G. BRAUN
Über den Autor
Alexander Emmerich, Jahrgang 1974, lebt in Mannheim und Paris. Während er im Zug zwischen beiden Städten pendelt, schreibt er Kriminalliteratur, Sachbücher, Drehbücher und Hörbücher. Darüber hinaus arbeitet Alexander Emmerich im Bereich der digitalen Kommunikation.
Impressum
G. BRAUN
© 2013 G. Braun Telefonbuchverlage GmbH & Co. KG, Karlsruhe
Lektorat: Andrea Hahn, Literaturbüro am Cottaplatz, Marbach a. N. Umschlaggestaltung: Röger & Röttenbacher GbR, r2 Büro für Gestaltung, www.roeger-roettenbacher.de
Satz und Herstellung: post scriptum, www.post-scriptum.biz
Druck: CPI Ebner & Spiegel, Ulm
Umschlagbild: Millennium Images / LOOK-foto
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.
ISBN 978-3-7650-2101-5
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Mannheim ist wie New York
– nur flacher.
Olivia von Sassen
Wut ist heftiger als Ärger und schwerer zu beherrschen als Zorn. Sie ist eine extreme Gefühlswallung, eine impulsive und aggressive Reaktion.
Wut ist mächtig. Wut ist gewaltig. Wut kann Menschen zu Taten verführen, an die sie niemals gedacht hätten. Wut ändert das Wesen eines Menschen und untergräbt die Vernunft.
Wut stimuliert. Sie motiviert und treibt an. Sie kitzelt die letzten Gefühle aus einem heraus, aus den dunkelsten Ecken der Seele. Ob fromm oder gehässig, ob gutmütig oder verletzt, ungehemmt und mit blanker Emotion folgt der Mensch dem Willen der Wut.
Wut ist ein Gefühl der Ohmacht und der Hilflosigkeit. Wer sich nicht geschätzt oder respektiert, wer sich ausgenutzt oder betrogen fühlt, wird wütend, schnell und massiv, seine Wut bricht sich Bahn. Denn Wut ist ein starkes, ein heißes Gefühl, wen sie überkommt, der wird blind vor Wut. Er verliert die Kontrolle über sich und seine Taten. Wutentbrannt wird mancher zur Bestie.
Wut ist neben Freude, Angst und Trauer eine der grundlegenden Emotionen des Menschen. Sie erfüllt einen wichtigen Zweck, indem sie Menschen vor Verletzungen schützt.
In jener Nacht waren zwei Menschen aufeinander wütend. Der eine, weil der andere nichts tat, und der andere, weil er nichts tun konnte. Angespannt und voller Angst hatten sie sich am verabredeten Ort getroffen. Doch als sie sich gegenüberstanden, erkannten sie sich in ihrem Innersten und Wut schäumte in ihnen hoch. Fassungslos standen sie sich gegenüber. Der eine war genauso verletzt wie der andere. Es genügten wenige Worte, und aus der Fassungslosigkeit wurde Hilflosigkeit, aus der Hilflosigkeit Ohnmacht, aus der Ohnmacht Wut. Für Verstand war kein Platz mehr. Nach und nach verloren beide die Kontrolle über ihr Handeln. Als der eine schließlich den anderen verhöhnte, rastete dieser aus.
In diesem Augenblick entwickelte er übermenschliche Kräfte, fühlte sich unverwundbar. Und entschlossen. Seine Hände wurden zu stählernen Instrumenten, die nicht mehr der Vernunft folgten. Angetrieben aus dem tiefsten Inneren seines Herzens schlug er auf sein Gegenüber ein. Noch nie hatte er einen Mensch geschlagen, doch als seine Faust dessen Gesicht traf, fühlte es sich gut an. Unglaublich gut. Er genoss es. Er baute sich vor seinem Opfer auf und schlug zu, drosch auf es ein. Mit der Rechten holte er aus und donnerte seine Faust mit aller Gewalt gegen dessen Schädel.
Winselnd lag der eine am Boden und machte einen tödlichen Fehler: statt seinen Peiniger zu beruhigen, reizte er ihn. Das war schon immer sein Weg aus der Klemme gewesen. In der Schule, in der Jugend, in der Arbeitswelt. Und auch jetzt. Er wusste genau, wie er den anderen mit Worten treffen konnte. Und er traf ihn messerscharf mitten ins Herz.
Der andere ließ sich das nicht bieten. Gekränkt von den Worten des einen und voller Angst griff er wie eine Maschine nach ihm. Seine Bewegung mag langsam ausgesehen haben, doch innerlich brodelte es in ihm. Sein Herz schlug laut, so als würde es Kanonenkugeln abschießen. Der Schweiß lief ihm von der Schläfe.
