PER OLOV ENQUIST

Die Ausgelieferten

Roman

Aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass

Carl Hanser Verlag

Die schwedische Originalausgabe erschien 1968 unter dem Titel

Legionärerna – En roman om baltutlämningen bei Norstedts in Stockholm.

Die deutsche Erstausgabe von Die Ausgelieferten erschien 1969 bei Hoffmann und Campe in Hamburg. Die ihr zugrundeliegende Übersetzung wurde für die vorliegende Ausgabe vollständig durchgesehen.

ISBN 978-3-446-24196-1

© Per Olov Enquist 1968

Published by agreement with Norstedts Agency

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2011

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INHALT

Vorwort

I  Der Sommer

II  Ränneslätt

III  Der Auszug der Legionäre

IV  Die Heimkehr

Epilog

VORWORT

Dies ist ein Roman über die Auslieferung der Balten. Sollte die Bezeichnung »Roman« Anstoß erregen, kann man sie durch die Bezeichnungen »Reportage« oder einfach »Buch« ersetzen. Ich habe versucht, mich bis in kleine und unbedeutende Einzelheiten hinein exakt an die Wirklichkeit zu halten: sollte mir das misslungen sein, so ist das eher auf Unvermögen als auf Absicht zurückzuführen. Die beschriebenen Geschehnisse haben sich ereignet, die vorkommenden Personen existieren oder haben existiert, obwohl ich in vielen Fällen gezwungen war, sie durch den Gebrauch fiktiver Initialen zu schützen.

Ich habe auf einen genauen Nachweis von Quellen und Belegen verzichtet. Dennoch liegt diesem Roman ein äußerst umfangreiches Quellenmaterial zugrunde. Außer allem, was bereits über diese Auslieferung gedruckt oder geschrieben vorliegt, habe ich auch umfangreiches ungedrucktes Material verwertet: Dokumente, Tagebücher, Briefe und geheime Berichte. Vor allem aber liegt diesem Buch eine lange Reihe von Gesprächen mit beteiligten Personen zugrunde, die ich von 1966 bis 1968 in Schweden, Dänemark, England und Sowjet-Lettland interviewt habe.

Ich danke allen, die mir bei dieser Arbeit geholfen, mich mit bislang unbekanntem Material versorgt und mir wichtige Hinweise gegeben haben. Ich bin mir bewusst, dass ich viele von ihnen enttäuschen werde; dass ich die verschiedenen Begebenheiten als eine Einheit betrachte, wird ebenfalls nicht überall Beifall finden. Ich wollte von dieser in der schwedischen Zeitgeschichte einzigartigen politischen Affäre ein absolut objektives und exaktes Bild geben, obwohl ich nicht glaube, dass sich vollkommene Objektivität wirklich erreichen lässt.

Einer baltischen Tragödie ein Denkmal zu setzen, war nicht in erster Linie meine Absicht. Ich habe vielmehr, so sorgfältig wie nur möglich, ein schwedisches Dilemma beschreiben wollen.

Per Olov Enquist

1968

I  DER SOMMER

Beide Seiten weigern sich, die Geschichte zu sehen, wie sie wirklich ist – als einen verwickelten und ungeordneten Prozess, in dem die Beschlüsse keineswegs in Übereinstimmung mit genau ausgearbeiteten Plänen gefasst werden, sondern vielmehr in Verwirrung und Dunkel. Unfähigkeit, Zufälle und Dummheit spielen eine größere Rolle als machiavellistische Berechnungen.

Arthur M. Schlesinger jr.

1

Die Geschichte hört sich, kurz zusammengefasst, so an.

Während der ersten beiden Wochen des Mai 1945 kamen viele deutsche Soldaten nach Schweden, vor allem aus dem Osten, da sie unter keinen Umständen gewillt waren, sich den Russen als Kriegsgefangene zu ergeben. Sie kamen aus den baltischen Staaten, vor allem aus dem Kurlandkessel in Lettland, aber auch aus Danzig: etwa dreitausend Soldaten. Sie wurden sofort interniert. Unter ihnen befand sich eine geringere Anzahl Balten, die teils freiwillig in die deutsche Wehrmacht eingetreten, teils zwangsrekrutiert worden waren.

Die baltischen Legionäre flüchteten auf zwei Routen: von Kurland an die Ostküste Gotlands und von Danzig über Bornholm nach Ystad. Ein einziger Soldat kam mit einem Flugzeug. Er landete in der Gegend von Malmö und beging acht Monate später auf der Pier in Trelleborg Selbstmord. Insgesamt waren es hundertsiebenundsechzig Mann, sieben Esten, elf Litauer und hundertneunundvierzig Letten. Alle trugen deutsche Uniform.

In Gotland wurden die Soldaten in einem Lager nahe bei Havdhem interniert; Anfang Oktober brachte man sie über Rinkaby in ein Sammellager in Ränneslätt bei Eksjö. Das Ystad-Kontingent verlegte man zunächst nach Bökeberg, zwei Wochen später ebenfalls nach Ränneslätt. Im November teilte die Regierung mit, dass alle an die Russen ausgeliefert werden sollten. Die Internierten lehnten sich dagegen auf, durch Hungerstreiks, ja durch Selbstmorde. Der Protest verzögerte die Auslieferung bis in den Januar 1946 hinein. Am 25. Januar 1946 wurden die baltischen Legionäre an die Sowjetunion ausgeliefert. Die Gruppe war bis zu diesem Zeitpunkt auf hundertsechsundvierzig Mann zusammengeschmolzen. Das Schiff, mit dem sie abtransportiert wurden, hieß »Beloostrov«. Einundzwanzig Mann, die man nicht auslieferte, waren entweder tot, schwer verwundet, krank oder nicht transportfähig; ein paar ließ man auch aus anderen Gründen frei.

Die Zeit in Schweden umfasst insgesamt acht Monate. Das ist, kurz skizziert, die ganze Geschichte.

Die Lage, die man vorab mit dem Begriff »Auslieferung der Balten« umreißen kann, hat jedoch ihren Ursprung nicht im Mai 1945, sondern weit früher. Die Lage spitzt sich aber im Herbst 1945 rasch zu, erreicht im November einen Höhepunkt, einen weiteren im Januar 1946. Aber auch dieser Zeitpunkt bedeutet nicht das Ende, denn noch heute leben die Ereignisse fort und verändern sich. Die Situation kann nicht in ihrer Gesamtheit beschrieben werden, man kann sie nicht objektiv behandeln, vielleicht aber doch sachlich; jede neue Betrachtungsweise verändert die Dinge. Dieses Buch behandelt einen Ausschnitt des Komplexes »Auslieferung der Balten«, den Zeitabschnitt von 1945 bis 1948.

