Grillen und Ameisen
Alte Geschichten im neuen Europa
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens
Im Gedenken an Bernd Müller
Was für ein phantastisches Geschenk ist eine Geschichte? Welch eine Freude bietet unsere menschliche Neigung zu erzählen, und welchen Trost. Wir Menschen sind, wie es der Historiker Philipp Blom einmal ausgedrückt hat, »eine erzählende Tierart«. Und das sind wir nicht von ungefähr.
Geschichten bringen Struktur in das Chaos der Zeitläufte. Sie trösten, sie präsentieren Lektionen für die Zukunft, sie verstärken eine bestimmte Ordnung, sie geben uns Helden, an denen wir uns aufrichten, Schurken und Verräter, die wir verdammen können.
Der Gedanke, dass viele Entwicklungen ungreifbar sind, dass Politik und Geschichte meistens chaotisch verlaufen, dass wir oft nur wirbelnde Blätter im Wind sind, diesen Gedanken finden wir oft zu beängstigend.
So tragen wir unsere Geschichten mit uns herum, oft ein Leben lang. Nehmen wir nur einmal die beiden Jahreszahlen, derer wir in den vergangenen Monaten so oft gedachten: 1914 und 1989. Wie strotzten all die Soldaten und Offiziere zu Beginn des Sommerkriegs von 1914 vor Stolz, wie lebten sie, und sei es auch nur für einen Moment, in einem Rausch aus glänzenden Uniformen und antiquierten Helmen. Mit dem Mittelalter im Kopf marschierten sie so in die Hölle eines modernen Kriegs.
Oder 1989, die amerikanische Geschichte von Ronald Reagan, der Gorbatschow zurief »Tear down this wall«. Und tatsächlich, kurz danach fiel die Berliner Mauer, so wie die Mauern des biblischen Jericho. Solch eine Geschichte ist doch unverwüstlich, besonders für die Amerikaner, denn schließlich ist es Politik und Religion zugleich. Kein Mensch wagt es da noch, Fragen zu stellen.
Und wir? Sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden greifen wir im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise seit Monaten begierig auf die Geschichte vom Kalten Krieg zurück, mit Wladimir Putin in der Rolle des wiedergeborenen Josef Stalin.
Ob aber all diese alten Geschichten noch zur neuen Wirklichkeit passen, die Frage stellen wir uns selten.
Ich möchte drei dieser Geschichten betrachten, Geschichten, die im vergangenen Jahr in Europa den Ton bestimmt haben. Unbemerkt bilden sie die tiefe, treibende Kraft hinter der öffentlichen Meinung und den Prioritäten der Politiker, sowohl hier in Deutschland, als auch in meinem Heimatland. Doch genug der Theorie, ich fange an.
Es wird weniger, wenn ich ehrlich bin, aber trotzdem, auch jetzt spielt die klassische Fabel von der Grille und der Ameise noch eine wichtige Rolle. Die Grille, die den ganzen Sommer nur tanzte und sang, während die Ameise Vorräte für den Winter heranschleppte. Es wird kalt, die Grille bekommt Hunger, aber die Ameise weigert sich, ihr zu helfen: Dann hättest du eben auch arbeiten müssen. Die Tür bleibt zu. Mit den Worten Joost van den Vondels: »Die Grille bekommt nun gerechte Strafe, bekommt Vermaledeiung.«
Ach, wie erkannten wir Deutsche und Niederländer uns in dieser Geschichte wieder. Denn so verhält es sich doch: Während wir hier in Deutschland und in den Niederlanden hart arbeiten, bis ins hohe Alter, tollen die Südländer fröhlich herum und verschwenden unsere Spargroschen. Den Gürtel enger schnallen, das müssen die Grillen, und lernen, was Disziplin bedeutet!