Kräftig umklammerten seine Finger den Hals des einen. Warm fühlte sich dessen Haut an. Warm und weich. Der andere empfand sich seinem Opfer sehr nahe. Dann drückte er zu. Lange und mit großer Kraft.
Der eine schlug noch um sich, trat nach dem anderen. Doch seine Kräfte schwanden. Der andere drückte immer weiter zu. Immer ein wenig mehr, immer ein wenig kräftiger …
Grotesk und düster sah alles aus. Schatten huschten mit hoher Geschwindigkeit an ihrem Blick vorbei. In allen Grauschattierungen bewegte sich die Landschaft vor ihren Augen, sodass sie kaum Details erkennen konnte. Ihr Kopf lehnte müde an der Scheibe, ihre Augen waren halb geöffnet. Vor ihnen tänzelten ihre schwarzen Locken, die mit der dunklen Landschaft draußen zu einer bizarren Szenerie verschwammen. Das spiegelnde Licht des Zuges blendete sie aus, ihre Augen waren ganz auf die Ferne gerichtet.
Ihre Gedanken auch.
Goodbye, Berlin. Ich werde dich vermissen. Hoffentlich ist mein Schritt nach Mannheim der richtige, nach all dem, was ich in den letzten Monaten in Berlin erlebt habe. Olivia von Sassen saß im ICE von Berlin nach Mannheim, wo sie am nächsten Morgen ihre Arbeit als Kriminalhauptkommissarin bei der Mordkommission aufnehmen würde. Im Zug war es warm, beinahe zu warm, doch Olivia fröstelte. Sie redete sich ein, dass sie wegen ihrer neuen Stelle nervös sei, doch es war noch etwas anderes. Standen ihr schwierige Zeiten in Mannheim bevor? War ihr Frösteln eine dunkle Vorahnung? Sie glaubte nicht an so etwas. Vielleicht war es auch nur eine Reaktion auf den ausbleibenden Sommer und die schweren Regenfälle der letzten Tage. Sie sehnte sich nach Sonne.
Die grotesken Schatten vor ihren Augen hatten sich mittlerweile zu beleuchteten Wolkenkratzern verändert. Licht erhellte die Nacht und holte Olivia aus den Gedanken an die noch ferne Zukunft wieder zurück in die Gegenwart. Der Zug hatte Frankfurt am Main erreicht.
Hier hielt der ICE ungefähr 10 Minuten. Das reichte den meisten Rauchern, um aus dem Zug zu eilen und ihre Sucht zu befriedigen. Olivia beobachtete sie und war froh, das Rauchen vor Jahren aufgegeben zu haben.
Ihr Sitznachbar bemerkte, dass Olivia nicht weiter aus dem Fenster starrte und sprach sie an. Sie nahm seine Worte nicht wirklich wahr, doch falls das ein Flirtversuch sein sollte, wollte sie den sofort unterbinden. Sie lächelte ihm flüchtig und bewusst aufgesetzt zu, drehte den Kopf weg und richtete ihren Blick wieder nach draußen.
Die flache Landschaft rund um Berlin hatte sie noch bei Tageslicht gesehen, inzwischen war die Sonne untergegangen. Nachdem sie die Großstadtlichter Frankfurts hinter sich gelassen hatten, war es düster, teilweise sogar stockdunkel. Nur das schwache Licht des Neumondes beleuchtete hin und wieder ein zufälliges Detail der Umgebung.
Seit Stunden blickte Olivia aus dem Fenster. Normalerweise nutzte sie die Zeit im Zug für etwas, das sie als sinnvoll ansah. Sie las Berichte, surfte auf ihrem iPad oder unterhielt sich mit anderen Reisegästen. Heute war alles anders. Der Zug war beinahe leer. Zu Beginn ihrer Fahrt hatte sie Ihre E-Mails gecheckt und sich bei Facebook eingeloggt. Normalerweise war sie ständig online, aber seit sie im Zug saß, hatte sie kein Interesse an der digitalen Welt mehr. Sie hatte sich wieder ausgeloggt und war auch nicht daran interessiert, ein E-Book zu lesen oder sich die neuesten Angebote auf Zalando anzuschauen. Viel lieber blickte sie in die Ferne der Landschaft und träumte vor sich hin.