Am 5. Mai 1945 kamen die ersten nach Gotland, die meisten aber erst einige Tage später. Nach Katthammarsvik kamen sie in der Nacht zum 9. Mai mit einem sechs Meter langen Seelenverkäufer von Fischerboot; sie erreichten den kleinen Hafen zur gleichen Zeit, als eine zweite Gruppe einen Kilometer weiter südlich landete. Die beiden Boote trafen fast zur gleichen Zeit ein, spätabends, der Hafen war menschenleer. Der Motor wurde abgestellt, und das Boot glitt lautlos auf den Kai zu. Eine Glühlampe war die einzige Lichtquelle des Hafens, sie erleuchtete einen Teil des Geländes. In ihrem Lichtschein sahen die Männer in dem Boot Schatten von Häusern und hier und da ein erleuchtetes Fenster. Zwanzig Jahre später sind ihre Erinnerungen an diese Nacht vage und unbestimmt. Nur undeutliche Eindrücke sind ihnen in Erinnerung geblieben. »Wir waren müde.« »Es war eine Art Hafen, eine kleine Ortschaft.« »Es war spätabends; ein paar schwedische Soldaten kamen auf die Pier.«

Aus dem anderen Blickwinkel, dem schwedischen, stellen sich die Dinge etwas klarer dar. Das Boot lag jetzt still an der Pier. An Deck konnte man dunkle Gestalten erkennen, sie trugen Uniform. Deutsche Uniformen. Von Waffen war nichts zu sehen. Auf dem Kai standen ein paar Menschen, einige riefen etwas auf Deutsch. Es kamen Antworten. Das Boot lag tief im Wasser, es schien schwer beschädigt zu sein. Nach einer Viertelstunde kamen die schwedischen Soldaten. Der erste stellte sein Fahrrad ab, ging an die Kaimauer, betrachtete das Fischerboot, sah die Menschen in den Uniformen, zögerte eine Sekunde und rief dann mit lauter Stimme: »Halt!« Hinter sich hörte er ein schwaches Kichern, er drehte sich unentschlossen um und sah die anderen kommen.

Man begann, die Flüchtlinge an Land zu bringen.

Die Männer an Bord waren unrasiert, aber nicht völlig ermattet. Die meisten behaupteten, Deutsche zu sein. Drei gaben an, sie seien Letten. Für eine Registrierung war keine Zeit. Der Soldat, der »Halt!« gerufen hatte, stammte aus Sigtuna. Er kann sich im übrigen nicht mehr genau an den Abend erinnern. Schon am nächsten Tag wurde das Fischerboot an einen anderen Liegeplatz gebracht.

Der lettische Oberstleutnant Karlis Gailitis kam mit einem Boot nach Slite. Der dortige Polizeikommissar bot ihm eine Registrierung als ziviler Flüchtling an. Gailitis bestand jedoch entschieden darauf, als Militär registriert und seinem Dienstgrad entsprechend behandelt zu werden. Daraufhin wurde er in das Internierungslager in Havdhem geschickt und als Offizier registriert.

Während des ganzen 9. Mai wehte an der Ostküste Gotlands ein leichter Wind, Windstärke drei nach der Beaufort’schen Skala, die Sonne schien, es herrschte gute Sicht. Am Abend bezog sich der Himmel von Osten her, und der Wind nahm an Stärke zu. Spät am Abend notierte man eine steife Brise bei nördlichem Wind. Um 23.15 Uhr sah die Besatzung des Leuchtturms von Faludden draußen an den Klippen von Faludden ein Notsignal. Es war die Nacht zum 10. Mai. Seit fast zwei Tagen Waffenstillstand. Das Signal war schwach, aber nicht zu übersehen, ein kleiner Lichtpunkt im heftigen Wind und in der Dunkelheit. Man konnte sich leicht ausrechnen, dass etwas geschehen sein musste.

Die Männer nahmen ein Boot und fuhren hinaus.

Die See war rauh, es war mühsam, das offene Meer zu erreichen, aber die Männer hatten sich nicht geirrt. Im Schein der Sturmlampen sahen sie, dass zwei Boote auf die Klippen aufgelaufen waren. Das eine schien ein Schlepper zu sein – unglaublich mitgenommen, von der Bemalung des Rumpfes nichts mehr zu sehen. Das Boot war offensichtlich schwer beschädigt. Aber vorn am Bug konnte man einen Namen lesen: »Gulbis«. Das zweite Boot, ein motorgetriebener Prahm und noch schwerer beschädigt, lag sehr tief im Wasser; es war nicht auf Grund gelaufen und trieb vor den Klippen längsseits. Es stampfte in der schweren See, an Deck konnte man Schatten sehen, die sich krampfhaft aneinander und an der halbzerbrochenen Reling festhielten.

Das Notsignal brannte am Bug des Schleppers, auf dem es plötzlich von Menschen zu wimmeln schien. Er war nicht groß, aber es mussten sich über hundert Mann an Bord befinden. Alle trugen Uniform. Sie sprachen Deutsch, sie wollten an Land, sie sagten, sie hätten viele Verwundete bei sich.

Sie zeigten auf den Prahm: einige der Schatten lagen an Deck, verwundet, sterbend oder tot. Niemand schien von ihnen Notiz zu nehmen. Die anderen klammerten sich an die Reling und sahen, vor Kälte zitternd, dem Lotsenboot zu, dessen Besatzung versuchte, längsseits beizudrehen. Temperatur plus drei Grad. Steifer Wind aus Nordost.

Eine Trosse wurde zum Prahm hinübergeworfen. Der erste, der an Bord des Lotsenbootes sprang, war ein deutscher Offizier, der sich sofort im Heck niederließ und sich weigerte, diesen Platz wieder zu verlassen. Er schien zu frieren.

Das Lotsenboot war um 23.20 Uhr ausgelaufen. Um 0.20 Uhr ging der erste Soldat an Bord. Um 1.30 Uhr lief das Lotsenboot mit dem ersten Törn wieder in den Hafen ein. Der Prahm schlug im Verlauf der Morgenstunden immer heftiger gegen die Klippen. Es war allen klar, dass man sich zuerst auf dieses Boot konzentrieren musste, damit es nicht mit seiner Besatzung unterging. Die Männer auf dem Schlepper mussten warten. Gegen Morgen drehte der Wind plötzlich auf Süd, die See wurde ziemlich kabbelig, und um 4 Uhr morgens schlug der Prahm endgültig voll und sank. Ein großer Teil der Ausrüstung ging mit dem Prahm unter, aber kein Mensch kam ums Leben. Um 5 Uhr waren alle an Land, der Morgen dämmerte bereits herauf, der Wind war immer noch sehr stark. Der Himmel war bewölkt, das fahle Licht der Dämmerung kalt. Alle froren, über der ganzen Küste lag ein grauer, kalter Dunst.

Man hatte um Hilfe gerufen, und Hilfe war gekommen. Einige Männer wurden in Häuser einquartiert, einige bekamen Zelte, sie wurden verpflegt und konnten schlafen. Der Schlepper draußen an den Klippen erschien jetzt sehr klein, er verschwand fast hinter den Schaumkronen, er war klein, schwarz und unbedeutend. Er sollte noch einige Wochen dort draußen auf den Klippen liegenbleiben, da niemand Zeit hatte, sich um ihn zu kümmern.

