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Zum Buch

»Trolle« sind zum Jagen da. Das finden jedenfalls Tanyas »Trolljäger«, eine Gang Jugendlicher, die den Stadtstreichern auf der Strandpromenade von Boleta Bay mit drastischen Methoden zu Leibe rücken. Denn offenbar sind die herumlungernden Gestalten, »Trolle« genannt, für das Verschwinden verschiedener Bewohner des beschaulichen Küstenorts verantwortlich. Doch die Trolljäger steigern sich immer weiter in ihren Hass auf die Obdachlosen und Bettler hinein. Ihre fragwürdige Säuberungskampagne führt die Kids unausweichlich zum alten Vergnügungspark des Ortes und seinem längst geschlossenen Kuriositätenkabinett, wo nur eines lauert – maßloses, unaussprechliches Grauen.

Mit Die Gang zieht Richard Laymon, der Meister des kompromisslosen Horrors, erneut alle Register: ein echter Laymon!

Mit einem ausführlichen Verzeichnis aller im Wilhelm Heyne Verlag erschienenen Werke von Richard Laymon.

Zum Autor

Richard Laymon wurde 1947 in Chicago geboren und studierte in Kalifornien Englische Literatur. Er arbeitete als Lehrer, Bibliothekar und Zeitschriftenredakteur, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete und zu einem der bestverkauften Spannungsautoren aller Zeiten wurde. 2001 gestorben, gilt Laymon heute in den USA und Großbritannien als Horror-Kultautor, der von Schriftstellerkollegen wie Stephen King und Dean Koontz hoch geschätzt wird.

Besuchen Sie auch die offizielle Website über Richard Laymon unter www.rlk.stevegerlach.com

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Die Originalausgabe

FUNLAND

erschien bei Leisure Books, New York.

Der Roman erschien in Deutschland bereits 1992
unter dem Titel
Jahrmarkt des Grauens im Goldmann Verlag.

Unter www.heyne-hardcore.de finden Sie das komplette Hardcore-Programm, den monatlichen Newsletter sowie unser halbjährlich erscheinendes CORE-Magazin mit Themen rund um das Hardcore-Universum.

Weitere News unter www.facebook.com/heyne.hardcore

Vollständig überarbeitete Taschenbuchausgabe 10/2013

Copyright © 1989 by Richard Laymon

Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Published in arrangement with Lennart Sane Agency AB

Redaktion: Sven-Eric Wehmeyer

Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

unter Verwendung eines Fotos von © David Johnson / Trevillion Images

Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels

ISBN 978-3-641-09912-1
V002

www.heyne-hardcore.de

Dieses Buch ist Ann Laymon

und Kelly Ann Laymon gewidmet,

meiner Frau und meiner Tochter,

meinen Reisegefährten,

meinen besten Freunden.

In tiefer Liebe.

»Trollen« war, bevor das Wort seine Karriere im Internet-Zeitalter begann, ein reales Phänomen, das in verschiedenen Gegenden Kaliforniens auftrat. Boleta Bay und Funland dagegen sind fiktiv. Die Figuren und Ereignisse dieser Geschichte sind allein der Fantasie des Autors entsprungen.

1

Er trat aus dem Schatten der geschlossenen Passage und schlurfte auf Tanya zu. Er sah aus, als wäre er geradewegs einer Gruft in einem Zombiefilm entstiegen – das Gesicht grau im Mondlicht, die Augen wie schwarze Höhlen. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, sein Gang schleppend, die abgerissenen Kleider flatterten im Wind.

Tanya blieb stehen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Obwohl vom Ozean her ein kalter Wind blies, war es ihr in ihrem Trainingsanzug bisher warm genug gewesen. Aber jetzt kribbelte ihre Haut, als hätte sie plötzlich ein Eigenleben entwickelt und würde schrumpfen. Ein festes Band schien sich um ihre Stirn zu legen. Sie konnte spüren, wie sich ihr die Haare im Nacken und auf den Armen sträubten.

Der Mann näherte sich mit unsicherem Schritt.

Tanya wusste, dass er kein Zombie war.

Es gibt keine Zombies. Zombies können dir nichts tun.

Sie existieren nicht.

Das hier war ein Troll.

Einer der verrückten obdachlosen Schmarotzer, die sich an jeden heranmachten – wirklich an jeden –, der sich in die Nähe der hölzernen Promenade oder an den Strand wagte. Es wurden immer mehr. Der dreckige, heruntergekommene Abschaum der Menschheit.

Der Troll, immer noch ein paar Schritte von Tanya entfernt, streckte seine Hand aus.

Sie trat rasch einen Schritt zurück, hatte plötzlich Angst, dass sich noch andere an sie heranschlichen, und sah sich um. Sie konnte niemanden entdecken.

Aber sie wusste, dass sie beobachtet wurde. Trolle. Zwei, drei oder zehn von ihnen. Sie starrten aus den schwarzen Schatten neben den Spielbuden und Karussellen heraus, spähten um Ecken herum und schielten sie vielleicht auch lüstern von unten an, durch Risse in den Planken der Promenade. Sie beobachteten, hielten sich aber versteckt.