Ein kurzer Blick in die Runde hatte ihr gezeigt, dass sie scheinbar die Einzige war, die die Landschaft zu genießen schien. Die restlichen Fahrgäste waren mit Excel-Tabellen, E-Mails und anderer Arbeit beschäftigt. Keiner schaute aus dem Fenster und beobachtete, wie Dörfer, Wiesen und Wälder vorbeirauschten. Olivia erinnerte sich an die Zeit als Kind, als sie mit ihren Großeltern in die Alpen in den Urlaub gefahren war. Sie waren zusammen in einem Zugabteil mit sechs Sitzen gesessen und hatten sich mit den anderen Fahrgästen unterhalten, hatten das Essen und Geschichten geteilt. Es war ein buntes, lebhaftes Miteinanderreisen gewesen. Heute war der Zug ein mobiles Büro. Jeder saß eingekerkert in seiner Ecke und beschäftigte sich mit sich und seiner digitalen Welt.
Wie schnell sich alles verändert hatte.
Während ihr Blick aus dem Zugfenster und über die Landschaft schweifte, sinnierte sie über sich selbst. Ihre Berliner Vergangenheit holte sie ein. Sie hatte das Gefühl, dass sie eigentlich gerade erst nach Berlin gezogen war und nun verließ sie die Stadt schon wieder. War es richtig gewesen, die Hauptstadt hinter sich zu lassen, nachdem sie dort fünf erfolgreiche Jahre bei der Mordkommission verbracht hatte? Einige ihrer Freunde hatten den Kopf geschüttelt, als sie ihnen von ihrer Versetzung erzählt hatte.
»Mein Gott, wer zieht denn freiwillig nach Mannheim!«, hatte die allgemeine Meinung gelautet. Na ja, ganz freiwillig zog Olivia ja nicht nach Mannheim, aber das behielt sie für sich. Das hatte sie niemandem erzählt, und das würde sie auch in Zukunft niemandem erzählen. Es wird schon richtig sein, sagte sie sich. Nach alldem, was geschehen war.
In Gedanken rief sie sich noch einmal ihr Berlin herbei. Sie erinnerte sich an ihr letztes Wochenende in der Hauptstadt, an ihre Berliner Wohnung in der Jablonski-Straße am Prenzlauer Berg, an ihre Freunde, an Westberliner Kneipen und Ostberliner Clubs. Was vor ihr lag, blendete sie für den Moment aus.
Während sie in Erinnerungen schwelgte, bemerkte sie nicht, dass der Zug zum Stehen gekommen war. Erst die Durchsage des Schaffners brachte sie in die Gegenwart zurück.
»Sehr geehrte Fahrgäste. Wegen einer Streckenfunktionsstörung wird dieser Zug über Heidelberg umgeleitet. Daraus ergibt sich eine Verzögerung von zehn Minuten. Wir bitten um Ihr Verständnis.«
Olivia seufzte leise. Hoffentlich blieb es bei zehn Minuten, das könnte sie gerade noch hinnehmen. Schon wenige Minuten später fuhr der ICE mit gedrosselter Geschwindigkeit weiter und erreichte den Mannheimer Rangierbahnhof, der wie eine Einflugschneise vor der Stadt lag und einer der leistungsstärksten Bahnhöfe Europas war. Er gehörte im Grunde nicht zu Mannheims Hauptbahnhof, wie das andernorts zum Teil üblich war, sondern bildete ein eigenständiges Areal der Bahn, das hauptsächlich dem Güterverkehr diente.
Wahrscheinlich hätte mein kleiner Neffe hier viel Spaß mit all den Waggons und Lokomotiven. Das muss ein Traum für Jungen sein.
Olivia versuchte sich den Rangierbahnhof in seiner ganzen Größe vorzustellen. Rings um ihn befand sich kaum ein Stück Zivilisation. Mannheims Häuser lagen weit entfernt. Der Rangierbahnhof war umgeben von Wiesen und Feldern der flachen Rheinebene, in deren Herzen Mannheim lag. Überall waren Weichen, sodass sich an allen Orten des Rangierbahnhofs neue Gleise von den alten abspalteten. Sie musste unweigerlich an einen vielköpfigen Drachen denken, aus dessen abgeschlagenen Köpfen zwei neue wuchsen.
Jetzt fuhren sie besonders langsam. Olivia wollte schon fluchen, weil der Zug kurz vor dem Erreichen des Ziels zum Erliegen zu kommen schien. Wenn das der Fall war, würde sie sehr spät ins Bett kommen. Morgen wollte sie aber fit und wach sein, um bei ihren neuen Kollegen und ihrem neuen Chef einen guten Eindruck zu hinterlassen. Der erste Eindruck zählte bekanntlich gewaltig, sie wusste nur zu gut, dass man schnell in eine Schublade gesteckt werden konnte.