Die Flüchtlinge hatten den Schlepper vor zwei Tagen in Ventspils gefunden, jetzt hatte er seine Rolle für immer ausgespielt.

Beim Zählen der Soldaten von dem Wrack kam man auf genau hundertfünfzig Mann. Ursprünglich waren mehr an Bord gewesen; einer der Offiziere gab an, dass man am Tag zuvor dreiunddreißig Tote der See übergeben hatte. »Es ist möglich, dass auch ein paar Verwundete unter ihnen waren.«

Auf die Frage, warum das geschehen sei, gab er an, der Wind sei sehr heftig gewesen, der Prahm habe tief im Wasser gelegen, unaufhörlich seien Brecher über die Boote geschlagen, und außerdem habe man quer zum Wind fahren müssen.

Die Windstärke an der Ostküste Gotlands schwankte zwischen drei und fünf (nach der Beaufort’schen Windskala). Der Wind kam aus Nord bis Nordost.

Acht der Soldaten erklärten, lettische Staatsbürger zu sein. Vier von ihnen waren Offiziere, vier waren junge Männer im Alter von sechzehn bis achtzehn Jahren.

Die Geschichte der jungen Männer lässt sich am leichtesten wiedergeben.

Im August 1944 wurden sie zwangsweise zur deutschen Wehrmacht eingezogen. Sie brauchten nicht an der Front zu kämpfen, weil sie erst sechzehn Jahre alt und nicht ausgebildet waren, kaum mit Waffen umgehen konnten. Sie taten hinter der Front bei der Luftwaffe Dienst.

Im März 1945 kamen sie an die Küste, nach Ventspils. Es herrschte vollständiges Chaos, alles befand sich in Auflösung, der Kurland-Kessel wurde immer heftiger bedrängt und immer mehr eingedrückt. Alle Rückzugswege zu Lande nach Westen waren seit Monaten abgeschnitten, alle Häfen voll mit Fischerbooten, Schmutz, gesunkenen Schiffen, Flüchtlingsgepäck, Flüchtlingen. Viele Letten hatten allen Anlass zu fliehen, auch Zivilisten, da sie während der Besatzungszeit sehr eng mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten. Viele flohen auch ohne besondere Gründe, und alle fürchteten sich vor den Russen. Von den Uniformierten versuchten die meisten zu fliehen, was einigen auch gelang.

Für die Sechzehnjährigen, die zwangsrekrutiert worden waren, gab es mehrere Möglichkeiten. Einigen von ihnen schien die Flucht in die Wälder die beste Lösung. Der deutsche Propaganda-Apparat hatte bis in die letzte Zeit hinein sehr effektiv gearbeitet, alle Meldungen waren sehr vertrauenerweckend gewesen. Es hieß, der deutsche Rückzug sei nur vorübergehend. Die Deutschen würden wiederkommen.

Am 8. Mai, um die Mittagszeit, erfuhren sie, dass die Deutschen kapituliert hatten. Diese Nachricht war ein Schock, weil die Rückkehr der Deutschen trotz allem als wahrscheinlich gegolten hatte. Jetzt verschwand sie wie im Nebel. Statt dessen nahm nun ein anderer Nebel Gestalt an: die Russen waren nur noch einige Stunden entfernt.

Sie gingen zum Hafen hinunter. Er war jetzt fast leer, nur noch ein Schiff lag dort vertäut: ein Schlepper, offensichtlich ein ehemaliges Fischerboot, das man umgebaut hatte. Er hieß »Gulbis«. Aus dem Schornstein stieg schwacher Rauch auf, das Hafenbecken war voller Unrat, ein versenktes Schiff reckte den Bug in die Höhe, Bretter, Ölfässer, tote Vögel schwammen im Wasser, an der Oberfläche trieb ein Mann mit dem Gesicht nach unten: über allem lag ein unwirklicher Friede. Die »Gulbis« lag an einem halbzerschossenen Kai. Deutsche Soldaten gingen an Bord, wie es schien, ohne jede Eile. Es gab keine Wahl mehr. Die Jungen stellten sich in die Schlange der Wartenden, auch sie gingen an Bord, sie waren die letzten. Sie trugen deutsche Uniformen und deutsche Waffen. Zwei Stunden später lief das Boot aus.

Der Schlepper verließ Ventspils am 8. Mai 1945 um 20 Uhr. Als sie die offene See gewonnen hatten, sahen sie, dass sie nicht allein waren. Sie waren die letzten, aber sie waren nicht allein. Vor sich entdeckten sie eine lange Reihe von Schiffen und Booten, die alle nach Südwesten, nach Deutschland steuerten, die meisten sehr klein, aber sie sahen auch einen sehr großen Passagierdampfer. Es mussten etwa fünfzig Schiffe sein, vielleicht noch mehr. Sie saßen an Deck. Die Umrisse der anderen Schiffe wurden immer undeutlicher, während die Dämmerung sich allmählich über die Küste Lettlands legte, die man bald nicht mehr sehen konnte. Dann brach schnell die Dunkelheit herein, sie fuhren in aufkommenden Nebel, von See her war nichts mehr zu hören. In der Nacht hatten sie einen Motorschaden, der sich allerdings nach kurzer Zeit beheben ließ.

Als der Morgen kam, sahen sie von den anderen Schiffen nichts mehr. Gegen 9 Uhr hörten sie plötzlich heftige Detonationen und sahen im Süden Rauch und Feuerschein. Eine Stunde später entdeckten sie am Horizont ein russisches Kriegsschiff, das nördlichen Kurs steuerte, offenbar ein Torpedoboot. Die Besatzung des Schleppers stoppte die Motoren, dann lag das Boot still. Das Torpedoboot verschwand jedoch wieder, ohne dass man vom Schlepper Notiz genommen hatte.

Am Nachmittag, 15 Uhr, sahen sie das nächste Schiff: ein großer Prahm, der hilflos auf den Wellen trieb. Er hatte offensichtlich Maschinenschaden. Immer wieder schlugen Brecher über die Reling auf das Deck. An Bord deutsche Soldaten, es mögen etwa fünfzig gewesen sein. Außerdem waren da noch Verwundete. Der Prahm, von russischen Marinesoldaten angegriffen, hatte schwere Treffer erhalten. Viele der Flüchtlinge waren getötet worden. Die Russen hatten sich jedoch nach der Attacke anderen Zielen zugewandt und sich nicht mehr um sie gekümmert.

Die Schlepper-Besatzung warf ein Tau zum Prahm hinüber und nahm ihn ins Schlepp. Danach wurde der Kurs geändert: nach Gotland. Der Backbord-Motor des Prahms funktionierte noch, wenngleich unbefriedigend, und lief weiter; eine Stunde bevor Gotland in Sicht kam, fiel auch er aus. Nach und nach wurde der Seegang immer heftiger, der schwerbeladene Prahm, der tief im Wasser lag, bekam immer stärkere Schlagseite. Vom Schlepper aus war zu sehen, wie die Besatzung des Prahms in gleichmäßigen Zeitabständen Körper an die Reling trug und sie ins Wasser warf.