»Haste ’n paar Mäuse übrig, Schatz?«

Schnell drehte sie sich wieder zu dem Troll um. Jetzt konnte sie seine Augen sehen, feucht und triefend im Mondlicht. Er bleckte die Zähne zu einem verschlagenen, anbiedernden Grinsen. Ein paar Vorderzähne fehlten. Der Wind war nicht stark genug, um den säuerlichen Geruch wegzublasen, der von ihm ausging.

»Okay«, sagte Tanya. »Klar.« Sie griff nach ihrer Schultertasche, drückte sie fest an den Körper, öffnete sie und nahm den Geldbeutel heraus.

»Haste vielleicht ’n Dollar, Schatz?« Er wackelte mit dem Kopf und kratzte sein unrasiertes Kinn. »Hab drei Tage keinen Bissen gehabt.«

»Ich seh mal, was ich habe«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte. Sie öffnete den Geldbeutel.

»Was machste bloß hier draußen?«, fragte er. »Is’ gefährlich, weißte. ’n Haufen Spinner, verstehste?«

»Das hab ich gemerkt«, meinte Tanya.

»Bist ’n hübsches junges Ding. Die Spinner mögen hübsche junge Dinger.«

Statt Münzen nahm Tanya eine weiße Karte aus ihrem Geldbeutel. Sie legte sie mit einer ruckartigen Bewegung schnell in die ausgestreckte Hand des Trolls.

»Häh?« Er betrachtete die Karte stirnrunzelnd.

»Kannst du das lesen?«

»Was’n das für’n Mist?«

»Eine Botschaft für dich.«

Er zerriss die Karte und warf sie weg. Der Wind fegte die Stücke über die Planken. »Ich will ’n Dollar, drei, vier Dollar. Los.« Er bewegte auffordernd die ausgestreckte Hand. »LOS!«

Tanya schob die Schultertasche nach hinten auf ihren Rücken. Sie spürte, wie schwer die Tasche war. »Du mieser Analphabet, auf der Karte steht: ›Lieber Troll, viele Grüße vom Großen Groben Griesgram Billy.‹«

»Was’n das für’n SCHEISS

Tanya griff ihn an. Er stolperte jammernd nach hinten. Sie packte die Aufschläge seines dreckstarrenden Mantels, hakte ein Bein hinter seine Beine, zog sie nach vorn und warf ihn um. Er fiel rücklings auf die Promenade. Die Luft entwich pfeifend aus seiner Lunge, als sie ihm gegen den Brustkorb trat. Er rollte sich keuchend auf die Seite.

Tanya griff in den Ausschnitt ihres Sweatshirts, zog die Trillerpfeife heraus, wandte sich von dem sich krümmenden Troll ab und pfiff kurz und schrill. Die Eintrittskarten-Bude war ein ganzes Stück weiter entfernt, als sie angenommen hatte.

Wenn es Schwierigkeiten gegeben hätte …

Aber es war nichts passiert.

Sie kamen aus ihrem Versteck neben der Bude und liefen auf sie zu. Nate, Samson, Randy, Shiner, Cowboy, Karen, Heather und Liz.

Das Team.

Tanyas Trolljäger.

Sie beobachtete, wie sie näher kamen, und war auf einmal stolz auf sie. Sie lächelte und hob grüßend die Faust. Auch die anderen hoben die Fäuste. Einer – das musste Cowboy sein – stieß einen Schlachtruf aus. Nate knuffte ihn, damit er still war.

Tanya wandte sich wieder dem Troll zu. Er versuchte, auf allen vieren davonzukriechen, aber sie drückte ihn mit dem Fuß zu Boden, drehte sein Fußgelenk um und presste es nach unten auf das Holz. Er schrie auf und ließ sich fallen. Sie hielt seinen Fuß weiter auf die Planken gedrückt und wartete. Zuerst konnte sie nur das Rauschen des Windes und der weit entfernten Brandung hören. Dann wurden die Schritte des herannahenden Teams lauter. Sekunden später standen alle um sie und den Troll herum. Nate tätschelte ihren Rücken. »Wie war’s?«

»Kein Problem.« Sie nahm ihren Fuß vom Gelenk des Trolls.

Die anderen beugten sich über ihn.

Tanya trat zurück, um es sich anzusehen, und Nate schloss sich den anderen an.

»Lasst mich los«, winselte der Troll. »Loooslassen!«

Er keuchte und grunzte und schnappte nach Luft, als ihn die Schläge trafen.

Tanya drehte sich um und ließ den Blick über die Promenade schweifen. Es war niemand zu sehen. Falls andere Trolle zusahen – und davon war sie überzeugt, sie hoffte es sogar –, dann hatten sie kein Interesse, diesem hier zu helfen.

»Nein! Nich!«

Tanya blickte hinab auf den Troll. Karen hatte ein Bein seiner ausgebeulten Hose, Heather das andere gepackt. Sie zogen, und die Hose rutschte an seinen blassen knochigen Beinen herunter.

»Uuuh!«, sagte Cowboy. »Der alte Knabe hat ’n Ding wie ’n Maulesel!«

»Da wirst du neidisch, oder?«, witzelte Liz.

