahlrolläden vorbei und empfinde wieder nicht das geringste Interesse für die Bankenkrise. Die Obdachlosen liegen herum, als würden sie schon immer hier herumliegen. Es fällt auf, daß jeder frei gewordene Platz sofort von nachrückendem Leben in Beschlag genommen wird. Einer der Obdachlosen spielt mit der Hand im Fell seines Hundes, ein anderer spuckt Tabakkrumen aus. Von den Bildern gehen eigenartige Verstummenseffekte aus, die jetzt sogar in mein Innenleben eindringen. Ich wehre sie ab, indem ich zwei hellen Kinderstimmen folge. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß ich jetzt fürchte, ich werde eines Tages meine Uhr verlieren. Ich trage sie nicht mehr am Armgelenk, ich stecke sie in die Anzugtasche, wo sich schon mein Schlüsselbund, ein bißchen Geld, ein Taschentuch und ein kleiner Anstecker befinden, der eigentlich Sandra gehört. Eines Tages, wenn ich vor irgend etwas fliehe, werde ich nach meinem Taschentuch greifen und dabei versehentlich meine Uhr herausschleudern. Ich eile durch vermurkste Seitenstraßen, ich bemühe mich, abstoßenden Möbelgeschäften und ekligen Billigmärkten nicht zu nahe zu kommen. Eine Frau geht an einer Drogerie vorüber und faßt die draußen aufgestellten Sonderangebote an. Ich schaue ihr dabei zu, wie sie kurz nacheinander einen Vorteilspack Kindercreme, einen Waschhandschuh, ein Päckchen Puffreis, eine Packung Spritzgebäck, eine Strumpfhose und einen Zwölferpack Teelichter mit den Fingerspitzen berührt. Ich betrachte die Leute, die zu bequem oder zu faul oder zu traurig sind, sich zu Hause ein Frühstück zu machen. Mit verhangenen Gesichtern sitzen sie hinter einer Tasse Kaffee und bittern leise vor sich hin. Personen, die schon morgens mehr als zwei volle Plastiktüten herumtragen, wirken ordinär. Speckige Säuglingsbeine baumeln wie Weißwürste aus den Tragetüchern ihrer Mütter. Rosa Blüten fallen von den Kastanien herunter. Ich fühle mich frei; ich merke es daran, daß ich mit niemandem und nichts innerlich abrechnen muß. Ich finde es bemerkenswert, wie elegant und beinahe unbemerkt ich mich selber beschwindle. Denn alles, was ich im Augenblick über Freiheit und Liebe denke, stimmt nicht ganz. Wie so oft, wenn ich über diese Themen nachdenke, fühle ich einen Moment der Schwäche. Ich betrete deswegen ein Café und verlange einen Cappuccino. Es gibt jemanden, mit dem ich abrechnen muß, und das bin ich selbst. Es plagt mich das Gefühl, daß ich rasch altere und meine Verhältnisse klären muß. Damit meine ich ausschließlich meine Liebesverhältnisse. Immer wieder stelle ich mir die grauenhafte Szene vor, daß ich vielleicht demnächst in einem Krankenhaus liege und gleichzeitig von den beiden Frauen besucht werde, die ich seit vielen Jahren liebe und die voneinander nichts wissen. Diese Konfrontation muß unbedingt verhindert beziehungsweise ausgeschlossen werden: indem ich mich von einer der beiden Frauen trenne. Schon im nächsten Augenblick weiß ich, daß ich eine elegante Regelung nicht schaffe, und übe Ausweich-Sätze: Ihr müßt verstehen, daß ich euch beide liebe! Dann denke ich: Auch dieser Satz ist nicht menschenmöglich. Links von mir sagt ein Kind: Mama! Jedesmal komme ich zu spät zur Musikstunde! So kann es nicht weitergehen! Die Mutter sieht nur auf, das Kind spielt weiter. Die Klage des Kindes tröstet mich. Schon das Leben der Kinder kann so nicht weitergehen! Aber wo ist das Leben, das so weitergehen darf, wie es gerade ist? Rechts von mir packt eine Frau einen neuen Schlafanzug aus und legt die Schlafanzugjacke dem Mann neben ihr auf die Vorderseite seines Oberkörpers. Trotz der Lächerlichkeit, die der Mann in diesen Augenblicken sowohl erleidet als auch ausstrahlt, beneide ich ihn um die Besorgtheit der Frau. Ich denke an Judith. Vermutlich sitzt sie gerade in einer Straßenbahn und fährt in die Vororte. Judith ist mir genauso unverzichtbar wie Sandra, obwohl sie in vieler Hinsicht das vollkommene Gegenteil von Sandra ist. Die Bedienung bringt den von mir bestellten