Um 20 Uhr kam die schwedische Küste in Sicht. Die Flüchtlinge sahen einen Leuchtturm und steuerten auf ihn zu. Gegen 23 Uhr hatte man ihn fast erreicht, als der Schlepper auf Grund geriet. Es war später Abend, es stürmte, die Wogen brachen über die Boote herein, die Männer froren erbärmlich. Nachdem der Schlepper auf Grund gelaufen war, zündete man das Notsignal.

Diese Soldaten waren nicht die ersten, die sich nach Gotland geflüchtet hatten. Vor ihnen waren Zivilisten nach Schweden gekommen.

Über den Strom ziviler baltischer Flüchtlinge nach Gotland während des letzten Kriegsjahrs gibt es viele ausgezeichnete und wahre Berichte: es ist von kleinen Flotten kleinerer Boote und Schiffe die Rede, von dem »Reederei-Betrieb der evangelischen Kirche«, von privaten Flotten also, die von schwedischer Seite finanziert wurden, von Zetteln mit detaillierten Angaben über Zeit und Position, die von geheimnisvollen, anonymen Hintermännern stammen, von Berichten über Begleitschiffe der schwedischen Kriegsmarine, die vor Gotland kreuzten und die kleinen Schiffe mit Treibstoff versorgten, von dreißigtausend Flüchtlingen, die teils selbst mit kleinen Booten flohen, teils von Schweden herübergebracht wurden. Einige der Flüchtlinge waren Nazis, ein paar Erzkonservative befanden sich unter ihnen, ein paar hatten auch mit den Deutschen zusammengearbeitet; viele fürchteten sich einfach nur vor den Russen. Einige gewiss mit gutem Grund, andere weniger; viele Intellektuelle waren darunter, die meisten aber waren einfache Arbeiter. Für einige gab es nur noch die Flucht, die meisten flohen ohne bestimmten Anlass. Die beste aller Geschichten, auch sie beruht auf Wahrheit, weiß davon zu berichten, wie die schwedische Kirche und die schwedische Marine im Herbst 1944 in guter Zusammenarbeit insgesamt siebenhundert Flüchtlinge im Lauf von vierzehn Tagen herüberholten. Die Einzelheiten wurden dem Untersucher unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt und können folglich nicht wiedergegeben werden.

Immerhin: man brachte die Flüchtlinge nach Schweden. Sie sind insofern ein Teil des ganzen Komplexes, als es 1945 in Schweden insgesamt etwa dreißigtausend Balten gab. Sie lebten also in Freiheit und konnten ihren Einfluss geltend machen. Als im Mai 1945 das letzte Rinnsal von Flüchtlingen nach Schweden kam, waren diese folglich nicht die ersten.

Sie fuhren in kleinen Booten und landeten entlang der gesamten Küste Gotlands, die meisten von ihnen Deutsche. Am 11. Mai 1945 um 8 Uhr morgens hatte man auf Gotland 542 deutsche Soldaten registriert. Unter ihnen befand sich eine »kleinere Anzahl« Soldaten aus dem Baltikum.

Man brachte sie in das Internierungslager in Havdhem auf Gotland. Die Behandlung war ausgezeichnet. »Die schwedischen Offiziere waren sehr freundlich, einige konnten deutsch sprechen, sie verpflegten uns und versprachen, uns bald in die britische Besatzungszone zu schicken.« Man »unterhielt sich angeregt« mit den schwedischen Offizieren. Die Offiziere wurden in Personenwagen transportiert, die Mannschaften in Bussen. Die Stimmung war gut.

Am Sonntag, dem 13. Mai, begann der Strom der Flüchtlinge nachzulassen. Am Abend erreichten vierzehn deutsche Soldaten, dem Kurland-Kessel entgangen, Gotland; sie strandeten am Storsudret, nachdem sie eine anstrengende Fahrt in einem schadhaften Rettungsboot hinter sich gebracht hatten. Sie waren sehr erschöpft. Nachdem man sich ihrer angenommen hatte, kamen sie rasch wieder zu Kräften. Man schickte sie nach Havdhem. Drei von ihnen waren Balten.

Am Dienstag, dem 15. Mai, landete die allerletzte Gruppe in einem Schlauchboot bei Grynge in Gammelgarn. In diesem Boot befanden sich sieben Mann, alles Soldaten. Sie waren von Lettland herübergepaddelt. Nach ihrer Landung brachte man sie zunächst ins Krankenhaus von Lärbro zur Untersuchung.

Einer der Männer war etwa fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte helles, zurückgekämmtes Haar, klare, tiefliegende Augen, sprach ein ausgezeichnetes Deutsch, behauptete aber, Lette zu sein. Er folgte der Prozedur der Registrierung mit großer Aufmerksamkeit, kam mit mehreren der schwedischen Ärzte ins Gespräch, war auf eine angenehme und diskrete Art höflich und lächelte oft.

Er sagte, er heiße Elmars Eichfuss-Atvars.

Ihm fehlte nichts; dank seiner ausgezeichneten Widerstandskraft erholte er sich schnell. Er gab an, Arzt zu sein. Nach einigen Tagen schickte man ihn in das Lager von Havdhem, wo er als letzter der sieben registriert wurde. Er war der letzte von allen, die übers Meer gekommen waren: am 15. Mai 1945, bei Grynge, Gammelgarn, auf Gotland.

2

Aus dem Kurland-Kessel erreichten ungefähr hundertsechzig estnische, lettische und litauische Soldaten Gotland. Viele von ihnen wurden in der völligen Verwirrung der ersten Zeit für Zivilisten erklärt, in Sammellager für Zivilisten geschickt und bald darauf freigelassen. Man kann sagen: wer sich ernsthaft Mühe gab, als Zivil-Flüchtling anerkannt zu werden, erreichte sein Ziel. Von den gut hundertfünfzig baltischen Soldaten, die nach Gotland gekommen waren, wurden nur einundvierzig als Soldaten interniert.

Die übrigen hundertsechsundzwanzig kamen nach Südschweden, die meisten nach Ystad.

Sie hatten der 15. Lettischen Division angehört. Dieser Verband setzte sich aus Freiwilligen und Zwangsrekrutierten zusammen; in einigen Dokumenten wird er als »SS-Verband« bezeichnet, in anderen nicht. Die Bezeichnung ist in diesem Fall ohnehin ohne jede Bedeutung: der Verband hatte auf jeden Fall nicht der regulären SS angehört. Die Division war schlecht ausgerüstet, ihre Soldaten kaum ausgebildet. Die Ansicht über die Auslieferung der Balten hängt zu einem kleinen Teil mit der Ansicht über diese lettischen SS-Legionäre zusammen.