»Leck mich!«

»Seid still, ihr zwei«, sagte Nate. »Los, hoch mit ihm!«

Sie hoben den nackten Troll an Armen und Beinen auf. Er wand und krümmte sich. Er jammerte und drehte seinen Kopf von einer Seite zur anderen. »Loslassen!«, schrie er.

»Loslassen!«

Tanya breitete den Mantel des Trolls aus. Mit angehaltenem Atem warf sie seine Schuhe und Kleider darauf. Sein Hemd und die Unterhosen fühlten sich feucht an, glatt und fadenscheinig. Einmal musste sie würgen, aber sie machte weiter und wickelte schließlich den Mantel um das übrige Zeug. Dann hob sie das Bündel auf und folgte den anderen, die den zappelnden Troll an Armen und Beinen zu einem Laternenpfahl trugen.

Die Laterne war – wie alle Lampen in Funland – nach dem Schließen der Tore ausgeschaltet worden.

Cowboy nahm ein zusammengerolltes Seil von der Schulter. Ein Ende hielt er fest, den Rest warf er nach oben. Die Rolle wickelte sich ab, stieg nach oben und fiel über den schmiedeeisernen Arm des Laternenpfahls. Das Ende war zu einer Henkersschlinge geknüpft. Er hielt die Schlinge fest.

»Nein!«, schrie der Troll, als Cowboy ihm die Schlinge über den Kopf zog. »Bitte! Hab doch nix getan!«

»Er hat doch nix getan«, äffte Liz ihn nach.

»Los, knüpfen wir ihn auf«, sagte Samson.

»Hoch mit ihm«, fügte Heather hinzu.

»Nein!« Er warf den Kopf hin und her, aber die Schlinge blieb fest.

»Wir werden dir den Hals lang ziehen«, sagte Cowboy und beugte sich über ihn. »Wir wollen sehen, wie du in der Luft tanzt.«

»Hört auf rumzuschwätzen und tut’s endlich«, sagte Tanya. Sie ließ das Kleiderbündel fallen, packte sich das lose Ende des Seils und zog daran. Sie zerrte das Seil nach hinten. Der Troll kreischte. Die anderen ließen ihn los. Tanya sah, wie seine Beine herunterfielen. Er schaukelte, sein Rumpf hing über den Planken der Promenade, die Füße zappelten, als er versuchte, den Boden zu berühren. Das plötzliche Gewicht zerrte am Seil. Es lief ein paar Zentimeter brennend heiß durch ihre Hände, dann griffen Samson, Heather und Cowboy zu. »Okay. Genug«, rief Nate.

Sie hörten auf zu ziehen. »Festhalten«, sagte Tanya. Sie trat zur Seite und ließ die anderen das Seil festbinden. Der nackte Troll tanzte auf Zehenspitzen und zerrte an der Schlinge um seinen Hals.

Tanya ging zu ihm hinüber.

»Willst du sterben?«, fragte sie.

Er gab schluchzende, winselnde Geräusche von sich. Ein Rotzfaden baumelte an seinem Kinn. »Du bist widerlich«, sagte Tanya. »Abschaum. Eine stinkende Masse von Exkrementen.«

»Das bedeutet Scheiße«, klärte ihn Liz auf.

»Wir wollen nicht, dass Typen wie du hier herumkriechen und uns betatschen. Du hast hier nichts zu suchen. Wir haben die Schnauze voll. Verstehst du?«

Er plärrte wie ein verängstigtes Kind.

»Zieht ihn hoch«, schrie Tanya.

Der Troll wurde hochgezogen. Er klammerte sich an die Schlinge und bog den Rücken durch; seine Beine traten in die Luft, als wollte er auf dem Wind laufen.

»Das reicht«, sagte Nate.

Der Troll fiel herunter. Seine Füße krachten auf das Holz. Dann der Rumpf. Die Knie schossen nach oben, eines schlug gegen sein Kinn und boxte den Kopf nach hinten. Dann lag er ausgestreckt, wimmerte und zog an der Schlinge an seinem Hals.

Nate nahm ihm das Seil aus der Hand.

Er legte die Schlinge um das rechte Fußgelenk des Trolls und zog sie fest.

»Ziehen«, befahl er.

Das rechte Bein des Trolls schnellte nach oben.

Sein Körper folgte nach.

Als der Kopf des Trolls etwa einen Meter über dem Boden war, befestigte Cowboy das Seil am Sockel des Laternenpfahls. »So hängt er fest genug«, verkündete er.

Sie bauten sich alle vor dem Troll auf. Er schaukelte von einer Seite zur anderen, drehte sich hin und her und versuchte, nach den Planken der Promenade zu greifen, aber die waren außerhalb seiner Reichweite. Sein linkes Bein hing herunter, als wüsste es nicht, wohin.

»Das ist doch mal ’n schöner Anblick!«, sagte Cowboy.

»Es wäre noch viel schöner«, sagte Tanya, »wenn wir die Schlinge um seinen Hals gelassen hätten.« Sie bückte sich und starrte dem hängenden Troll in die Augen. »Das nächste Mal, du Drecksack, bringen wir dich um. Verstanden? Also hau besser gleich ab, wenn du runterkommst.«

»Hau weit genug ab«, fügte Nate hinzu.