Cappuccino und kassiert ihn gleich ab. Judith ist einundfünfzig, das heißt, sie ist fast so alt wie ich. Ich kenne sie nicht ganz so lange wie Sandra. Bis vor etwa zehn Jahren arbeitete Judith zunehmend verdrossen, aber unermüdlich an ihrer Karriere, dann gab sie auf. Judith ist gescheiterte Konzertpianistin. Kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag nahm sie endgültig hin (endgültig!), daß sie von jüngeren (und vermutlich talentierteren) Musikern überrundet worden war und außer ein paar gelegentlichen Auftritten in der Provinz keine Öffentlichkeit mehr zustande brachte. Seit diesem Schlußstrich hält sich Judith mit Nachhilfestunden über Wasser. Latein, Englisch, Französisch; außerdem gibt sie Klavierstunden. Sie arbeitet täglich mindestens sechs Stunden, manchmal sieben oder acht. Die Wohnungen der Schüler (Jungen und Mädchen zwischen acht und zwölf Jahren und ambitionierte Hausfrauen) sind ihre Arbeitsorte. Sie liegen teilweise weit auseinander, so daß Judith lange Strecken zurücklegen muß und am Abend so kaputt ist wie eine Fabrikarbeiterin.
Ich trinke meine Tasse leer und verlasse das Café. Kurz darauf sehe ich einen entfernten Bekannten von mir, den Panik-Berater Dr. Ostwald. Auch er entdeckt mich, er winkt über die Straße, ich winke zurück. Er ist Hobbysegler und hat mich vor etwa drei Wochen wieder einmal zu einer Segeltour eingeladen. Ich wollte ihn ein für allemal abwimmeln und erzählte in lockerer Manier, daß ich zwei Frauen liebe und deswegen keine Zeit für Hobbys habe. Ich hätte besser den Mund gehalten. Dr. Ostwald erkannte sofort den Problemgehalt meiner Antwort und bot mir eine Konfliktlockerungsbehandlung an. Das ist nicht weiter schlimm, Dr. Ostwald würde am liebsten alle Menschen behandeln. Ich erhöhe mein Tempo, obwohl ich auch nicht möchte, daß Dr. Ostwald meinen Fluchtimpuls bemerkt. Er unterhält in der Schillerstraße eine gutgehende Problempraxis. Zu ihm kommen »panifizierte Personen« (sein Ausdruck), die mit ihren »Lebenswiderfahrnissen« (sein Wort) nicht mehr zurechtkommen. Die Kräfte des Menschen reichen nicht aus, sein Leben zu ordnen, sagte er mir vor etwa drei Wochen. Und: Im Unglück hat der Mensch keine Ideen. Ich schwieg bedeutungsvoll, er redete weiter. Es kommt darauf an, so zu leben, daß ein erhöhter Ordnungsbedarf gar nicht erst entsteht. Ich wollte an dieser Stelle lachen, aber ich beherrschte mich. Es ist das Unglück der Menschen, daß sie ihre Probleme für lösbar halten. Vermutlich sollten mich diese Sätze provozieren. Ich glaube, Dr. Ostwald hat bemerkt, daß ich ihm aus dem Weg gehen möchte. Im Prinzip mache ich mich über ihn gerne ein bißchen lustig, obwohl ich seine Arbeit nicht für völlig überflüssig halte. Mit ein paar Blicken in eine große Schaufensterscheibe vergewissere ich mich, daß Dr. Ostwald verschwunden ist. In den ersten Jahren hatte ich öfter Angst, daß mich Sandra mit Judith oder Judith mit Sandra überraschen würde. Erst später ist mir aufgefallen, daß beide Frauen in voneinander abgetrennten Welten leben, deren Berührung ich nicht fürchten muß. Sandra verbringt ihre Tage im Büro, Judith ist täglich außer sonntags mit Bussen und S-Bahnen unterwegs. Wir sind nicht mehr jung, das heißt, wir haben schon vor langer Zeit aufgehört, das Glück in Lokalen, Kinos oder auf Tanzfesten zu suchen. Vielmehr sind wir vom Ablauf des sogenannten normalen Lebens am Abend ermüdet und erholen uns in unseren Wohnungen. Es kommt selten vor, daß Judith oder Sandra bei mir übernachten. Es gibt dafür keinen besonderen, sondern nur den allgemeinen Grund, daß meine Wohnung – ich will es mal so ausdrücken – den empfindsameren Ansprüchen von Frauen nicht standhält. Weder Sandra noch Judith neigen zu Mißtrauen oder Argwohn. Es ist schon sehr lange her, daß Sandra spätabends mit einem Anruf kontrollierte, ob ich wirklich zu Hause war oder ob ich mich am Telefon so merkwürdig verhalte, daß sie auf die Anwesenheit einer anderen Frau hätte schließen können oder müssen.