Der Neumond kam hinter ein paar Wolken hervor und schickte sein mattes Licht auf den Rangierbahnhof nieder. Was er nicht leisten konnte, schafften hunderte von Laternen: Sie strahlten mit voller Kraft und verliehen dem Rangierbahnhof etwas Märchenhaftes und Verträumtes. Das Licht ermöglichte Olivia, sich die Wagen und Lokomotiven, an denen der ICE vorbeirollte, genauer anzusehen.
Sie rollten gerade an einem Waggon der langen, roten S-Bahnen des Verkehrsverbundes Rhein-Neckar vorbei, als Olivia ein paar hektische Bewegungen darin zu bemerken glaubte. Sie kniff ihre Augen zusammen und starrte genauer hin. Hatte sie sich das nur eingebildet?
Ihr Zug rollte langsam weiter. Gleich würde die verdächtige Stelle verschwinden. Sie schaute noch einmal angestrengt in die Richtung, in der sie die Bewegungen vermutete. Es war nichts zu erkennen. Alles war ruhig. Plötzlich schnellten hinter einem der S-Bahn-Sitze zwei Menschen vom Boden hoch. Olivia zuckte zusammen. Der vordere Mann schien für den Bruchteil einer Sekunde Olivia aus der Ferne tief in die Augen zu sehen. Der hintere ließ seinen Blick nicht von seinem Opfer. Er hatte diesem beide Hände um den Hals gelegt und drückte mit aller Gewalt zu. Dann verschwanden die beiden. Olivia drückte sich ans Fenster, um die S-Bahn nicht aus den Augen zu verlieren.
Sie bekam Angst. Hatte sie gerade beobachtet, wie ein Mensch einen anderen umbrachte? Das konnte nicht sein. Sie drückte sich noch stärker ans Fenster.
Mist! Es ist nichts mehr zu sehen.
Ihre nächste Reaktion war es, ihren Sitznachbarn anzusprechen, der nun aber seinerseits offenbar keinen Kontakt mehr mit Olivia wünschte.
»Haben Sie das auch gesehen?«
Mit typischer Berliner Schnauze bekam sie zu hören, was sie in den letzten Jahren immer wieder gehört hatte: »Ick hab nischt jesehen.«
Langweiliger Idiot! Wenn dort wirklich ein Kampf vor sich geht, muss ich einschreiten und Schlimmeres verhindern!
Sie war hellwach. Zu einem Mord durfte es nicht kommen. Nicht, wenn sie es verhindern konnte.
Olivia musste so schnell wie möglich aus dem Zug und zur S-Bahn gelangen. Schnell schnappte sie sich ihre Lederjacke und ihren Rucksack.
»Lassen Sie mich bitte durch«, bat sie ihren lakonischen Sitznachbarn.
Als dieser sich nicht regte, blickte sie den Berliner auffordernd an. Der bewegte sich nur ein wenig. Olivia dauerte es zu lang.
Mach mir Platz, los! Ich muss ein Unglück verhindern, während du hier dein Phlegma auslebst!
Sie sprang über ihren Sitznachbarn hinweg.
»Sie lässt wohl alles kalt.«
Der Mann begann zu schimpfen, doch Olivia rannte so schnell, dass sie ihn schon nicht mehr hörte. Das Berlinerische entschwand ihrem Ohr, als sie durch den Großraumwagen bis zum Ausgang hetzte und die Notbremse zog. Für eine Sekunde war sie über sich selbst erstaunt. Die Notbremse ziehen… das hatte sie sich als Kind immer gewünscht. Das Quietschen des Zuges und der plötzliche Ruck, der den ICE zum stehen brachte, holte sie wieder in die Gegenwart.
Mach schon! Halt endlich an, du blöder Zug!
Sobald der ICE zum Stehen gekommen war, öffnete Olivia die Tür und sah sich um. Die vielen Lichter, die den Rangierbahnhof ausleuchteten, erleichterten ihr die Orientierung. Gewohnheitsgemäß griff sie an ihren Gürtel, doch ihr Griff ging ins Leere. Ihre Berliner Dienstwaffe hatte sie schon abgegeben, und eine neue Waffe hatte sie noch nicht. Es wird so gehen müssen.
Sie holte tief Luft, schmiss ihren Rucksack aus dem Zug und sprang hinterher.