Mit einem Kichern holte Heather aus, schlug gegen die Hüfte des Trolls, schubste ihn und ließ ihn hin und her schaukeln, als wäre er ein Spielzeug auf einem Kinderspielplatz.

Tanya schob mit dem Fuß das Kleiderbündel zu ihm hin. Sie holte einen kleinen Behälter mit Benzin aus ihrer Tasche und bespritzte den Mantel damit. Dann zündete sie ein Streichholz an, schützte die Flamme vor dem Wind und hielt sie an den benzingetränkten Stoff. Flammen flackerten aus dem Bündel und verwandelten es in einen Feuerball. Das Feuer beleuchtete das schmierige unrasierte Gesicht des Trolls und seinen leichenhaften, schaukelnden Körper. Tanya gab dem Bündel einen Tritt.

Es rollte vorwärts und blieb dicht neben dem Troll liegen. Kreischend griff er nach seinem Kopf und krümmte sich nach oben, als wollte er sich setzen.

»Spinnst du?«, schrie Nate.

Er sprang nach vorn und trat gegen das brennende Kleiderbündel. Es flog in die Luft, fiel auseinander, und der Wind wehte brennende und glühende Stofffetzen davon.

Der Troll griff nach Nates Hose. Nate stieß ihm ein Knie ins Gesicht und stolperte nach hinten, außer Reichweite. Er fuhr zu Tanya herum. »Was, zum Teufel, wolltest du …«

»Er sah so aus, als ob er frieren würde.«

»Verdammt!«

»Wir hätten uns ein Würstchen grillen können.«

»Wir hätten uns eine verdammte Mordanklage einhandeln können! Los, lasst uns von hier abhauen.«

Sie gingen und ließen den Troll über der vom Mondlicht beleuchteten Promenade schaukeln.

2

»Oooh! Tolle Stelzen! Schmatz!«

Dave warf einen Blick in Richtung der Stimme und stellte fest, dass sie aus dem »Maul« einer grünen Socke an der Hand einer Bettlerin kam. Er ging weiter.

Wenn Joan die Bemerkung über ihre Beine überhaupt gehört hatte, dann ignorierte sie sie ebenso, wie sie für gewöhnlich die anerkennenden Blicke, Kommentare und das Pfeifen ignorierte, das regelmäßig erklang, wenn sie auf der Promenade Streife ging.

»Leckere Beinchen. Wo kommen die her? War’n wohl zu Haus im Bett. Kuschelig und gemütlich, und Enoch hat den Löffel abgegeben.«

»Sie hat recht«, sagte Joan. »Du hast hinreißende Beine.«

Dave blieb stehen. Er blickte zurück zu der alten Frau. Sie saß mit gekreuzten Beinen auf der Bank. Ihr ledriges braunes Gesicht war in die andere Richtung gedreht. Sie starrte ein junges Paar an, das gerade vorüberkam, und schwätzte mit ihrer Sockenpuppe auf sie ein. Der Mann und die Frau beschleunigten ihre Schritte und sahen sie nicht an. Trotz der Hitze hatte sie eine Decke wie eine Kapuze über Kopf und Schultern gezogen. Vorne war die Decke offen und ließ ein fleckiges T-Shirt sehen. Das T-Shirt hatte Löcher. Dazu trug sie einen fadenscheinigen Rock. Auf der Bank neben ihr stand ein gelber Plastikteller mit ein paar Münzen darin.

»Los«, sagte Joan. »Gib ihr ’nen Dollar. Sie hat dir ein Kompliment wegen deiner Beine gemacht.«

»Wegen deiner. Und was hat sie über Enoch gesagt?«

»Wer ist Enoch?«

»Weiß ich nicht. Irgendwas darüber, dass er den Löffel abgegeben hat?«

»Keine Ahnung. Wen interessiert das? Die spinnt doch.«

Dave ging zurück. Die Alte sah ihn durch fettige graue Haarsträhnen hindurch an, dann senkte sie den Blick. Aber die Puppe wandte sich Dave zu.

»Hiii«, sagte sie. »Bullenbeine, heute hier, morgen dort. Knackig braune Bullenbeine. Bi-Ba-Bullenbeine.«

»Was hast du da über Enoch gesagt?«, fragte er.

Die Socke schien ihn mit offenem Maul anzustarren, als wäre sie über die Frage erschrocken. Ihr offenes Maul war nichts weiter als eine Falte zwischen Daumen und Fingern der alten Frau. Eine ziemlich jämmerliche Sockenpuppe, dachte er. Sie hat nicht mal Augen.

Das Maul klappte auf und zu. »Neugier bringt den Bullen um. Klappe zu, Affe tot.«

»Er hat Sie was gefragt, Lady«, stieß Joan hervor.

Die Socke schauderte.

»Lieber Himmel, Dave!«

Dann fiel sie vornüber, als wäre sie tot.

»Was ist mit Enoch passiert?«, fragte Dave.

»Vorbei, vorbei, vorbei«, sang die Socke. »Bloß nix sagen. Wo war’n denn meine schönen Bullen? Zu Hause im Bett waren sie. Schluss.« Die Socke schoss nach vorn, knabberte an Daves Oberschenkel und fuhr zum Schritt hoch. Keuchend wich er zurück. Das Sockenmaul hatte den Rand seiner Shorts erwischt, musste dann aber loslassen.

