Warten auf Crispinus
Amandus stand auf dem Balkon und blickte in den Innenhof des Mietshauses hinunter. Es war noch
sehr früh am Morgen. Obwohl der Herbst bereits angefangen hatte, schien die Sonne warm vom blauen
Himmel herunter. Es würde doch wieder ein heißer Tag werden.
Im Hof standen ein paar Männer zusammen und redeten. Zwei Sklavinnen kamen mit Wasserkrügen,
trugen sie quer über den Innenhof und verschwanden dann mit ihnen in dem Bogengang, von dem aus
die Treppe nach oben zu den Wohnungen führte.
Amandus wartete sehnsüchtig auf Crispinus. Crispinus, der alte Sklave, hatte ihn heute Morgen
geweckt und gerufen: »Heute ist ein ganz besonderer Tag für dich! Dein erster Schultag!«
»Endlich!« Amandus war mit einem Satz von seiner Liege gesprungen.
Amandus war stolz darauf, dass sein Vater diesen schwarzen Crispinus ausgerechnet für ihn
bestimmt hatte. »Am besten gefällt mir dein weißes krauses Haar!«, hatte er einmal gesagt.
Crispinus hatte gelacht und gemeint: »Das ist nur so weiß, weil ich so alt geworden bin. Früher
war es so schwarz wie bei allen Schwarzen! Und Crispinus heißt ja nichts anderes als Krauskopf.
So hat mich dein Großvater bereits genannt, als er mich auf dem Sklavenmarkt am Hafen gekauft
hat.«
Crispinus hatte ganz feuchte Augen bekommen, als er weitererzählt hatte: »Dein Großvater Vitus
war ein guter Mann. Besser konnte ich es nicht treffen. Ich durfte sogar heiraten. Ich war auch
der Lieblingssklave deines Vaters. Und als dein Vater heiratete, da hat er mich mitgenommen. Und
jetzt gehöre ich dir!«
»Du gehörst zu mir!«, hatte Amandus ihn verbessert. »Kannst du dich noch an Afrika erinnern?«,
hatte er dann gefragt.
»Natürlich! Ich war ja bereits ein junger Mann, als sie mich mit dem Schiff nach Ostia
brachten.«
»Deshalb heißt deine Tochter auch Afra!«, hatte Amandus festgestellt.
Da hatte der alte Sklave ihm lächelnd zugenickt. »Heute gibt es auch ein festliches Frühstück.
Nicht wie sonst nur Brot und Käse!«
Schon hatte er sich einen Korb gepackt und war gegangen. Jetzt beugte sich der Junge so weit über
den Balkon, wie er nur konnte. Die Männer unten im Hof hatten sich in den Schatten verzogen. Dort
standen sie noch und sprachen miteinander. Jetzt flitzten zwei Mädchen über den Hof, spritzten
sich kreischend gegenseitig am Brunnen nass und rannten dann prustend und lachend zurück zum
Bogengang.
Amandus war froh, dass sie diesen großen Balkon
hatten. Balkone hatten nur die Wohnungen im zweiten Stock. Ihre war sehr schön und bestand aus
vielen Räumen. Aber die Toilette mussten sie sich im Erdgeschoss mit anderen Mietern teilen. Im
Erdgeschoss unter ihnen waren auch die Verkaufsläden. Das Mietshaus war in einem großen Viereck
gebaut. In der Mitte war der Hof, und nach allen Seiten gab es die kleinen Läden zur Straße, die
alles anboten, was man kaufen wollte. Sie bestanden nur aus einem einzigen Raum ohne Fenster. Ein
Vorhang trennte den Laden von der Straße. Viele Händler wohnten und lebten mit ihrer ganzen
Familie in ihrem Laden. Wer wohlhabender war, mietete eine Wohnung im dritten oder vierten Stock
im selben Mietshaus.
Die Wohnungen im dritten und vierten Stock waren kleiner und hatten noch
nicht einmal eine Küche. Die Bewohner mussten jeden Tag das Essen von einer Garküche holen oder
in ein Gasthaus oder in eine Taverne unten im Haus zum Essen gehen. Ganz oben unter dem flachen
Dach war es am engsten. Dort schliefen die Diener und Sklaven. Tagsüber arbeiteten sie in den
Wohnungen ihrer Herrschaften.
Mutter sagte immer, dass der Vater diese teure Wohnung nur deshalb hatte mieten können, weil er
sich in den beiden letzten Feldzügen besonders ausgezeichnet hatte. Amandus war stolz auf Laetus,
seinen Vater. Aber er selbst würde niemals Krieger oder Anführer einer Kohorte werden wollen,
nicht einmal ein berühmter Feldherr. Beatus, sein großer Bruder, war nach seiner Schulzeit mit
vierzehn Jahren bereits zur Militärschule übergewechselt und wollte einmal Offizier werden wie
sein Vater. Von Crispinus war immer noch nichts zu sehen. Bestimmt war er zu Jucunda gelaufen,
der Händlerin am Anfang der Hafenstraße, die von Rom zum Hafen Ostia führte. Sie führte ein recht
großes Geschäft und hatte immer das frischeste Obst und die knusprigsten Backwaren. Die Mutter
schickte auch die Sklavinnen immer zu Jucunda zum Einkaufen. Bei ihr konnte sie sicher sein, sie
packte den Sklavinnen kein vergammeltes Obst und Gemüse unten in den Korb und war stets darauf
bedacht, ihre Kunden zufrieden zu stellen.
Römer-Geschichten für Kinder
Inhaltsverzeichnis:
Warten auf Crispinus
Schulanfänger müssen sich allein anziehen können
Es gibt so viel zu bedenken
Musst du erst noch mal aufs Klo?
