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1. Auflage März 2014
© 2014
art&words – verlag für kunst und literatur
Zerzabelshofstraße 41, D-90480 Nürnberg
Homepage: http://art-and-words.de
Twitter: http://twitter.com/#!/art_and_words
Facebook: http://www.facebook.com/artandwords
Gesamtgestaltung: art&words
Umschlaggestaltung: Andreas Pohr
Autorenfotos: Andreas Pohr
ISBN 978-3-943140-42-2
Auch als Print erhältlich.
Inhalt
Dirk Kruse: Geheimnisse andeutungsweise enthüllt
Entstehungsgeschichte Wortwerk Erlangen
Biljana Dimitrijević
Check-in
Nataša Dragnić
Mondgesichter
Valeria Fischer
Unter der Haut:
Aksana
Jahresringe
Erinnerungskisten
Johannes Frey
Gestern war Ragnarökr
Roland Halbig
was das rauschen ist
wir sind
um der Möglichkeiten
Anschläufungen auf Jakobswegen
wir tanzen wie die Sternenwolken um die nächtlichen Dächer
Carolin Hensler
Scheinriesen
Rebekka Knoll
Kirschkaugummifäden
Nita Paul
… was mit Marshmallows und Honig
Michael Pietrucha
Erinnerungen an den Fall von Babel
Vergissmeinnicht
Nach Saladin
Der Wanderer
Dann das Kind
Anne D. Plau
Die Kraft der Welle
Andreas Pohr
Das Blümchen und der Rittersmann
Johann Roch
Zirkeltage
Delphinariumsromantik
Irrlichter
Absinth
Arno Schlick
Zugverspätung: Bahnpoetik
zebrafischchenembryogedicht
Zum ersten Mal
chinesisch essen
Frühling ohne Bienen
Frühling ohne Bienen II
Frühling ohne Bienen III
im nu
YOLO
ALT
Sauerstoff
Thomas Georg Werner
Bewusstsein Erlangen
Marlene Wieczorek
Dunkelviolett, fast schwarz
Stefan Winter
Projekt: Leben
Anja Zeltner
Wir treffen uns am Fischteich
Danksagung
Dirk Kruse
Geheimnisse andeutungsweise enthüllt
Schreiben ist eine ziemlich einsame und ungewisse Tätigkeit. Besonders wenn man als junger Autor noch am Anfang steht. Erste Gedichte, Erzählungen, Romanfragmente oder Essays sind entstanden, doch haben diese Texte auch literarische Qualität? Können sie sich wirklich sehen und lesen lassen? Sind sie es wert, veröffentlicht und gedruckt zu werden? Zwischen Hybris und Selbstzweifeln hin- und hergerissen, im Ringen um einen originellen Ton und der Angst vorm Epigonentum, mit keinem anderen Vergleich als dem der einschüchternden Weltliteratur im eigenen Bücherregal oder in der Bibliothek ist es schwer, sich Klarheit über seinen Weg als Schriftsteller zu verschaffen.
Was hätte ich als junger Mann, der sich immer wieder im Schreiben fiktionaler Texte übte, aber erst mit 43 Jahren seinen ersten Roman veröffentlichte, darum gegeben, wenn es damals schon in der Region eine Autorengruppe wie Wortwerk gegeben hätte. So manchen Irrweg hätte ich mir im Kreise kritischer Kameraden ersparen und so manchen Ansporn erhalten können. Doch so eine Vereinigung existierte Anfang der Neunziger Jahre noch nicht und ich kam auch nicht auf den Gedanken, sie selbst zu gründen. Aber die beiden Germanistikstudentinnen Carolin Hensler und Rebekka Knoll, nicht nur am Verfassen wissenschaftlicher Prosa, sondern auch am Schreiben literarischer Texte interessiert, kamen darauf. Im Frühjahr 2008, am Rande eines eher langweiligen Germanistikseminars in Erlangen, beschlossen sie, eine offene Textwerkstatt für Gleichgesinnte zu gründen. Man traf sich wöchentlich ganz standesgemäß im Kaffeehaus oder noch bohèmehafter im Schlossgarten im Grase sitzend, um Manuskripte vorzustellen, zu beurteilen und zu verbessern – und zwar ohne Vereinsstrukturen, sondern als demokratische Gruppe unter Gleichen. In Absprache mit der im Jahr 2000 von dem preisgekrönten Lyriker Christian Schloyer in Erlangen gegründeten, aber mittlerweile nach Nürnberg umgezogenen Autorenvereinigung Wortwerk Nürnberg, nannte man sich Wortwerk Erlangen und traf sich in wachsendem Kreis fortan in den Gruppenräumen des E-Werks. Die derzeit 17 Autoren umfassende Gemeinschaft ist in zahlreichen Lesungen an die Öffentlichkeit getreten, unter anderem mehrfach auf dem Erlanger Poetenfest, und zu einem festen Bestandteil der fränkischen Literaturszene geworden. Die meisten der jungen Schriftsteller haben mittlerweile eigene Texte veröffentlicht, mit Nataša Dragnić befindet sich sogar eine internationale Bestsellerautorin unter ihnen. Im sechsten Jahr ihres Bestehens, kurz vor dem verflixten siebten Jahr, wird es nun Zeit, die Bandbreite von Wortwerk Erlangen in einer eigenen Anthologie zu präsentieren.