»Verdammt noch mal, Lady«, stieß Dave hervor.

Joan klappte vor Lachen beinahe zusammen.

Dave ging weiter, ohne noch einmal zurückzuschauen.

Joan lief neben ihm her und lachte. »Eine erstklassige … Verhörtechnik.«

»Sie wollte mich betatschen!«

»Wollte sich dein bestes Stück schnappen.«

Dave spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. »Sollen wir sie einlochen, wegen tätlichem Angriff auf einen Polizisten?«

»Schluck’s runter, Kumpel. Du würdest nicht so dämlich lachen, wenn sie dich angefasst hätte. Lieber Himmel!« Er konnte immer noch die verdammte Socke spüren. Er rieb mit der Hand fest über seinen Oberschenkel.

»Ich gehe nie so nah ran«, sagte Joan. »Außer vielleicht, um ihnen Handschellen anzulegen. Und dann würde ich am liebsten Gummihandschuhe anziehen. Und eine Gasmaske. Und vielleicht einen von diesen Anzügen zur chemischen Kriegsführung, wenn ich so eine anfassen müsste. Diese Typen sind widerlich. Wenn es nach mir ginge, würden wir die alle loswerden.«

»Mach doch bei den Trolljägern mit.«

»Wenn das unter uns bleibt: Ich würde lieber mitmachen, als sie zu erwischen. Nicht, dass eines von beiden wahrscheinlich ist. Ich hol mir jetzt einen Hotdog am Spieß. Willst du auch einen?«

Dave starrte seine Hand an. Sie machte keinen schmutzigen Eindruck, er hatte allerdings damit seinen Oberschenkel gerieben, wo die Socke ihn berührt hatte. Aber er war hungrig. Sie waren auf Streife, seit der Vergnügungspark gegen zehn Uhr geöffnet hatte, also seit fast drei Stunden. »Bring mir einen mit, ja? Ich will mich mal schnell waschen.«

»Nimm genug Seife. Es ist schwierig, diesen Trollschleim wieder wegzukriegen.«

»Werd bloß nicht noch witziger, Joan. Ich glaube, das wäre nicht mehr auszuhalten.«

Joan stellte sich in die Warteschlange an der Hotdog-Bude, und er ging zur nächsten Herrentoilette. In Funland gab es zwei Toilettenanlagen, eine an jedem Ende der Promenade. Für heute war es das sechste Mal, dass er eine von ihnen betrat.

Bei ihrer Streife gingen sie hier regelmäßig hinein. Dave schaute in die Herrentoilette, Joan in die für Damen.

»Wenn irgendwas Beschissenes im Gang ist«, sagte Joan oft, »dann ist das hier der richtige Ort dafür.«

Häufig fanden sie dort herumlungernde Penner, Leute, die die verschiedensten sexuellen Vorlieben auslebten, und ab und zu Typen, die ein kleines Drogengeschäft erledigten. Heute war das bisher einzige Problem ein Wermutbruder gewesen, der in die Damentoilette gekotzt hatte. Joan hatte ihn hinausgeführt und dabei trotz der Sonnenbräune blass ausgesehen.

Dave betrat die Herrentoilette wie immer vorsichtig. Sie war leer, mit der Ausnahme eines etwa zehnjährigen Jungen am Pissoir. Die Tür einer Kabine war geschlossen. Dave bückte sich und blickte unter der Tür durch. Nur ein paar Füße, mit heruntergelassenen Jeans darüber. Als er wieder aufstand, sah er, wie ihn das Kind über die Schulter anstarrte.

»War’s schön heute?«, fragte Dave und ging hinüber zum Waschbecken.

»Die Bazookas sind ganz toll!«

Dave lächelte. »Die mag ich auch. Die Tennisbälle donnern da so richtig raus.« Er zog ein paar Papierhandtücher aus dem Spender, befeuchtete eines am Wasserhahn und rieb sein Bein damit ab.

»Ist das eine richtige Pistole?«, fragte der Junge.

»Eine .38er Smith & Wesson.«

»Sind Sie ein Polizist?«

»Wenn ich schon mit ’ner Knarre rumlaufe, empfiehlt sich das wohl, sonst könnte ich Ärger kriegen.«

Der Junge grinste. Er schloss seinen Reißverschluss, spülte und kam auf Dave zu.

Er starrte ihn an.

»Willst du meine Marke sehen?«, fragte Dave. Er zeigte mit einem nassen Finger auf ein blaues Schild, das an sein T-Shirt geheftet war.

»Das ist Ihre Uniform? Haben Sie die immer an?«

»Nur, wenn ich hier auf Streife bin, wenn’s heiß ist. Sonst haben wir Uniformen wie die anderen Polizisten auch.«

»Komisch.«

Dave war an derartige Bemerkungen gewöhnt. Seine Mütze sah aus wie eine Baseballmütze. Statt mit dem Oberliga-Abzeichen war sie mit den goldenen Buchstaben BBPD für Boleta Bay Police Department bestickt, die von einem Stern gerahmt wurden. Sein weißes T-Shirt trug das gleiche Emblem. Die Shorts passten zur Mütze. Er trug außerdem weiße Socken und blaue Turnschuhe. Nur der schwarze Ledergürtel, an dem Halfter, Pistole, Gummiknüppel, Sprechfunkgerät, Handschellen und ein halbes Dutzend kleiner Taschen hingen, machte ihn deutlich als Polizisten erkennbar.

