SHARPES
WEIHNACHT
Ins Deutsche übertragen von
Rainer Schumacher (Roman) und Dietmar Schmidt (Nachwort)
BASTEI ENTERTAINMENT
Die Kurzgeschichte dieses E-Books erschien auf Deutsch erstmals in dem in der Bastei Lübbe AG veröffentlichten Band »Sharpes Weihnacht«, von Bernard Cornwell
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Für die Originalausgabe:
Copyright © 1994, 1995 und 2003 by Bernard Cornwell
Titel der englischen Originalausgabe:
»Sharpe’s Christmas«
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Rainer Delfs
Illustrationen: Daniel Ernle
Titelillustration: Guter Punkt GmbH Co. KG, München
Covergestaltung: Tanja Østlyngen
E-Book-Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-8387-1926-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
SHARPES
WEIHNACHT
Die beiden Soldaten kauerten am Rand des Feldes. Einer von ihnen, ein dunkelhaariger Mann mit vernarbtem Gesicht und harten Augen, spannte den Hahn seines Gewehrs und zielte, doch nach ein paar Sekunden senkte er die Waffe wieder. »Zu weit weg«, sagte er leise.
Der zweite Mann war sogar noch größer als der erste, und wie sein Gefährte so trug auch er die ausgeblichene grüne Jacke der 95th Rifles, doch anstatt mit einem Baker-Gewehr war er mit einem Salvengewehr ausgerüstet, einer seltsamen Konstruktion mit sieben Läufen, die über ein einziges Steinschloss abgefeuert wurden. Es war eine mörderische Waffe mit einem Rückstoß wie der Tritt eines Mulis, aber der Mann sah stark genug aus, um ihn auszuhalten. »Nicht gut«, flüsterte er und packte die riesige Waffe. »Das Ding funktioniert nur aus der Nähe.«
»Aber gehen wir zu nah ran, dann laufen sie weg«, bemerkte der erste Mann.
»Wohin denn?«, erwiderte der zweite Mann. Sein Akzent verriet, dass er aus Ulster stammte. »Das ist eine eingezäunte Weide. Die können nicht wegrennen.«
»Dann sollen wir also einfach hingehen und ihn erschießen?«
»Sicher. Es sei denn, Sie wollen ihn erwürgen, Sir. Erschießen geht aber schneller.«
Major Richard Sharpe löste den Hahn wieder. »Dann komm«, sagte er, und die beiden Männer standen auf und näherten sich vorsichtig den drei Ochsen. »Glaubst du, sie greifen an, Pat?«, fragte Sharpe.
»Die sind kastriert, Sir«, erklärte Sergeant Major Patrick Harper. »Die haben ungefähr so viel Feuer wie drei blinde Mäuse.«
»Also, für mich sehen sie gefährlich aus«, sagte Sharpe. »Immerhin haben sie ihre Hörner noch.«
»Der Rest der Ausrüstung fehlt ihnen aber, Sir«, sagte Harper. »Die singen nur noch im Damenchor, wenn Sie wissen, was ich meine.« Er deutete auf einen der Ochsen. »Der hat richtig schön viel Fett auf den Knochen, Sir. Ich rieche den saftigen Braten förmlich schon.«
Ahnungslos, welches Schicksal ihn erwartete, beobachtete der Ochse die beiden Männer. »Ich kann ihn doch nicht einfach erschießen!«, protestierte Sharpe.
»Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie in Portugal doch jede Menge Ziegen mit dem Bajonett abgestochen, Sir«, entgegnete Harper und dachte an die Zeit zurück, als sie das Land geplündert hatten, damit den vorrückenden Franzosen nichts in die Hände fiel, was sie irgendwie hätten gebrauchen können. »Was ist hier anders?«
»Ich hasse Ziegen.«
»Aber es geht doch um unser Weihnachtsessen, Sir«, ermutigte Harper seinen befehlshabenden Offizier. »Echtes Roastbeef, Sir, Plumpudding und Wein. Die Pflaumen und den Wein haben wir, fehlen nur Fleisch und Fett.«
»Wo willst du denn das Fett hernehmen?«
»Von dem Ochsen natürlich«, erklärte Harper im verächtlichen Tonfall eines Burschen vom Land, der einem Stadtmenschen etwas erklären muss. »Es ist weiß und schmeckt, Sir, gutes Nierenfett, jawohl, aber Sie sollten das arme Tier erst erschießen. Das wäre humaner.«
Sharpe ging näher an das Tier heran. Es hatte große braune, traurige Augen und beobachtete Sharpe mit sanftem Fatalismus. Sharpe spannte den Hahn, und der Ochse blinzelte ob des seltsamen Geräuschs. Sharpe hob die Waffe – und senkte sie dann wieder. »Ich kann das nicht, Pat.«
»Nur ein Schuss, Sir. Stellen Sie sich einfach vor, das sei ein Froschfresser.«
Sharpe hob das Gewehr, spannte den Hahn und zielte genau zwischen die Augen des Ochsen. Das Tier schaute ihn weiter an. »Mach du das«, sagte Sharpe zu Harper und senkte die Waffe.
»Womit denn?« Harper hielt sein Salvengewehr in die Höhe. »Damit reiße ich ihm den Kopf ab.«
»Den Kopf brauchen wir doch nicht, oder?«, erwiderte Sharpe. »Nur den Rumpf und das Fett. Also los. Tu ’s.«
»Ein Salvengewehr ist aber nicht sehr genau, o nein, Sir. Für Froschfresser ist es großartig, aber nicht zum Schlachten von Vieh. Und ich mag Hirn, ja, das tue ich. Meine Ma hat es immer in Butter gebraten, und das hat wunderbar geschmeckt. Ich will das Hirn nicht über halb Spanien verteilen. Ihr Gewehr ist besser.«
»Dann nimm eben das Gewehr«, sagte Sharpe und bot Harper seine Waffe an.
Kurz starrte Harper das Gewehr an, nahm es aber nicht. »Sir, das Problem ist«, sagte der riesige Ire, »dass ich letzte Nacht ein paar Tropfen zu viel getrunken habe. Meine Hände zittern, sehen Sie? Es ist besser, wenn Sie das erledigen, Sir.«
Sharpe zögerte. Die Leichte Kompanie freute sich schon auf das Weihnachtsessen: blutiges Roastbeef, Soße so dick, dass eine Ratte daran ersticken würde, und ein mit Brandy getränkter Christmas-Pudding mit Pflaumen und gutem Nierenfett. »Das ist schon verrückt, nicht wahr?«, bemerkte Sharpe. »Wäre das ein Froschfresser, ich würde noch nicht mal mit der Wimper zucken. Und das ist doch nur eine blöde Kuh.«
»Das ist ein Ochse, Sir.«
»Wo ist da der Unterschied?«
»Den können Sie nicht melken, Sir.«
»Oh – ja – stimmt«, sagte Sharpe und zielte wieder mit dem Gewehr. »Halt einfach still«, befahl er dem Ochsen und näherte sich noch einen halben Schritt, sodass die verrußte Mündung nur noch ein paar Zoll von den rauen schwarzen Haaren zwischen den traurigen Augen des Tieres entfernt war. »Ich habe mal einen Tiger geschossen«, erzählte er.
»Wirklich, Sir?«, sagte Harper, dem deutlich anzumerken war, dass ihn das nicht im Mindesten interessierte. »Dann stellen Sie sich einfach vor, das sei ein Tiger, und erschießen Sie ihn.«
Sharpe schaute in die traurigen Augen. Er hatte schon verwundete Pferde von ihrem Leid erlöst und genug Hasen, Kaninchen und Füchse geschossen, doch aus irgendeinem Grund konnte er den Abzug nicht betätigen, und dann wurde er aus seiner Not erlöst, als eine hohe, eifrige Stimme ihn vom anderen Ende des Feldes rief. »Mister Sharpe, Sir! Mister Sharpe!«
Sharpe löste den Hahn wieder, drehte sich um und sah Ensign Charles Nicholls über das Gras auf sich zu rennen. Nicholls war gerade erst in Spanien angekommen und rannte ständig, als hätte er Angst, der Krieg könne ihm entkommen. »Immer schön langsam, Mister Nicholls«, sagte Sharpe.