Mit „Zwischen den Regalen, ein Geheimnis“ hätte man sich keinen appetitanregenderen Titel einfallen lassen können. Denn Geheimnisse, das weiß ich als Krimiautor und Kritiker genau, besitzen eine ungeheure Anziehungskraft auf neugierige Leser. Dabei müssen es nicht nur finstere Geheimnisse sein, wie sie etwa in Marlene Wieczoreks Verratsgeschichte „Dunkelviolett, fast schwarz“ oder in Rebekka Knolls Mordmutmaßung „Kirschkaugummifäden“ auch mit den Mitteln der Suspense-Literatur beschrieben werden. Geradezu existenziell etwa wird das Geheimnis in der Erzählung „Gestern war Ragnarökr“ des Beowulf-Übersetzers Johannes Frey, bei dem auf einem Provinzbahnhof der Mythos unbarmherzig in den Alltag einzieht. Selbstironisch dagegen präsentiert sich das Geheimnis in Stefan Winters absurden Kurzdrama „Projekt: Leben“, bei dem der doppelt auftretende Autor Stefan Winter in einer Talkshow des Jahres 2027 sein noch ungeschriebenes Gesamtwerk interpretiert. Und geheimnisvolle Rollenprosa erleben wir in den Kurzgeschichten „Erinnerungen an den Fall von Babel“ von Michael Pietrucha, wo der Ich-Erzähler in die Figur eines Kindes schlüpft, und in „Zirkeltage“ von Johann Roch, der einem empathieunfähigen jugendlichen Gewalttäter die Stimme leiht. Beide Autoren geben auch lyrische Kostproben, die mit versteckten Bezügen zu Poeten wie Hesse und Rilke aufwarten – so wäre etwa ein Gedicht wie Rochs „Delphinariumsromantik“ ohne Rilkes „Der Panther“ kaum denkbar. Rätselhafte Verweise auch bei den anderen drei Wortwerk-Lyrikern dieser Anthologie: Hermetische Heimlichkeiten finden sich bei Roland Halbig, wenn er beispielsweise von „Anschläufungen auf Jakobswegen“ fabuliert. Gereimte Strophen werden in Andreas Pohrs Märchen „Das Blümchen und der Rittersmann“ ausgebreitet. Und entschlüsselbare Enigmen zeigen die der visuellen Poesie verpflichteten Wortbilder von Arno Schlick.
Um Geheimnisse geht es letztendlich auch in den Erzählungen der übrigen acht Autoren, sofern man sie im Sinne Anton Tschechows begreift. Der große russische Menschenschilderer schrieb: „Das wahre und interessante Leben eines menschlichen Wesens spielt sich im Verborgenen wie unter dem Schleier der Nacht ab. Jede persönliche Existenz ist ein Geheimnis.“ Geheimnisumwitterte Existenzen sind natürlich die Liebenden, und hier ganz besonders die problematisch Liebenden. So wie der etwas peinliche Mann, der sich in eine fremde Frau verliebt, die gerade den Kot ihres Hundes entsorgt in Anja Zeltners Geschichte „Wir treffen uns am Fischteich“, der, man ahnt es, kein Happyend beschieden ist. Ebenfalls ihren Schwarm verfehlt die Ich-Erzählerin in Carolin Henslers Kurzgeschichte „Scheinriesen“, die stundenlang einsam am Erlanger Schlossplatz sitzt und erkennen muss, dass selbst ihr dort errichtetes Trostgebäude nur ein Kartenhaus ist. Und Biljana Dimitrijevićs Protagonistin Alba hat zwar einen Freund, doch trifft sie ihn in der Lovestory mit Hindernissen namens „Check-in“ zwischen Düsseldorf und Madrid einfach nicht an. Ebenfalls eine kriselnde Fernbeziehung beschreibt Valeria Fischer im ersten Teil ihres Triptychons der Gefühle „Unter der Haut“, in dem sie in hochpoetischen Bildern das Gefühl der Einsamkeit variiert. Regelrecht gescheitert sind die Liebesbeziehungen bei Nita Paul in „…was mit Marshmallows und Honig“ und bei Anne D. Plau in „Die Kraft der Welle“. Wie Anja Zeltner schlüpfen die Erzählerinnen in männliche Protagonisten, die hier ihre großen Lieben verloren haben. Bei Nita Paul fühlt sich der verlassene Ich-Erzähler so unbehaust, dass er zu extremen Verhaltensweisen greift. Und bei Anne D. Plau lernt ein wellenerforschender Meereskundler, dass die See auch eine große Metapher sein kann, wie schon von Herman Melville treffend beschrieben: „Das Meer, dessen sanften, furchtgebietenden Wogen von einer darunter verborgenen Seele künden, birgt ein Geheimnis – aber welches?“
Geheimnisse gibt es auch in Nataša Dragnićs Liebesgeschichte „Mondgesichter“ über zwei junge Menschen mit Downsyndrom. Warum versteckt der Vater seine behinderte Tochter? Und mehr den Geheimnissen der fränkischen Seele auf der Spur, gespickt mit viel Lokalkolorit, ist der Student in Thomas Georg Werners Auszug aus seinem noch unveröffentlichten Roman „Bewusstsein Erlangen“.