Die Geschichte der lettischen SS-Verbände ist lang und kompliziert. Während der Zeit der deutschen Besetzung hatte man in Lettland eine sogenannte »Selbstverwaltung« unter Leitung lettischer Kollaborateure eingeführt. Der lettische Faschismus während der dreißiger Jahre war, trotz der Zeit unter Ulmanis, nie besonders stark gewesen. Das Jahr unter russischer Oberhoheit hatte aber einen Umschwung der Volksmeinung herbeigeführt. Viele sahen nun in den Deutschen die Retter, und trotz des traditionellen Deutschenhasses der Letten (der sich vor allem gegen die Deutschbalten des Landes richtete) war es für die Deutschen keine Schwierigkeit, freiwillige Mitarbeiter zu finden. Im Frühjahr 1943, nach Stalingrad, wurden unter Mithilfe gewaltiger Propaganda-Kampagnen in Riga Rekrutierungsbüros für die »Lettische SS-Legion« eingerichtet. Die lettische Zeitung Tevija wurde zum wichtigsten Propagandainstrument; in ihr konnten lettische Kollaborateure für »diese Möglichkeit, diese Pflicht der baltischen Völker« eintreten, »den deutschen Soldaten beim Kampf für ein Neues Europa zu helfen«.

Die Werbekampagne erwies sich jedoch als Misserfolg, und im Herbst sah sich die lettisch-deutsche Verwaltung genötigt, zu nachdrücklicheren Methoden zu greifen. Am 24. November 1943 wurde der erste Mobilmachungsbefehl erlassen. Ihm sollten noch mehrere folgen. Insgesamt sollten einundzwanzig Altersklassen erfasst werden; die Zahl der Letten in der deutschen Wehrmacht betrug insgesamt 146.610 Mann. Man nimmt an, dass etwa dreißig Prozent dieser Soldaten verwundet wurden, fielen oder als vermisst gemeldet wurden.

Wie stand es mit der Freiwilligkeit? In dieser Frage lässt sich nichts verallgemeinern. Unter den Letten in deutschen Diensten waren bestimmte Gruppen, die hinter der Front in deutschen Polizeiverbänden dienten. Sie waren unter anderem mit »Säuberungs-Aktionen« beschäftigt, und ihre Geschichte ist nicht sehr schön; die meisten waren Freiwillige. Bei den Frontsoldaten sieht es ganz anders aus. Die Offiziere hatten sich in ihrer überwiegenden Mehrheit freiwillig gemeldet, die Mannschaften dagegen waren zwangsrekrutiert worden. Zur ideologischen Einstellung der lettischen Soldaten kann man vielleicht sagen, dass ein Teil der Offiziere pro-faschistisch eingestellt war, während die unteren Dienstgrade anti-faschistisch dachten. Lettische Geschichtsbücher, die nach Kriegsende im Westen erschienen, betonen, dass viele Offiziere bis zuletzt an den deutschen Endsieg glaubten.

Die einberufenen Gemeinen hatten nur die Wahl zwischen dem Dienst in den lettischen SS-Legionen und Zwangsarbeitslagern. Nach und nach wurde der Ton schärfer, im letzten Kriegswinter wurden einige Letten hingerichtet; es sollten Exempel statuiert werden. Diese Exekutionen waren jedoch recht selten.

Folgendes sollte noch gesagt werden: es waren in der Hauptsache Letten, die die Zwangsmobilisierung betrieben. In keinem anderen Land Europas hatten die Deutschen mit der Mobilisierung ein derart leichtes Spiel. Dahinter stand nicht nur der Druck der Deutschen, sondern auch die große Zahl deutschfreundlicher Letten, von denen später viele nach Westen flüchteten.

Noch einmal: nach Schweden kamen nicht nur Kollaborateure. Es gab sie zwar auch, aber die Zahl der Freiwilligen unter den Legionären lässt sich nicht feststellen. Ebenso unmöglich ist es, die politische Einstellung der zivilen Flüchtlinge zu beurteilen.

Die lettischen Legionäre, die von Danzig und Bornholm nach Schweden gekommen waren, hatten alle der 15. Lettischen SS-Division angehört.

Im Herbst 1944 war die 15. Lettische SS-Division fast völlig kampfunfähig: sie war zerschlagen und bedurfte dringend einer Reorganisation. Also wurde sie nach Deutschland beordert. Am 15. September verließen die Soldaten Lettland per Schiff und erreichten am 28. Danzig.

Das weitere Schicksal der Division nach diesem Zeitpunkt ist verblüffend und voller Widersprüche. Sie schien allmählich in kleine und kleinste Einheiten zu zerfallen. Einige von ihnen wurden an der Front eingesetzt, andere schienen sich vorwiegend mit Organisations- und Befestigungsarbeiten zu beschäftigen. An Hand der Tagebücher lassen sich die plötzlichen und verwirrenden Verlegungen leicht verfolgen. September: Konitz. Oktober: Sophienwald. Mitte Oktober: eine Gruppe von Offizieren wird nach Prag beordert, zu Schulungskursen, die meist in der Josefstadt abgehalten werden. November und Dezember: Stationierung in Sophienwald. Januar: Trembor. Februar: kleinere Verlegungen, man nähert sich immer mehr der Küste: Nackel. Ende Februar: ein Teil des Verbands wird in Thorn eingekesselt.

Der lettische Leutnant P., der sich am 13. Januar 1945 in Trembor ein schönes Araber-Pferd besorgt hatte, ritt in den kommenden Wochen häufig durch die leicht verschneite Landschaft.

Am 25. Januar sieht er ein Reh, am 26. verbringt er den ganzen Vormittag bei der Jagd zu Pferde, jedoch ohne Erfolg. »Drei hübsche Rehe sprangen in weiter Entfernung vorüber.« Am Abend notiert er: »Wieder unruhige Gedanken.« Am Tage darauf reitet er wieder aus; am Nachmittag verabschiedet er sich von seiner Frau (er ist seit einem halben Jahr verheiratet) und notiert, dass der Abschied diesmal ohne Aufregung vonstatten gegangen sei; seine Frau ist schwanger und will in der Nähe von Berlin Zuflucht suchen. Am Morgen darauf geht er wieder auf die Jagd; danach arbeitet er an einem Organisationsplan für seinen Verband. »Mir ist sehr elend zumute.« Ferner notiert er: »Den ganzen Tag gefaulenzt. Wir hören die Nachrichten von der Front. Unsere lettische Division hat schwere Verluste. Eine unserer Batterien geht wieder an die Front.«

Mitte Februar scheint die Lage immer verzweifelter zu werden. »Aufwühlende Nachrichten. Die Russen schon in Koniza.« Am Abend des 11. Februar schreibt er in sein Tagebuch: »Ein gutes Mittagessen und ein Glas Bier.« Danach kommt der Schlag. Auf höheren Befehl soll seine Batterie sämtliche Geschütze an einen anderen Verband übergeben. Am 12. Februar: »Am Morgen wurden die Kanonen übergeben. Was sollen wir nun tun?« Am selben Abend wird ein Fest veranstaltet, alle lettischen Offiziere sind mit von der Partie. »Hauptmann Abolins ballert im Suff in die Luft. Es ist schwer, die Betrunkenen zur Ordnung zu rufen.«

Das arabische Pferd, das er sich ausgesucht hat, hat man ihm jedoch nicht genommen. Er reitet oft aus, durch die hinterpommersche Landschaft, während die Russen die Zange um sie und Danzig herum immer mehr zudrücken; schließlich ist die Einkesselung gelungen. Im Tagebuch spricht er häufig von »schwerem Gemüt«. Die Ausflüge zu Pferd sind jedoch eine willkommene Abwechslung. Am Abend des 17. Februar reitet er zum Gefechtsstand in Raduna, es ist dunkel, aber die Landschaft ist weiß, und er kann sich orientieren. Auf dem Heimweg wird er von einem Schneesturm überrascht; er beschreibt den Schnee, den Sturm, den peitschenden, trockenen Schnee, das Pferd. »Ein großartiger Ritt durch den Schneesturm.«

Er reitet zum letzten Mal.