Autsch. Diese Schuhe sind dafür nicht gemacht. Wahrscheinlich hab ich sie jetzt ruiniert.
Sie knickte um, als ihre Füße den Boden berührten und rollte sich auf den harten Steinen ab. Im Fernsehen sah das immer so elegant aus. Schnell prüfte sie, ob ihre heißgeliebte Jacke Schaden genommen hatte.
Gott sein Dank! Sie ist noch in Ordnung.
Hinter Olivia brach ein Tumult aus. Stimmen riefen durcheinander. Sie hörte aus der Ferne eine Durchsage. Doch das alles kümmerte sie nicht. Mit ihren Gedanken war sie ganz und gar bei den Männern, die in der S-Bahn gekämpft hatten.
Während sie über das rötliche Geröll zur S-Bahn rannte, holte Olivia ihr Smartphone aus der Jacke und verständigte die Mannheimer Polizei. Die künftigen Kollegen wollten jede Einzelheit wissen, doch als Olivia in Hörweite der S-Bahn angekommen war, bekräftige sie ihre Aussage mit einem ernsten »es geht um Leben oder Tod« und legte auf. Sie schaltete auf stumm, bevor der Kollege von der Zentrale auf die Idee kommen konnte, sie zurückzurufen. Im Hintergrund hörte sie, wie der ICE wieder Fahrt aufnahm. Die Lichter des Zuges verschwanden allmählich, und Olivia fühlte sich plötzlich sehr einsam. Sie stand allein in einem scheinbar menschenleeren Bahnhof, außerhalb jeder Stadt, und wollte einen Mord verhindern. Wo bin ich da nur wieder reingeraten? Und was, wenn ich mir alles nur einbilde? Was tu ich hier?
Die aufkommenden Angstgefühle verdrängte sie so gut es ging. Während sie auf die S-Bahn zulief, schaute sie sich um. Die Zugfahrt war ihr heute schon grotesk vorgekommen, aber das hier übertraf dieses Empfinden bei Weitem.
Ich würde mich nicht wundern, wenn gleich ein Geisterzug auftauchen würde – mit Dampflokomotive.
Sie eilte über die Gleise, bis sie schließlich die S-Bahn erreichte. Noch im Laufen band sie sich mit einem Haargummi ihre wilde Lockenmähne zusammen. Das war fast schon eine typische Handbewegung, oft geübt, um nicht durch ihre Haare verraten zu werden.
Hier in dieser Bahn hatte sie die beiden Männer kämpfen sehen. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die S-Bahn-Seite und schob vorsichtig ihren Kopf nach oben. In der Bahn war fast nichts zu erkennen. In geduckter Haltung schlich sie weiter. Etwa bis zur Mitte der Waggonreihe. Hier muss der Kampf der beiden Männer stattgefunden haben.
Vorsichtig hob sie wieder den Kopf und spähte hinein. Wieder nichts. Kurz zweifelte sie, ob es sich um die richtige Bahn handelte. Schnell warf sie einen Blick um sich. Neben all den Güterwaggons und Rangierlokomotiven war dies die einzige S-Bahn im ganzen Rangierbahnhof, sie musste es also sein.
Olivia rief sich das Bild der beiden kämpfenden Männer vor Augen. Wieder schien sie den Blick des Opfers zu sehen. Wieder war sie zutiefst berührt, auch wenn die Szene nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert hatte. Olivia malte sich aus, dass das Opfer zwischen den Stuhlreihen des Waggons liegen und ihre Hilfe brauchen würde. Oder der Mörder hatte sie längst entdeckt. Jede Sekunde würde er über sie herfallen. Sollte sie warten, bis ihre Kollegen hier auftauchen würden? Oder sollte sie in die Bahn einsteigen, sodass sie dem Opfer helfen konnte?
Olivia entschied sich für Letzteres. Sie musste vorsichtig sein, weil der vermeintliche Mörder noch in der Bahn sein konnte. Entschlossen schlich sie weiter zur nächsten Tür und versuchte sie aufzuschieben. Vergeblich. Die Tür war versperrt. Auch die nächste und übernächste. Irgendwie mussten doch auch beide Männer in die Bahn gekommen sein! Sie versuchte es weiter und fand tatsächlich eine S-Bahn-Tür, die sich öffnen ließ. Wenn noch jemand in der Bahn war, dann war diese Tür sein einziger Ausgang. Vorsichtig schob sie die Türen zur Seite und schwang sich in den Waggon.