»Sieht aber irgendwie gut aus«, gab der Junge nach einer ausführlichen Inspektion zu. Dann hielt er die Hände unter das laufende Wasser, zog ein Papierhandtuch raus und trocknete sie ab. »Ich werde auch Polizist.«

»Gute Idee. Vielleicht arbeiten wir mal als Partner.«

»Nee. Ich komme aus Los Angeles. Ich werde beim Los Angeles Police Department sein.«

»Das ist ’ne Superstelle, Mister.«

Der Junge strahlte ihn an und sagte: »Also, bis dann«, und rannte los.

Dave trocknete sein Bein ab. Dann wusch er sich die Hände und musste grinsen, als er sich an Joans Rat erinnerte, viel Seife zu benutzen, um den Trollschleim wegzukriegen.

Er lächelte nicht mehr, als ihm einfiel, wie die Frau ihn angefasst hatte.

Du musst versuchen, freundlich zu diesen Leuten zu sein …

Gloria mag sie … Ich sollte sie vielleicht dieser Hexe mit der Puppe vorstellen.

Es sind Menschen, Dave.

Warum benehmen sie sich dann nicht so?

Großartig, dachte er. Ich streite mich mit Gloria, und sie ist nicht mal hier.

Wenn sie nur halb so schlau wäre wie Joan …

Vergiss es.

Er trocknete die Hände ab und eilte nach draußen ins Sonnenlicht. Joan saß an einem kleinen runden Tisch am Rande der Promenade. Sie hatte einen Hotdog am Spieß und eine kleine Cola vor sich. Ihr gegenüber auf dem Tisch lagen zwei Hotdogs, eine Papiertüte mit Fritten und eine größere Cola. Dave ließ sich vor dem Essen nieder.

»Willst du mich mästen?«, fragte er.

»Du wächst noch. Kannst nicht nur von Bohnenkeimen und Quark leben.«

»Du solltest sehen, was sie mir gestern Abend vorgesetzt hat.«

»Willst du mir den Appetit verderben?«, fragte Joan. Sie riss mit ihren Zähnen eine Ecke des Plastikbeutelchens auf und drückte den Senf auf ihren Hotdog.

Dave lief das Wasser im Mund zusammen. Er wickelte die Verpackung von einem seiner Hotdogs ab und nahm einen großen Bissen. Die Kruste des tiefgefrorenen Maisbrötchens brach. Die Haut des Würstchens platzte. Warmer Fleischsaft floss in seinen Mund. Er kaute und seufzte. »Richtiges Essen«, sagte er.

»Also, welche kulinarische Delikatesse hat dir Gloria gestern Abend vorgesetzt?«

»Etwas aus dem Wok.«

»Das ist schon mal ein schlechtes Zeichen.«

»Gebratene Mischvegetation.«

»Hast du irgendeine Ahnung, was das sein soll?« Ihre Augen schienen zu lächeln, und sie nahm einen weiteren kräftigen Happen. Dabei blieb ein bisschen Senf auf ihrer Oberlippe hängen, auch noch, während sie kaute.

»Ich weiß ganz genau, was es war«, sagte Dave. »Jedenfalls habe ich die meisten Zutaten erkannt. Wasserkastanien, Bambussprossen, Pilze, Erbsen. Das Beste daran war die Sojasoße.«

»Pilze sind gar nicht übel«, sagte Joan. Sie schleckte den Senf von der Oberlippe. »Sautiert schmecken sie gut zu einem Steak.«

»Erwähne bitte keine Steaks.«

»Hört sich an, als wärst du dabei, ein Rikscha-Boy zu werden.«

»Mein System wird gereinigt.«

»Ich hatte einen ungefähr sooo dicken Hamburger.« Joan hielt die Hand hoch, Daumen und Zeigefinger weit gespreizt. »Und Bratkartoffeln mit Chili.«

»Du hast wirklich eine sadistische Ader, weißt du das?«

»Kann schon sein. Würde es dir was ausmachen, wenn ich auf diese Fritten ein wenig Ketchup schütte?«

»Ich dachte, die wären für mich.«

»Sind sie auch.« Sie riss ein Ketchup-Päckchen mit den Zähnen auf, drückte das Ketchup auf eine Hälfte der Pommes und fing an, sie zu vertilgen.

»Das geht direkt in die Oberschenkel.«

»Du bist derjenige von uns, der die hinreißenden Stelzen hat«, sagte sie und stopfte sich mehr Fritten in den Mund.

Vielen Dank, dass du mich daran erinnert hast, dachte Dave. Er konnte spüren, wie die Socke an seinem Bein hochkrabbelte.

»Glaubst du, die Trolljäger haben gestern Nacht wieder zugeschlagen?«, fragte Joan.