In den letzten Februartagen waren die Russen nur noch wenige Kilometer von Sophienwald entfernt; die Notwendigkeit eines baldigen Rückzugs wurde offenkundig. Am 3. März bekamen die Letten Befehl, Trembor zu verlassen. Wenn das so weiterging, würden sie Westpreußen bald verlassen müssen. Der Rückzug wird durch ständige Fliegerangriffe gestört. Am 19. März wird die Lettische SS-Division endgültig aufgelöst; die Einheiten werden zerstreut, deutschen Verbänden zugeschlagen, während die Russen immer mehr nach Westen vorwärtsdrängen.

Am 25. März zog eine versprengte Einheit der 15. Division durch Danzig.

Die Stadt war schwer bombardiert worden, es rauchte überall, die Häuser waren dem Erdboden gleichgemacht oder standen in Flammen. In den Tagebüchern finden sich viele Eintragungen, die von Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Furcht berichten. Hier und da unbeschädigte Viertel, aber im übrigen war alles vernichtet. Es war Frühling, die Bäume waren noch nicht grün, aber die Luft war lau und mild. Überall lagen Tote; sie zu begraben, war keine Zeit mehr. An den Wänden konnte man Parolen lesen, die mit großen Buchstaben hingekritzelt worden waren: SIEG ODER TOD.

Sie gingen mitten durch die Stadt, sie hatten nichts zu tun. Die russischen Flugzeuge griffen ständig an. An Straßenlaternen baumelten Menschen: nur Soldaten. Man hatte ihnen Plakate umgehängt; es handelte sich um Deserteure, die man entweder erst erschossen und dann gehängt oder einfach gleich gehängt hatte. Sie waren nicht zu übersehen.

Die Letten schlugen in einem Dorf namens Heubude ihr Quartier auf (dieses Dorf taucht auf manchen Karten auch als Henbuda auf). Am Abend des 26. März saßen alle unten am Meer, am Strand der Ostsee. Russische Flugzeuge griffen Danzig unablässig an, der gesamte südliche Horizont war eine einzige Kette von Explosionen.

Die Soldaten versuchten, ihre Gefühle zu beschreiben.

»An allen Ecken kracht und brennt es. Ich schreibe dies um Mitternacht; wir sitzen voller Unruhe am Meeresstrand und wissen keinen Ausweg.«

Danzig war Deutschlands größter Ostseehafen. Es war der letzte und wichtigste Hafen, der Fluchtweg für Zivilisten und Militärs, die durch die russische Offensive abgeschnitten worden waren. Annähernd eine Million Menschen drängten sich jetzt in Danzig. Das deutsche OKW erklärte, »jeder Quadratmeter des Gebietes Danzig-Gotenhafen muss bis zuletzt verteidigt werden«. Über der Stadt lag ein schwerer Bombenteppich.

Über den weiteren Verlauf der Dinge gibt es mehrere Versionen. Der exakte Verlauf ist nicht ohne Bedeutung, da später Stimmen laut werden sollten, die Balten seien Deserteure der deutschen Wehrmacht.

Eine der Versionen ist einfach und verhältnismäßig unkompliziert. Sie lautet wie folgt.

Am Morgen des 27. März begab sich der lettische SS-Verband an die Weichsel-Mündung. Im Lauf der Nacht war einer seiner Offiziere auf Umwegen mit den Kapitänen dreier lettischer Schiffe in Kontakt gekommen. Die Schiffe lagen auf der Reede verankert, nachdem sie zuvor deutsche Truppen aus dem jetzt abgeschnittenen Kurland-Kessel herausgebracht hatten: das lag nun schon einige Wochen zurück, die Schiffe waren hier liegengeblieben und befanden sich ihrerseits in einem Kessel. Sie hießen »Alnis«, »Augusts« und »Potrimbs«. Es waren alte und fast ausrangierte Flussdampfer, aber sie waren noch immer zu gebrauchen. Nach mehrstündigen Verhandlungen erklärten sich die Kapitäne mit der Einschiffung der lettischen Soldaten einverstanden, und am selben Tag, dem 27. März, lichteten die Schiffe gegen 12 Uhr mittags die Anker und dampften mit einem deutschen Konvoi nach Westen. Voraussichtlicher Kurs: Flensburg.

Dieser Version zufolge verläuft alles ohne Komplikationen, die Deutschen machen keine Schwierigkeiten. Ihrer Ansicht nach handelt es sich nicht um eine Desertion, sondern um den legitimen Versuch, so viele Soldaten wie möglich aus einem Kessel herauszuholen.

Vielleicht ist diese Version korrekt. Gestützt wird sie jedenfalls durch die Tatsache, dass Danzig am 27. März von den Russen eingenommen wurde, also am selben Tag, an dem die Letten abfuhren. Die Russen drangen während der Nacht in die Stadt ein, bis in den Morgen hinein tobten heftige Kämpfe. Am Tag nahmen die Kämpfe bereits den Charakter von Säuberungsaktionen an. Am Nachmittag hatten die Russen die Stadt unter Kontrolle.

Die Balten müssen die allerletzten gewesen sein, denen es gelang, sich aus dem Danziger Kessel zu retten.

Die zweite Version sieht folgendermaßen aus.

Der lettischen Einheit gehörte ein Arzt namens Janis Slaidins an. Er war am 8. Januar zu dieser Einheit gestoßen, nachdem er zuvor in Kurland Dienst getan hatte. Er war Feldarzt, ein Mann mit einem länglichen, kraftvollen Gesicht. Nachdem der lettische Verband (jetzt nur noch eine versprengte Einheit von etwa hundertfünfundachtzig Mann) an der Flussmündung Quartier bezogen hatte, richtete er in einem halbzerschossenen Krankenwagen eine Ambulanz ein. Spät in der Nacht zum 26. März wurde an die Tür geklopft, und der Chef der Einheit trat ein. Dieser war, wie die anderen Soldaten, lettischer Staatsbürger, er hieß Ernests Kessels und bekleidete den Rang eines Hauptmanns. Den meisten Zeugnissen zufolge soll er »ein energischer Mann« gewesen sein. Diese Energie konnte er jetzt gut gebrauchen, da die Russen nahe waren und sie selbst von deutscher Seite keine Erlaubnis hatten, das Gebiet zu verlassen.