Sie blickte in der Dunkelheit nach vorne in eine lange, leere Reihe voller S-Bahn-Sitze. Dann drehte sie sich vorsichtig um und schaute in die andere Richtung. Das gleiche Bild. Sie blickte auf eine lange, leere Reihe. Keine Spur von den beiden Männern. Nichts deutete darauf hin, dass hier kurz zuvor ein Kampf stattgefunden haben könnte – keine Kampfspuren, keine verstreuten Kleidungsstücke, keine Beine, die in den Gang ragten, keine Leiche, kein Mörder. Wieder kamen in ihr Zweifel hoch. Sie fühlte sich unbehaglich und wäre am liebsten einfach davongelaufen. Warum nicht einfach das, was sie gesehen hatte, vergessen? So oft war sie in ihrem Leben als Kommissarin in solchen Situationen gewesen und immer wieder hatte sie ihren ganzen Mut zusammennehmen müssen, um nicht aufzugeben. Denn das kam für Olivia nicht in Frage.
Ich muss einfach nur die S-Bahn absuchen. Das ist alles, versuchte sie sich einzureden.
Vorsichtig bewegte sie sich Schritt für Schritt den Gang in jene Richtung entlang, in der sie den Kampf vermutete. Ihre Hände hatte sie zu Fäusten geballt, die rechte Hand umklammerte ihren Schlüssel, den sie zwischen ihre Finger geklemmt hatte. Damit würde sie sich wehren, sollte einer aus dem Hinterhalt auftauchen. Ihr Körper war angespannt. Sie atmete flach. Schon hundertmal hatte sie in gefährlichen Situationen wie dieser gesteckt, und immer wieder fragte sie sich, warum ihr Körper dennoch jedes Mal so viel Adrenalin ausstieß. Ihr Herz pochte so laut, dass Olivia den Eindruck hatte, es sei das einzige Geräusch, das man weit und breit hören konnte.
So ging sie weiter bis zur nächsten S-Bahn-Tür. Jetzt musste sie durch zwei Glastüren hindurch, die die einzelnen Bereiche abtrennte. Das würde sicherlich zu hören sein. Sie zog die erste Glastür einen Spalt auf und verharrte. Nichts passierte. Dann zwängte sie sich durch und schlich die wenigen Schritte zur nächsten Glastür weiter. Die erste Sitzreihe hinter der Glastür gab Olivia Deckung. Vorsichtig spähte sie an ihr vorbei. Doch auch dahinter schien nichts zu sein. Langsam legte sie ihre Hand an den Griff der Glastür, zog auch diese einen Spalt auf und zwängte sich hindurch. Sie kauerte am Boden und sah die letzten 10 Meter des Waggons vor sich liegen. Jetzt hieß es tief durchatmen und den ganzen Mut zusammennehmen. Sie sammelte sich einen Augenblick, dann richtete sie sich auf. Sollte hier jemand auf sie lauern, wäre das seine Chance, sie anzugreifen. Doch es passierte nichts. Sollte sie wirklich einen Mord beobachtet haben, so war der Mörder wohl nicht mehr in der Bahn.
Nachdem sie die letzten Sitze nach der Leiche durchsucht hatte, stand sie ratlos am Ende des Waggons. Nichts. Niemand. Nirgendwo hatte sie einen Hinweis auf das gefunden, was sie wenige Minuten zuvor aus dem ICE beobachtet hatte. Nichts. Niemand. Nirgendwo. Hatte sie sich den Kampf vielleicht wirklich nur eingebildet? Sollte sie so überreizte Nerven haben? Sie straffte die Schultern. Nein, sie hatte diesen Kampf gesehen. Nicht mehr ganz so vorsichtig wie zuvor ging sie zu der Tür zurück, durch die sie eingestiegen war. Ihr Puls beruhigte sich allmählich, und das Adrenalin wich aus ihrem Körper. Sie begann zu zittern. Aber sie hatte dem Mann, der gewürgt worden war, doch in die Augen geschaut. Oder doch nicht?
Das war kein Traum gewesen. Nie und nimmer.
In der Tür blieb sie für einen Moment stehen und spähte in die Dunkelheit. Scheinbar hatte sich der Tumult gelegt und der ICE war mittlerweile weitergefahren. Sie stand jetzt ganz allein auf dem Rangierbahnhof.