2
In meiner Wohnung ziehe ich mich aus und dusche. Die Hose lege ich auf den Kühlschrank, das Hemd werfe ich über den Fernsehapparat. Es gehört zu meiner Freiheit, daß jetzt keine Frau erscheint und Hose und Hemd ordentlich aufräumt. Nach dem Duschen sehe ich, daß die Hose vom Kühlschrank heruntergerutscht ist und ausdrucksvoll wie eine kleine dunkle Stoffhalde gegen die Tür des Kühlschranks lehnt. Auch jetzt erscheint keine Frau und hebt die Hose auf oder fragt, warum ich es nicht selber tue. Ich könnte die Frage nicht beantworten. Oder vielleicht doch. Die Hose beginnt in diesen Augenblicken, mir meine eigenartig zusammengewürfelte/zusammengehauene/zusammengeklumpte Lebensgeschichte zu erzählen. Eine Weile höre ich zu, dann mag ich nicht mehr. Mein Leben fasziniert mich, aber nachdem es mich eine Weile fasziniert hat, langweilt es mich plötzlich. So ist es immer wieder! Manchmal komme ich mit dem Umschlag von der Faszination in die Langeweile zurecht, manchmal nicht. Mit Judith könnte ich über die Erzählung der am Boden liegenden Hose sprechen, mit Sandra eher nicht. Sandra würde erschrecken und hätte über den Schreck hinaus keinen Einfall. Judith ist der Kunst, dem Denken und der Reflexion hingegeben. Sie setzt sich immer mal wieder irgendwohin und sinnt einer ästhetischen Erfahrung nach, die sie vor drei Tagen oder vor drei Jahren gemacht hat. Zu meiner unseligen Widersprüchlichkeit gehört, daß ich mir jetzt vorstelle, wie schön es wäre, wenn ein wohlgesonnener Mensch (Sandra! Judith!) mich in meiner Wohnung empfangen hätte. Ich erinnere mich an die Zeit, als ich vor elf Jahren in diese Wohnung einzog. Sandra besuchte mich schon am ersten Abend und forderte mich ohne Zögern zu einem Sofortbeischlaf auf. Später erzählte sie mir, daß sie damals weder Begierde noch Lust empfand, sie wollte nur ein Zeichen der Inbesitznahme der Wohnung setzen. Danach war die Wohnung, glaubte sie, ihr Territorium. Diese Annahme rührt mich und nimmt mich noch heute für Sandra ein. Ich kann die dauerhafte Liebe zu zwei Frauen nur empfehlen. Sie wirkt wie eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt. Man wird mit Liebe gemästet, und das ist genau das, was ich brauche. Die Liebe zu zwei Frauen ist weder obszön noch gemein noch besonders triebhaft oder lüstern. Sie ist im Gegenteil völlig normal (und normalisierend), sie ist eine bedeutsame Vertiefung aller Lebensbelange. Ich vergleiche sie oft mit der Elternliebe. Niemand hat je gefordert, daß wir nur die Mutter oder nur den Vater lieben dürfen. Im Gegenteil, alle Welt verlangt von uns, daß wir Mutter und Vater lieben, und zwar gleichzeitig und stets heftig und ein Leben lang oder sogar länger. Wehe, wenn wir in der Liebe zum einen oder anderen nachlassen! Immer wieder frage ich mich, warum uns in dem einen Fall eine Doppelliebe möglich sein soll, während sie in dem anderen Fall untersagt ist. Mir jedenfalls ist das Bewußtsein dafür, daß mein Sexualleben polygam genannt wird und nach den herrschenden Auffassungen niederträchtig ist, im Laufe der Jahre abhanden gekommen. Wenn ich längere Zeit mit nur einer Frau Umgang habe (weil Sandra verreist ist oder weil Judith alleine sein möchte), erleide ich prompt die Zustände der Verlassenheit und des Ausgeliefertseins, das heißt, es ergreift mich das Dauerleiden aller Monogamen.