– Alle wehrfähigen Männer müssen in dem Danziger Kessel bleiben, erzählte er in jener Nacht. Kein wehrfähiger Mann in deutscher Uniform darf den Kessel verlassen. Nur Kranke, Verwundete, Kinder und Frauen dürfen hinaus. Die anderen müssen hierbleiben. Wir sollen offenbar bis zuletzt kämpfen.

Slaidins kann sich an diesen Abend sehr gut erinnern: im Norden das Meer, eine dunkle Ruhe, im Süden ständig aufflackernde Feuerlohen, im Westen dumpfe Detonationen, ununterbrochene Detonationen und das leise Gluckern des Wassers. Dies ist der einzige Situationsbericht, den er sich gestattet, es geschieht widerwillig und sehr reserviert. Er kann kaum den Anspruch geltend machen, ein poetischer Mann zu sein.

In jener Nacht diskutierten sie noch lange auf der Treppe des Krankenwagens, in der Dunkelheit.

– Es gibt eine Möglichkeit, sagte Kessels schließlich. Sie sieht so aus: Sie als Arzt schreiben die gesamte Einheit krank, dann brauchen wir nur noch ein Transportmittel. Wir sind ungefähr hundertvierzig Mann, es ließe sich also machen. Nur die Transportmittel sind ein Problem.

Sie unterhielten sich eine Weile über die Risiken eines solchen Unternehmens. Vor kurzem waren sie durch eine Stadt gezogen. Dort hatten sie aufgehängte Deserteure gesehen, markante Blickpunkte im Stadtbild. Sie hatten dort mit weit aufgerissenen Mündern gehangen, mit weißen Gesichtern.

– Es ist riskant, sagte Kessels, aber wir müssen das Risiko eingehen. Wir müssen uns zu der übrigen Armee durchschlagen, sonst sind wir in zwei Wochen Gefangene der Russen.

Früh am nächsten Morgen sichteten sie in der Weichselmündung drei lettische Schiffe. Alle drei waren Flussdampfer, die schon bessere Tage gesehen hatten; zuletzt hatten sie deutsche Truppen aus dem Kurland-Kessel herausgebracht. Jetzt lagen sie vor Anker; die lettische Besatzung war noch an Bord. Ein Soldat wurde zu Verhandlungen auf eines der Schiffe geschickt. Hier bot sich eine Möglichkeit.

An diesem Tag schrieb Janis Slaidins, seit kurzem Arzt in deutschen Diensten, für hundertvierzig lettische Gemeine und Offiziere ebenso viele Krankheitsatteste aus. Die Arme einiger Männer wurden mit Gazebinden umwickelt, andere Soldaten humpelten, andere erhielten Befehl, möglichst krank auszusehen. Die Schiffe machten an einer Pier fest, die Kontrolle erfolgte durch einen deutschen Hafenoffizier. Kessels legte ihm den Stoß Atteste auf den Tisch, worauf beide begannen, die Papiere durchzugehen. Nach wenigen Minuten wurden sie durch einen russischen Fliegerangriff gestört. Das setzte den Formalitäten ein rasches Ende, die Letten wurden in aller Hast an Bord gebracht, und nachdem man die Maschinen angelassen hatte, verließen die Schiffe panikartig die Flussmündung.

Keines hatte einen Treffer erhalten. Die Papiere blieben zurück, für immer.

Die Geschichte mit den Krankheitsattesten wird durch die erhaltenen Tagebücher kaum bekräftigt; einige der Legionäre glauben, sie im nachhinein vage bestätigen zu können, andere wiederum behaupten, sie wüssten von nichts. Im Herbst 1945 sollten die baltischen Legionäre in der schwedischen Presse noch häufig als »Deserteure« bezeichnet werden, um ihnen eine andere völkerrechtliche Stellung zu geben. Es ist denkbar, dass man die Abfahrt von Danzig als eine Desertion bezeichnen kann. Es ist aber offenkundig, dass die Desertion schon nach wenigen Stunden beendet war. Sie war ein gelungener Coup, dessen Erfolg den Soldaten recht gab.

Sie verließen die Flussmündung am 27. März um 13 Uhr. Sie hatten keinen Schiffskompass, keine Seekarten und nur noch für wenige Stunden Kohle. Sie versuchten, mit Hilfe von Taschenkompassen zu navigieren, aber die vielen metallenen Gegenstände an Bord verhinderten eine genaue Orientierung. Am Morgen des 28. befanden sie sich auf hoher See; nirgends war Land in Sicht. Das Meer war ruhig. Das kleinste der Schiffe, »Augusts«, bekam schon nach fünf Stunden einen Maschinenschaden; die Passagiere wurden von den Besatzungen der beiden anderen Schiffe an Bord genommen, und danach setzte man die Fahrt fort.

Nach und nach wurde die Einrichtung aus Holz verheizt, alles, was brennbar war und sich abreißen ließ.

Die Augenzeugenberichte von dieser Fahrt sind verschwommen und unklar. Nur die Offiziere durften an Deck gehen, die Mannschaften wurden unter Deck eingeschlossen. Der ursprüngliche Bestimmungshafen ist möglicherweise Flensburg gewesen. Am 29. März gegen Mittag wurde im Westen eine Küste gesichtet. Es war nicht Deutschland, auch nicht Schweden, sondern der Fischereihafen von Svaneke auf Bornholm.

Dort blieben die Letten vier Tage und Nächte; sie meldeten sich beim deutschen Befehlshaber und bekamen Befehl, nach Rönne weiterzufahren. Am Abend des 4. April gehen sie aus und bummeln durch die Stadt. Der Anblick ihrer SS-Embleme hat die Dänen nicht gerade mit Begeisterung erfüllt. »Das Verhalten der Dänen uns gegenüber ist nicht angenehm.« Sie wohnen in Gasthäusern, jeweils zu zweit in einem Zimmer. Alles ist in Ordnung. »Wir essen dänische Schlagsahne und wunderbares Gebäck.«

Sie sollten noch über einen Monat auf Bornholm bleiben.

Der Aufenthalt auf Bornholm hatte später zur Folge, dass die Beurteilung des Status der lettischen Legionäre kompliziert wurde; im Herbst 1945 ist nämlich von mehreren Seiten behauptet worden, die Letten seien gar nicht von der Ost-, sondern von der Westfront gekommen. Die deutschen Soldaten, die nach Schweden geflohen waren, wurden ja nach einfachen und leicht zu begreifenden Prinzipien ausgewiesen: wer von der Ostfront kam, den schickte man nach Osten, das heißt zu den Russen, wer von der Westfront kam, wurde nach Westen gebracht.

Und was geschah mit denen, die von Bornholm herübergekommen waren?

Bornholm gehörte zu Dänemark, das von britischen Truppen befreit wurde. Die Deutschen in Dänemark kapitulierten am 5. Mai. Bornholm dagegen wurde von russischen Truppen befreit, und die Deutschen auf der Insel leisteten noch über den 5. Mai hinaus Widerstand. Bornholm wurde als »der russischen Interessensphäre zugehörig« bezeichnet.