Vorsichtig stieg Olivia aus der S-Bahn. Sie wollte nicht noch einmal umknicken. Eben stand sie wieder mit beiden Beinen auf dem Boden, dann geschah es, plötzlich und unerwartet. Jemand packte sie von hinten. Olivia konnte vor Schreck nicht reagieren. In Sekundenschnelle wurde sie gegen die S-Bahn geschleudert. Der Fremde griff nach ihrem rechten Arm und drehte ihn auf ihren Rücken. Dann hörte sie das Klicken, das entstand, wenn eine Pistole entsichert wurde. Sie bekam Angst, und sie dachte etwas, was sie noch nie in ihrem Leben gedacht hatte. Verdammt. Jetzt bin ich dran.
Der Mann, der sie gegen die S-Bahn drückte, flüsterte. »Keine Bewegung! Wer sind Sie?«
»Das geht Sie nichts an!«, fauchte Olivia und versuchte, sich zu wehren. Doch sein Griff war zu fest.
Der Kollege am Telefon hatte Kriminalhauptkommissar Moritz Martin gleich nach dem Anruf verständigt. Sonntagabends war das Polizeipräsidium nur spärlich besetzt, und im Grunde wollte jeder nur nach Hause. Die ankommende Arbeit wurde schnell bewältigt oder für Montag zur Seite gelegt.
Moritz Martin hatte eigentlich gar keinen Dienst. Er war ins Polizeipräsidium gekommen, um seinen Schreibtisch aufzuräumen, weil am nächsten Morgen eine neue Kollegin anfangen würde. Nun saß er seit zwei Stunden da und konnte keinen Finger bewegen. Das Chaos auf seinem Schreibtisch überforderte ihn.
»Frauen stehen auf Ordnung«, dachte er sich die ganze Zeit, um sich selbst unter Druck zu setzen. Er hatte nicht um eine neue Kollegin gebeten und trauerte den Zeiten hinterher, als er mit seinem alten Partner Fritz Such das Büro und die Ermittlungen geteilt hatte. Doch Fritz war seit ein paar Wochen im Ruhestand, und Klose hatte diese Berlinerin verpflichtet. Es hätte Moritz nichts ausgemacht, fortan alleine zu ermitteln, das fiel ihm ohnehin leichter. Doch da nun mal die Stelle frei war, musste sie neu besetzt werden, so einfach war das. Mit der Neubesetzung sollte er also künftig ermitteln. Wie sie wohl war?
Die Stimme aus dem Telefon holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Richtig, es war Sonntagnacht im Polizeipräsidium, und er hatte eigentlich keinen Dienst.
»Da will jemand einen Mord in einer abgestellten S-Bahn am Rangierbahnhof beobachtet haben. Ts, ts! Die Leute lesen zu viele Krimis. Ich glaube, du musst da jetzt hin, Moritz! Das SEK ist verständigt. Du musst nur noch selbst zum Rangierbahnhof fahren.«
So lautete der knappe Anruf eines Kollegen, der Moritz Martin in dieser späten Sonntagnacht direkt in seinen nächsten Fall katapultierte. Die Stimmung und die Stimmlage des Kollegen wirkten so müde, dass sich Moritz ein wenig anstecken ließ. Lustlos quittierte er den Anruf lediglich mit einem kurzen »Okay.«
»Typisch Moritz, freundlich wie immer«, hörte er den Kollegen noch sagen, bevor dieser auflegte.
Plötzlich hatte Moritz eine Erleuchtung, die ihm seinen Elan zurückbrachte. Klar, der Anruf rettete ihn vor dem Chaos auf dem Schreibtisch!
»Pech, ich hatte leider keine Zeit aufzuräumen!«, rechtfertigte sich Moritz vor sich selbst. Einigermaßen erleichtert schaute er auf die Stapel von Akten, die losen Blätter und Notizzettel, Stifte und Büroklammern, die bunt durcheinander vor ihm lagen. Hinter einem Stapel Ordner befand sich ein alter Monitor, doch wo die Tastatur zum Rechner sein sollte, konnte man nur erahnen. Scheinbar war Moritz kein Freund von Computern und technischen Geräten, und auch kein Freund von Ordnung. Dann schüttelte er seinen Kopf über die Art und Weise des Anrufs. Bei manchen Kollegen fragte er sich immer, warum sie ausgerechnet bei der Polizei gelandet waren, wo sie eigentlich doch nur Beamte sein wollten.
Er schaltete im Kopf auf Verbrecherjagd um und schnappte sich schnell seine geliebte Lederjacke, die er als 17-Jähriger in einem Second Hand Shop erstanden hatte und die immer noch passte. Dann verließ er sein Büro und rannte los. Atemlos kam er an seinem Dienstwagen an und schwang sich hinters Steuer. Das Blut in seinen Adern schien doppelt so schnell und kräftig zu pulsieren. Auf der Straße schaltete er das Blaulicht ohne Sirene ein und düste mit einem Einsatzkommando im Schlepptau zum Rangierbahnhof.