Der Schulweg
Angst vor der Schule
Der erste Schultag
Ein Tag voller Überraschungen
Eine Überraschung
Der Spielzeugladen unter dem Claudius-Äquadukt
Ein Gespräch unter Brüdern
Bei Emil zu Hause
Heiß ersehnter Besuch
Das Wagenrennen im Circus Maximus
Wieder Abschied nehmen
Morgen wird der Vater heimkommen
Ein Triumphzug durch das Siegestor
Warten auf den Vater
Ein Sklavenjunge
Sigurdus soll ein freier Römer werden
Alle Wege führen nach Rom
Ein Haus am Akazienhain
Zu den Geschichten dieses Buches
Geschichten-Sonderausgabe der Edition SEEBÄR-Musik Stephen Janetzko als eBook
© 2018 Rolf Krenzer und Verlag Stephen Janetzko, http://www.kinderliederhits.de
Alle Rechte vorbehalten
Einband/Illustration: Mathias Weber
Ergänzende Grafik: Stephen Janetzko
eISBN 978-3-941923-08-9
In gleicher Ausstattung sind von Rolf Krenzer als eBook erschienen:
- Indianer-Geschichten für Kinder, ISBN 978-3-941923-05-8
- Ritter-Geschichten für Kinder, ISBN 978-3-941923-06-5
- Wikinger-Geschichten für Kinder, ISBN 978-3-941923-07-2
- Römer-Geschichten für Kinder, ISBN 978-3-941923-08-9
- Ägypter-Geschichten für Kinder, ISBN 978-3-941923-09-6
Alle Titel der Reihe sind auch als Hörbuch erschienen, erhältlich z.B. über
www.kinderlieder-und-mehr.de oder als
Download.
Schulanfänger müssen sich allein anziehen können
Aus der Wohnung hörte Amandus die Stimmen seiner Mutter und der Geschwister. Er begegnete einer
Sklavin, die mit einem Wasserkrug in der Hand und ein paar Tüchern über dem Arm aus Olivias
Zimmer kam. Die Mutter hatte also die Morgentoilette gleich beendet. Als er eintrat, saß Olivia
noch in der Tunika, dem Untergewand, in ihrem Sessel, der kunstvoll aus Rohr gefertigt war. Sie
nickte ihm freundlich zu, konnte aber ihren Kopf kaum bewegen. Sophia, ihre Lieblingssklavin, war
nämlich dabei, ihr langes schwarzes Haar sorgsam zu bürsten und in eine schöne Frisur zu bringen.
Eine zweite Sklavin stand schräg vor ihr und hielt ihr einen Handspiegel so hin, dass sie sich
ohne Verrenkungen gut sehen konnte.
Vor ihr spielten seine jüngeren Geschwister Ursula und Rogatus mit einem Kätzchen, das sie vor
ein paar Tagen bekommen hatten. Und die kleine Clara rutschte mit nacktem Po um sie herum und
hätte gar zu gern mitgespielt.
»Amandus bist du fertig?«, fragte ihn die Mutter und musterte Amandus von oben bis unten.
»Du hast doch hoffentlich die Toga allein angezogen und dir nicht von Crispinus helfen
lassen!«
Für einen Augenblick war er fast beleidigt. Dann sagte er: »Das ist doch kinderleicht! Über die
linke Schulter, um den Rücken herum, unter dem rechten Arm in den Gürtel und wieder über die
Schulter!«
Olivia musste lächeln als sie ihm zusah. Er zeigte mit seinen beiden Händen, wie er seine
Kinder-Toga mit rotem Purpursaum über die linke Schulter geworfen hatte und sich dann weiter
angezogen hatte.
»Gut!«, lachte sie laut. »Aber die Sandalen? Was ist mit den Sandalen?«
»Die Schleife klappt immer noch nicht«, antwortete Amandus leise. »Crispinus wird mir helfen,
wenn er zurückkommt!«
»Wer zur Schule gehen will«, meinte Olivia, »der sollte eigentlich auch die Riemen binden
können!«
»Ich lerne es bestimmt noch!«, versprach Amandus hoffnungsvoll.
»Beatus hat es auch erst gelernt, als er ein paar Tage in der Schule war!«
Mutter verzog ein wenig das Gesicht, als sie plötzlich an ihren Ältesten denken musste.
Genauso war es gewesen, als er zu seinem ersten Tag in der Schule aufgebrochen war. An seinem
vierzehnten Geburtstag hatte er dann seine erste Männertoga bekommen. Da war auch die Schule zu
Ende und Beatus war zur Militärschule gewechselt. Jetzt kam er nur manchmal noch am Wochenende
nach Hause.
»Aber Cornelia«, sagte sie dann, »die konnte alles viel früher als ihr beide. Sie war ein Jahr
jünger als Beatus und hätte schon mit ihm zur Schule gehen können.« Sie war nicht so oft in der
Schule gewesen, weil sie viel lieber mit Nikomedes gelernt hatte. Ihre Eltern hatten
eingewilligt. Und als Cornelia gerade vierzehn war, da hatte sie Quirinus geheiratet und war mit
ihm weggezogen. Sie hatte inzwischen zwei Kinder, aber weder seine Eltern noch Amandus hatten sie
bisher gesehen. Sie wohnten in der Provinz Gallien. Quirinus führte eine Hundertschaft Legionäre
an. Er musste dafür sorgen, dass die römische Provinz nicht in innere Streitigkeiten und Kämpfe
an der Grenze verwickelt wurde. Römer sollten hier so sicher wie in Rom selbst leben
können.
Die Mutter wandte sich wieder Sophia zu, die Puder und Creme von dem Tischchen genommen hatte und
nun abwartend vor ihr stand.