Daß ich mit der Dreierkonstellation dennoch hadere, hat einen äußerlichen und deprimierenden Grund. Ich muß mir darüber klarwerden, daß ich früher oder später nicht mehr die Wendigkeit, die Lust und vermutlich auch nicht mehr die Kraft zu einer Polygamie in drei Wohnungen haben werde. Ich muß seit einiger Zeit an den Niederschlägen und Schwachheiten des Alterns teilnehmen. Das bedeutet, daß ich mich für eine Frau werde entscheiden müssen, mit der ich dann auch zusammenziehen will. Fühle ich mich mehr zu Sandra oder mehr zu Judith hingezogen? Die Antwort ist: Ich bin verstimmt, weil ich eine Lebensentscheidung treffen soll. Prompt fange ich an, Sandras und Judiths Vor- und Nachteile gegeneinander aufzurechnen. Ich weiß, das Frauenvergleichen ist widerlich und sogar geschmacklos. Aber das Vergleichen ist unterhaltsam! Ich gehe in der Wohnung umher und halte (zum Beispiel) Judith stumm vor, daß sie so gut wie nie kocht, weil sie zuviel aushäusig arbeitet und durch das Kochen die Wohnung mehr und mehr den Geruch einer Kantine annimmt (argumentiert Judith). Da auch ich nur selten koche, treffen wir uns dann und wann mittags zum Essen in einem Kaufhaus-Kasino oder in einem Bistro (wo Sandra niemals hingeht). Zwei Atemzüge später werfe ich Judith außerdem vor, daß sie auf der Straße nicht geküßt werden will. Sandra hingegen möchte immer und überall und ganz besonders auf der Straße geküßt werden. Sie will auch vor anderen Menschen eine geküßte Frau sein, weil sie im öffentlichen Kuß das Zeichen einer Wahl und einer Bevorzugung sieht. Im Wohnzimmer trete ich aus Versehen auf den Staubsauger, der seit Tagen seitlich neben dem Sofa liegt. Der Plastikgriff bricht sofort ab. Ich ärgere mich, weil ich einen neuen Staubsauger kaufen muß, gleichzeitig bin ich froh, daß ich mit dem Frauenvergleichen jetzt aufhören kann. Kurz vorher belobige ich Sandra noch einmal, daß sie sich so schnell in eine hilfsbereite Krankenschwester verwandelt hat. Mein (zur Zeit) zensierendes Bewußtsein erteilt Sandra dafür die Note Eins. Mehr aus Versehen schaue ich auf meinen Schreibtisch. Seit Tagen schon schiebe ich eine Menge Arbeit vor mir her. Von Beruf bin ich freischaffender Apokalyptiker. Ich lebe von Vorträgen, Kolloquien, Tagungen und Essays in Fachzeitschriften. In Hotels veranstalte ich sogenannte Seminare und beeindrucke die Leute mit meinen erstaunlichen Vorhersagen. Ich muß sofort präzisieren: Ich bin kein Universalapokalyptiker, sondern ein Zivilisationsapokalyptiker, das heißt, ich bin kein Fundamentalist, sondern ein Fortschrittsrevisionist, ein Besinnungskonservativer. Ich glaube, man hört mir gern zu, weil ich die Welt nicht völlig