In den Buchdeckeln von „Zwischen den Regalen, ein Geheimnis“ steckt definitiv mehr als ein Geheimnis. Nicht jedem wird jede Geschichte und jedes Gedicht gefallen, aber allen Texten darf man Sprachkraft und Formwillen attestieren. Man merkt ihnen an, dass sie in der kritischen Auseinandersetzung mit Gleichgesinnten gewachsen sind und Veröffentlichungsreife erlangt haben. Diese Anthologie von Wortwerk Erlangen bietet einen eindrucksvollen Querschnitt durch die junge Literatur in Franken.
Dirk Kruse, Autor und Kritiker
Entstehungsgeschichte
Wortwerk Erlangen
Das Wortwerk Erlangen entsteht 2008 durch ein zufälliges Treffen. Auf dem Flur der Philosophischen Fakultät warten zwei Studentinnen, Carolin Hensler und Rebekka Knoll, auf den Beginn ihres Germanistik-Kurses. Sie kommen ins Gespräch und entdecken ihre beiderseitige Leidenschaft für das kreative Schreiben. Das Schreiben, das befinden die Studentinnen einstimmig, kann eine einsame Angelegenheit sein, und es wäre schön, sich ab und zu mit Gleichgesinnten darüber auszutauschen. Die Idee für eine gemeinsame Textwerkstatt entsteht. Nachdem Carolin und Rebekka eine halbe Stunde lang vor der falschen Tür auf den Seminarbeginn gewartet haben, bauen sie ihre Pläne schließlich während eines langweiligen Vortrags zum 125-jährigen Bestehen der Erlanger Germanistik im richtigen Kursraum weiter aus.
Über Aushänge an den schwarzen Brettern der Universität findet sich ein Grüppchen aus Schreibinteressierten zusammen, das sich einmal pro Woche im Schlossgarten und der Chocolaterie in der Schuhstraße zum kreativen Austausch trifft. Es wird auf Picknickdecken im Gras liegend oder bei einer Tasse Heißer Schokolade im Café sitzend gelesen, kritisiert und über den Literaturbetrieb gefachsimpelt. Die Gruppe wächst zusammen, Freundschaften entstehen.
Rund ein halbes Jahr später erhält die bis dato namenlose Autorenvereinigung ihre bis heute gültige Bezeichnung. Carolin und Rebekka lernen in einem universitären Schreibkurs den Nürnberger Lyriker Christian Schloyer kennen. Christian erfährt von der noch jungen, aber stetig wachsenden Gruppe. Er bietet den beiden Studentinnen an, ihre Werkstatt nach der Textwerkstatt „Wortwerk Erlangen“ zu benennen, die im Jahr 2000 in Erlangen gegründet wurde, inzwischen aber nach Nürnberg umgezogen ist. Das Angebot wird dankend angenommen, das junge „Wortwerk Erlangen“ vernetzt sich mit „Wortwerk Nürnberg“ und zieht in die Gruppenräume des E-Werks um.
In den folgenden Jahren wächst die Autorengruppe stetig weiter. Gut besuchte Lesungen im E-Werk und in der Stadtbibliothek sowie die wiederholte Teilnahme am Erlangener Poetenfest fördern ihren regionalen Bekanntheitsgrad. Heute ist das Wortwerk Erlangen eine feste Institution der mittelfränkischen Kulturlandschaft. Die Kurzgeschichten und Romane seiner Mitglieder erscheinen in Groß- und Kleinverlagen regional, deutschlandweit und darüber hinaus.
Im April 2014, sechs Jahre nach seiner Gründung, feiert das Wortwerk Erlangen mit dieser Anthologie sein erstes Jubiläum.