»Was die Alte erzählte, hörte sich irgendwie so an.«

»Enoch hat den Löffel abgegeben? Hört sich an, als wäre er tot. Die Trolljäger bringen niemanden um.«

»Bis jetzt noch nicht«, gab Dave zu. »Jedenfalls wissen wir nichts davon.«

»Den Löffel abgeben bedeutet im Allgemeinen, den Löffel abzugeben.«

»Ein messerscharfer Schluss.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie jemanden umbringen. Du?«, fragte Joan. »Penner verprügeln ist eine Sache. Bis zum Mord ist es noch ziemlich weit.«

»Nicht sehr weit. Denk doch mal daran, wie es angefangen hat. Zuerst haben sie sich die Penner nur geschnappt und sie zur Stadtgrenze gefahren. Es ist schon um einiges schlimmer geworden.«

»Ein paar von ihren Tricks waren ziemlich grausam.«

»Und einige Penner wurden übel zusammengeschlagen. Früher oder später werden sie jemanden umbringen. Wenn es nicht bereits passiert ist. Und wer kann schon sagen, was alles passiert ist? So wie diese Nichtsesshaften hier kommen und gehen, könnten die Kids sie alle abmurksen, und keiner würde etwas davon wissen, bis man eine Leiche findet.«

»Ich glaube nicht, dass es so weit gekommen ist«, sagte Joan, blickte nach unten und rührte ihre Cola mit dem Strohhalm um. »Erst vor ein paar Nächten haben sie diesen Schleimer an die Schienen der Achterbahn gebunden. Das hätten sie nicht getan, wenn es ihnen darum ginge, die Trolle umzubringen und dann die Leichen zu verstecken. Mir kommt es so vor, als wären sie immer noch auf Quälen und Erniedrigen aus.«

»Der Kerl wäre tot gewesen, wenn der erste Achterbahnwagen über ihn gerollt wäre.«

»Aber das sind doch Kids aus der Umgebung«, erklärte Joan. »Sie wissen genau, dass jemand die Strecke abgeht, bevor der Vergnügungspark öffnet. Sie wollten nur, dass er sich halbtot fürchtet.«

»Vielleicht sind sie mit diesem Enoch zu weit gegangen.«

»Oder vielleicht wollte dich die Alte nur an der Nase herumführen.«

»Wir sollten mal ein bisschen herumfragen.«

»Was für eine tolle Idee.« Sie rümpfte die Nase. »Wir verbringen den Nachmittag mit dem Verhör von diesem Gesocks.«

»Ein paar müssen den Kerl gekannt haben. Es könnte nichts schaden, ein paar Fragen zu stellen.«

»Viel nützen würde es aber auch nicht. Wir brauchen einen Dolmetscher. Kennst du jemanden, der Pennerisch spricht?«

Ein Lächeln zog über Daves Gesicht. »Wo bleibt deine Menschlichkeit, Partner?«

»Die heb ich mir für die menschlichen Wesen auf, denen ich ab und zu begegne.« Sie hob die Frittentüte auf. »Bist du damit fertig?«

»Ich hab noch überhaupt keine abgekriegt!«

Sie schwenkte die Tüte unter seiner Nase herum. »Geh und hol dir welche, Großer. Die treiben dir die Bambussprossen schon aus.«

Nach dem Essen sammelte Joan das Einwickelpapier und die Colabecher zusammen. Sie trug alles zu einem Mülleimer. Der Stuhl hatte auf der Unterseite ihrer Schenkel rote Spuren hinterlassen. Wenn die Pommes frites direkt in ihre Oberschenkel gehen, dachte Dave, dann haben sie dort jedenfalls noch keinen Schaden angerichtet.

Stell sie neben Gloria, und es kommt eine Reklame für all die »Gifte« dabei heraus, die Gloria so gern verteufelte. Joan war einen Kopf größer als Gloria. Sie hatte Muskeln und festes Fleisch, wo Gloria knochig war. Sie hatte Kurven, wo Gloria platt war. Ihre Haut schimmerte, Glorias war stumpf und matt. Joan strahlte Selbstvertrauen und Kraft aus, während Gloria wie ein Gespenst wirkte, das nur von nervöser Energie am Leben erhalten wurde.

Wenn sie Hunde wären …, dachte Dave.

Aber sie sind keine Hunde, das ist mal sicher. Aber wenn sie Hunde wären, wäre Joan ein goldfarbener Labrador. Gloria wäre ein Pudel.

»Willst du noch lange hier sitzen und in deinen Tagträumen schwelgen?«, fragte Joan.

»Nein. Hm-hm. Ich bin nur ein bisschen in Gedanken spazieren gegangen.« Er stand auf und hoffte, dass sie nicht durchschauen würde, in welche Richtung seine Gedanken spaziert waren.

Sie setzten ihren Rundgang fort.

Er fühlte sich mies. Betrogen und wie ein Betrüger. Seit er zusammen mit Joan auf Streife ging – erst seit zwei Wochen –, hatte er die beiden verglichen und war immer unzufriedener geworden. Es war falsch. Man fing nichts mit seinem Partner an, vor allem dann nicht, wenn sie schon jemanden hatte. Und du lässt dein eigenes Mädchen nicht fallen, nur weil eine vorbeikommt, die dir besser gefällt.