»Jawohl, Sir«, keuchte Ensign Nicholls, machte aber keinerlei Anstalten, den Rat zu befolgen. »Colonel Hogan, Sir«, sagte er, als er Sharpe erreichte, »er will Sie sehen, Sir. Er sagt, es seien die Froschfresser, Sir, und er sagt, wir müssen ein paar Froschfresser aufhalten, Sir, und es ist dringend.«
Sharpe warf sich das Gewehr über die Schulter. »Wir machen das dann später, Sergeant Major«, sagte er.
»Jawohl, Sir, natürlich werden wir das.«
Der Ochse schaute den Männern hinterher, senkte dann den Kopf und fraß weiter. »Wollen Sie ihn schießen, Sir?«, fragte Nicholls aufgeregt.
»Was haben Sie denn gedacht?«, erwiderte Sharpe. »Dass ich das Vieh erwürge?«
»Also, ich könnte so einen nicht erschießen, Sir«, gab Nicholls zu. »Der täte mir viel zu leid.« Er schaute Sharpe und Harper bewundernd an, und das war auch nicht verwunderlich, denn es gab niemanden in Wellingtons Armee, der mehr bewundert und gefürchtet wurde als diese beiden. Es waren Sharpe und Harper gewesen, die bei Talavera den französischen Adler erobert hatten. Sie waren bei Badajoz durch die mit Blut getränkte Bresche gestürmt, hatten während der Flucht aus Vitoria die große Straße überquert, und Nicholls konnte kaum glauben, dass er in ihrem Bataillon diente. »Glauben Sie, wir werden kämpfen müssen, Sir?«, fragte er aufgeregt.
»Ich hoffe nicht«, antwortete Sharpe.
»Nicht, Sir?« Nicholls klang enttäuscht.
»In drei Tagen haben wir Weihnachten«, sagte Sharpe. »Wollen Sie denn an Heiligabend sterben?«
»Nein, ich denke nicht, Sir«, gab Nicholls zu. Der Ensign war siebzehn, sah aber wie vierzehn aus. Er trug einen Uniformmantel aus zweiter Hand, auf den seine Mutter Tressen aus Goldspitze genäht hatte, und die Ärmel hatte er umgekrempelt, damit sie ihm nicht über die Hände hingen. »Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, hatte Nicholls Sharpe vor einer Woche erklärt, als er beim Bataillon eingetroffen war, »dass ich den Krieg verpassen würde. Einen Krieg zu verpassen, das wäre wirklich großes Pech.«
»Also für mich klingt das mehr nach Glück.«
»Nein, Sir! Ein Mann muss seine Pflicht erfüllen«, hatte Nicholls voller Inbrunst erklärt, und der Ensign bemühte sich wirklich eifrig, seine Pflichten zu erfüllen, und er ließ sich auch nicht entmutigen, wenn die Veteranen über seinen Eifer lachten. Er ist wie ein kleiner Hund, dachte Sharpe. Feuchte Nase, den Schwanz hoch und begierig darauf, seine Milchzähnchen in den Feind zu schlagen. Aber nicht an Weihnachten, dachte Sharpe, nicht an Weihnachten, und er hoffte auch, dass Hogan sich irrte und die Froschfresser nicht auf dem Marsch waren, denn Weihnachten war nicht die Zeit zum Töten.
»Vermutlich werden Sie nicht kämpfen müssen«, sagte Colonel Hogan und nieste heftig. Er malträtierte seine Nase mit einem riesigen roten Taschentuch, dann blies er den restlichen Schnupftabak auf die Karte, die er auf einem Tisch in dem Bauernhof ausgebreitet hatte, der ihm als Quartier diente. »Es könnte nur ein Gerücht sein, Richard, mehr nicht. Und? Haben Sie Ihren Ochsen jetzt ermordet?«
»Bin nicht dazu gekommen, Sir. Und woher wissen Sie eigentlich, dass ich einen schießen wollte?«
»Ich bin der Chef des Nachrichtendienstes hier«, erklärte Hogan großspurig, »und ich weiß alles –