Biljana Dimitrijević
Dr. rer. nat. Biljana Dimitrijević wurde in Kragujevac, Serbien geboren. Nach dem erfolgreich abgeschlossenen Studium absolvierte sie ihre Magisterarbeit und abschließend das Promotionsstudium an der Ruhr-Universität Bochum zum Doktor der Naturwissenschaft. Sie entdeckte ein Protein und die „richtige“ Liebe zum Schreiben – schreibt Romane, Kurzgeschichten und Gedichte. Bis heute veröffentlichte sie zahlreiche wissenschaftliche Texte.
Check-in
Die letzten Wochenenden hatte Alba in Barcelona verbracht und tagsüber auf der Plaza Katalonia Tauben gefüttert.
An diesem Freitagnachmittag war es sehr warm, feucht, und es roch ganz anders als in Düsseldorf. Irgendwie war alles ganz anders: Er wartete nicht auf sie, hatte nur eine kurze Nachricht geschrieben, dass er schnell nach Madrid musste und nicht erreichbar war. Alba nahm ein Taxi und fuhr zu dem ihr vertrauten Hotel mit den vielen Bildern und Lichtern. Sie war angespannt, flatterig. Es war das erste Mal in ihrer Fernbeziehung, dass sie allein in Barcelona übernachtete. In ihrer Schlaflosigkeit entschied sie sich, am nächsten Tag nach Madrid zu fahren.
Alba war noch nie in Madrid gewesen, hatte zwar gehört, dass es da schön sei. Aber ihm in einer Millionenstadt ohne Wegweiser zu begegnen, wäre genauso wahrscheinlich, wie einen billigen Fummel auf der Königsallee zu finden.
Am nächsten Morgen saß Alba im Zug, verträumt, und las in ihrem Buch – sie hatte immer ein Buch dabei in ihrer Tasche. Still war es, zu früh für die gewöhnliche Hektik. Sie zog die Schuhe aus und streckte gemütlich die Beine auf den gegenüberliegenden Sitz aus. Ihr Kopf lehnte teilweise am warmen Polster und teilweise am kalten Glas. Sie nahm einen Apfel aus der Tasche und biss hinein, schaute dabei aus dem Fenster, ließ Dörfer und Palmen hinter sich. Das geöffnete Buch lag auf ihrem Schoß.
In Zaragossa stieg ein Mann ein und fragte: „Entschuldigung, ist hier noch frei?“
Alba nahm langsam die Füße herunter, fand die Schuhe unter dem Sitz und sagte: „Bitte.“
Sie versuchte weiterzulesen, ihr Blick flog über die Buchstaben, ihre Gedanken flogen mit. Der Mann ihr gegenüber zeichnete. Dabei schaute er sie stets an. Sie errötete, schloss befangen die Augen, um sie dann gleich wieder zu öffnen. Der Zeichenblock des Mannes lag auf seinem Schoß, Etui und Bleistifte in verschiedenen Formen, Größen und Stärken auf dem Sitz neben ihm. Die Vorstellung, er würde sie zu einem Kunstwerk machen, ausgerechnet hier im Schnellzug nach Madrid, er, so gefährlich gutaussehend, gefiel ihr, berührte sie sogar. Es wäre das schönste Kompliment, das sie jemals bekommen hatte, wortlos und unverhofft. Aufgeregt nahm sie aus ihrer Kosmetiktasche einen Spiegel, überprüfte ihr Aussehen. Was konnte ihn inspiriert haben: die langen Wimpern, die vollen Lippen, rot wie reife Kirschen, die Nachdenklichkeit oder leichte Traurigkeit? Oder etwas völlig anders, etwas, das ihr selbst unwichtig erschien; etwas, das man nicht sehen, auch nicht hören konnte; etwas aus einer anderen Unendlichkeit, aus dem Chaos; etwas, das nur er hatte erkennen können – er, der Künstler.
„Das Genie beherrscht das Chaos“ – so stand es im Regal, auf einem weißen Stein, in einem Raum, der nicht immer aufgeräumt aber immer hundertprozentig sauber war, in dem die Fotos von ihnen immer noch hingen. In der Nase der angenehme Kaffeegeruch. Die erste Berührung, der erste Kuss. Das nicht aufgegessene Frühstück, erste Ängste und Erkenntnisse, das lange Warten am Fenster, der kräftige Wind, ein zerbrochener Regenschirm, dunkel wie die Nacht ohne Mondschein, ein Möchtegernschneeball. Das erste Lachen und weiche Knie und große Freude. Die ersten Tränen auf den Lippen, salzig, die letzten auch. Ihre Gespräche, flehend und fliehend.
Eine laute Stimme aus dem Lautsprecher verkündete: “Proxima parada, Madrid.“