Sicher, es gab Schwierigkeiten mit Gloria. Aber das war bei einer solchen Nähe unvermeidlich. Wenn man sich näherkommt, findet man eben Fehler beim anderen. Die Kirschen in Nachbars Garten … bis du sie dann probierst. Joan ist auch nicht vollkommen. Er war lange genug mit ihr auf Streife, um zu wissen, dass sie stur und aufbrausend sein konnte, und manchmal war sie nicht sehr tolerant. Gott helfe demjenigen, der versucht, ihr dumm zu kommen! Aber sie hatte viel Sinn für Humor, und Gloria …

Hör auf damit, sagte er sich.

»Officer?«

Ein Blick, und Dave wusste, dass die vier Männer, die Joan angrinsten, Seeleute waren. Sie trugen keine Uniformen, aber ihre Bürstenschnitte und ihr jungenhaftes Lächeln verrieten sie. Sie sahen aus, als schwänzten sie die Schule und hätten viel Spaß dabei.

»Was kann ich für die Herren tun?«, fragte Joan.

»Könnten wir Sie fotografieren? Nur ein Bild, ja? Mit jedem von uns. Sie würden uns wirklich einen großen Gefallen tun. Was halten Sie davon? Okay? Nichts Verrücktes, nur einfach ein paar Fotos. Wir wissen, dass Sie im Dienst sind, aber in ein paar Tagen laufen wir wieder aus, zum Persischen Golf, und …«

»Warum nicht?«, sagte sie.

Dave konnte es kaum glauben.

Ohne verärgert oder schüchtern zu wirken, ließ sie den Anführer der Gruppe neben sich stehen. Er lehnte sich an sie und schnitt dem Typen mit der Kamera Grimassen. Und kurz bevor der Auslöser klickte, legte Joan den Arm um ihn. Der Junge lief dunkelrot an. Als das Foto gemacht war, wich er vor Joan zurück, errötete wieder und schüttelte den Kopf; dann wirbelte er herum und ließ sich flach auf die Promenade fallen. »Ich bin tot und im Himmel, Kumpels«, verkündete er.

Der nächste Seemann war ein dicklicher Junge mit Pickeln. Joan rieb über seinen Bürstenschnitt, und er verdrehte die Augen nach oben. Sie zog ihn an sich, und der dürre Junge mit der Kamera machte das Bild.

Der dritte Seemann war ein riesenhafter grinsender Schwarzer. Er stand wie in Habachtstellung neben Joan, als hätte er einen Stock verschluckt, das Kinn auf die Brust gepresst. Sie lehnte sich an ihn, griff an seinen Rücken und zwickte ihn in die Seite. Er wand sich kichernd wie ein Mädchen, als das Foto gemacht wurde. Dann versuchte der erste Seemann, dem schlaksigen Jungen mit Brille, der die Aufnahmen gemacht hatte, die Kamera abzunehmen. »Jetzt bist du dran, Henry. Los.«

»Lasst mal.« Er schüttelte den Kopf. »Wir haben die Dame lange genug belästigt.« Er grinste schüchtern.

»Feigling! Feigling!«

»Komm, Junge, zeig, dass du ein Mann bist.«

»Henry hat Angst vor Frauen!«

»Lasst ihn in Frieden, Jungs«, sagte Joan. Sie sah Henry an. »Du hast doch keine Angst vor mir? Komm her!«

Alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Aber er ging zu ihr. Seine Freunde johlten und pfiffen.

Er stand neben Joan. Er reichte ihr gerade so eben bis zur Schulter. Sie bückte sich ein wenig und deutete mit dem Finger auf ihre Wange. Der Junge sah erschrocken und gleichzeitig erfreut aus. Er wandte sich ihr zu, um sie auf die Wange zu küssen. Sie drehte den Kopf und küsste ihn auf den Mund, und die Kamera klickte.

Seine Freunde waren still geworden.

Als Joan aufhörte, ihn zu küssen, legte Henry seine Arme um sie, und sie hielten sich fest. Dave konnte sein Gesicht sehen. Seine Brille war an Joans Wange eingeklemmt. Seine Augen waren geschlossen, die Lippen fest zusammengepresst. Er nickte, und Dave merkte, dass Joan ihm offenbar etwas ins Ohr flüsterte. Plötzlich erhellte ein Lächeln sein Gesicht.

Er löste sich von Joan und ging zu seinen Freunden zurück.

»Was für ein Glück dieser Mistkerl hat«, murmelte einer von ihnen.

Der schwarze Riese schlug ihm auf die Schulter.

»Gute Reise, Jungs«, sagte Joan und winkte ihnen zu. Sie drängten sich wieder in die Menschenmenge, winkten, schubsten sich gegenseitig, riefen ihren Dank. Henry hob still seine Hand und sah traurig drein, als nähme er Abschied von seinem besten Freund.

Joan schaute zu Boden und öffnete eine Tasche an ihrem Gürtel. Sie holte ihre Sonnenbrille heraus und setzte sie auf, bevor sie sich wieder zu Dave umdrehte.

»Nette Jungs«, meinte sie.

»Du hast ihren Tag gerettet«, sagte Dave zu ihr.

»Lass uns weiterziehen. Wir müssen den Zeitplan einhalten.«