Die Deutschen und Letten auf Bornholm waren von der Ostfront zunächst nach Bornholm und dann nach Schweden geflohen. Die schwedischen Behörden lösten das Problem mit einem einfachen Schnitt, sie stuften die Bornholm-Flüchtlinge als Flüchtlinge von der Ostfront ein.

Der Aufenthalt auf Bornholm verlief ruhig und ohne aufregende Zwischenfälle. Die Tagebücher waren mit unwichtigen Details gefüllt. »Wieder ein schöner Frühlingsmorgen. Habe mich in der Badewanne sorgfältig gewaschen. Wir essen wieder dänische Schlagsahne.« »Den Tag verbringe ich meistens im Liegen.« Ein zwanzigjähriger lettischer Gefreiter beschreibt ausführlich seine Schnitzarbeiten, mit denen er seine Zeit totgeschlagen hat, und fügt hinzu: »Es wird wohl unmöglich sein, diese Dinge zu verkaufen, da niemand etwas mit uns zu tun haben will. Das liegt an unseren Uniformen.« Am 20. April »nehmen wir an der Feier des Kommandanten aus Anlass des Führer-Geburtstags teil«. Gegen Mitte des Monats wird Hauptmann Kessels nach Kopenhagen beordert, um neue Befehle entgegenzunehmen, zur gleichen Zeit fährt Leutnant Raiskums nach Deutschland, um sich über die Lage zu informieren. Es herrscht nun große Unsicherheit über die operativen Aufgaben der Zukunft; das Ende des Krieges rückt immer näher. Raiskums und Kessels kehren zurück mit der Direktive, dass die Truppen auf Bornholm bleiben und abwarten sollen. Am Abend des 4. Mai kursieren »ernsthafte Gerüchte, dass es bald Frieden gibt«. Am Morgen des 5. Mai wachen Deutsche und Letten auf und entdecken, dass die ganze Insel flaggengeschmückt ist. Deutschland hat kapituliert.

Am Abend des 6. Mai schreibt Leutnant P. in sein Tagebuch: »Wir sitzen auf den Schiffen und warten auf die Engländer. Viele Gerüchte sind in Umlauf. Am Abend gehen wir in Feuerstellung.« Am 7. Mai wurde Rönne von den Russen bombardiert. In der Nacht zum 8. Mai liefen die Letten nach Norden aus; den meisten Angaben ist zu entnehmen, dass Bornholm zwischen 4 und 5 Uhr morgens verlassen wurde. Am Tage zuvor waren fünf lettische Soldaten bei russischen Bombenangriffen ums Leben gekommen.

Am 8. Mai liefen die beiden Schiffe gegen 10 Uhr in den Hafen von Ystad ein.

Die Erinnerungen aus Bornholm sind in den meisten Fällen vage und ohne Interesse. In Rönne hatte sich nichts Bemerkenswertes ereignet. Die Dänen mochten die deutschen Uniformen nicht, bewahrten aber trotz ihrer Verachtung Ruhe. Sie sagten nichts und verhielten sich auch ruhig. Die Balten wohnten in Hotels und Gasthöfen und spazierten am Tage meist herum. Sie bemerkten zwar oft, dass die Dänen sie merkwürdig ansahen, aber im übrigen war alles gut.

Einer der Balten erinnert sich an einen Kinobesuch. Er kam etwas zu spät, der Film hatte schon angefangen, er sah in einer Reihe einen leeren Sitzplatz, ging hin und setzte sich. Um ihn herum saßen nur Dänen. Als der Film zu Ende war, entdeckte er, dass um ihn herum ein freier Raum entstanden war.

Von dem Film ist ihm nichts im Gedächtnis haftengeblieben. Die Dänen hatten vielleicht Angst, sagt er. Vielleicht mochten sie auch meine Uniform nicht. Vielleicht wussten sie auch nicht, dass wir Letten waren. Im übrigen war es uns scheißegal, was die Dänen über uns dachten. Sie waren halbwegs anständig zu uns, in dem Maß, wie man das in jener Zeit erwarten konnte: im April 1945.

An den freien Raum im Kino erinnert er sich jedenfalls gut.

Bei einigen anderen Balten kommen Bruchstücke des Aufenthalts auf Bornholm zum Vorschein. Eine Gruppe von Dänen, die feindselig auftreten, möchte die Truppe arretieren, bis Engländer oder Russen auf der Insel eintreffen. Einer derjenigen, die dieses Intermezzo beschrieben haben, ist ein lettischer Offizier; er fasst sich kurz, aber sein Bericht ist unklar. In seinem Bericht werden die dänischen Widerständler wiederholt als »kommunistisch inspirierte dänische Freiheitskämpfer« oder als »dänische Kommunisten« bezeichnet. Im übrigen scheint der Aufenthalt auf Bornholm wenig aufregend gewesen zu sein. An die Balten hat man nur spärlich Erinnerungen behalten, nicht einmal Widerwillen gegen sie. In Svaneke erinnern sich viele Menschen daran, dass die Balten dort gelandet sind, aber kaum einer weiß noch, was er damals empfand, tat oder dachte. »Sie haben am Kai festgemacht. Die meisten waren Letten, sie trugen Uniform. Nein, sie haben hier nichts angerichtet. Nach einigen Tagen verschwanden sie wieder.« In Rönne wohnten die Balten im Hotel Phönix, das damals ein riesiges Erster-Klasse-Hotel war. Heute ist es verfallen, verschmutzt, hat mehrmals den Eigentümer gewechselt und heißt jetzt Hotel Bornholm: kein Mensch erinnert sich an die Balten, sie sind in der Vielzahl der damals auf Bornholm stationierten Deutschen, Holländer und der übrigen, zu Tausenden dort versammelten Flüchtlinge untergegangen. »Damals zogen so viele Flüchtlinge in deutschen Uniformen hier herum, die alle ratlos aussahen. Mehrere tausend. Deutsche, Holländer, Balten, nein, an die Letten erinnern wir uns nicht.«

Während der letzten Tage auf der Insel durften sie nicht länger im Hotel wohnen. Einige suchten in den Wäldern Zuflucht, in der Nähe von Galløkken, einige wohnten an Bord der Schiffe, andere wiederum schliefen am Strand, in Badehäuschen oder in Hütten aus Laub und Zweigen. Die Stadt war voller deutscher Soldaten und voller Flüchtlinge von der Halbinsel Hela, aus Kurland und Norddeutschland. Am Abend des 5. Mai erfuhren sie, dass die deutschen Truppen in Dänemark kapituliert hatten. Der Mangel an Nahrungsmitteln war groß, aber es gelang ihnen, das Nötige bei der Zivilbevölkerung einzutauschen. Die deutsche Garnison auf der Insel schien um keinen Preis den Kampf aufgeben zu wollen, jedenfalls wollte sie sich nicht den Russen ergeben.