Moritz Martin war 32 Jahre alt. Und er war der jüngste Kriminalhauptkommissar, den es jemals in Mannheim gegeben hatte. Seine Aufklärungsquote gehörte zu den besten im ganzen Bundesland. Darauf war er stolz, doch er zeigte seinen Stolz nicht. Er brauchte die Anerkennung der anderen nicht, er war kein Angeber. Er wollte lediglich sich selbst beweisen, dass er der Beste war, nur sich allein. Die Quote war sein Antrieb. Er galt unter den Kollegen eher als Einzelgänger, als einer, der sehr darauf bedacht war, niemandem, weder seinen Kollegen noch irgendwelchen Verdächtigen, jemals seine Gefühlslage zu zeigen. Sein wahres Inneres verbarg er hinter einer grinsenden Maske aus Coolness und Draufgängertum.
Er war schlank, groß gewachsen, hatte dunkles Haar, kleidete sich in dunklen Tönen und verzog nie eine Miene – außer wenn er grinste. Bloß nie etwas anmerken lassen, das war seine Devise.
Der jüngste Kriminalhauptkommissar Mannheims liebte solche Einsätze wie diesen. Im Alltag fuhr er nicht gerne Auto, der langweilige Trott des Stadtverkehrs nervte ihn. Er war ein Raser und liebte Geschwindigkeit. Wenn er zum Tatort gerufen wurde und durch die Straßen sausen durfte, fühlte er sich in seinem Element. Verkehrsregeln brauchte er da nicht zu beachten. Hier kam es darauf an, dass er schnell war, und das kam ihm und seinem halsbrecherischen Fahrstil entgegen. Vielleicht hatte er sich gerade wegen solcher Momente für den Polizeidienst entschieden.
Jetzt war er froh, dass er an diesem Sonntagabend ins Präsidium gekommen war, um aufzuräumen. Hätte er es nicht getan, hätte er den Einsatz verpasst. Apropos Aufräumen: Die Neue sollte sich mal nicht so anstellen, sie musste ihn eben so nehmen, wie er war, mit all seinem Schreibtischchaos. Schließlich musste er das ihr gegenüber ja auch. Eine aus Berlin, er mochte gar nicht daran denken.
Moritz flog über die nächtlichen Straßen Mannheims in Richtung Rangierbahnhof. Beides, die hohe Geschwindigkeit und die vor ihm liegende Aufgabe, verliehen ihm einen Kick, den er um nichts in der Welt missen mochte. Am Planetarium bog er auf die Autobahn ab. Vor ihm sah er seinen Chef und gab Gas.
Er mochte Kriminaldirektor Dr. Manfred Klose sehr. Dieser hatte ihn immer gefördert und ihm immer vertraut. Trotzdem bestand zwischen beiden eine Art Konkurrenzkampf, der häufig in bissigen Frotzeleien endete, sodass Außenstehende den Eindruck bekommen konnten, dass die beiden sich nicht leiden konnten.
Moritz fuhr dicht auf. Selbst in der Nacht konnte er erkennen, dass sich Dr. Klose gerade über ihn ärgerte. Dem jüngsten Kriminalhauptkommissar Mannheims gefiel das. Er scherte links aus, dann drückte er das Gaspedal durch und schoss an Dr. Klose vorbei. Natürlich war Moritz zuerst am Rangierbahnhof.
Er stieg aus seinem Auto aus, lief einige Schritte über die Gleise, zog seine Dienstwaffe und schaute sich um. Der ICE war verschwunden und an der Stelle, an der er jetzt stand, konnte er nur Güterwaggons sehen.
»Wo soll dieser Waggon stehen?«, brüllte ihm sein Chef hinterher, als auch er wenig später am Rangierbahnhof ankam. Moritz zuckte mit den Schultern, drehte sich aber nicht um.
Einen Kollegen vom SEK hörte er noch rufen, er solle seine schutzsichere Weste anlegen. Doch Moritz ignorierte die Aufforderung.
»Wenn noch einer in der Nähe ist, dann weiß er jetzt nach all dem Lärm, den die Kollegen veranstalten, dass wir hier sind«, dachte er bei sich und schaute unverwandt zum Bahnhof. Konzentriert versuchte er die Düsternis mit den Augen zu durchdringen.
Dr. Klose kannte das und schätzte Moritz dafür. Wenn sich sein junger Kommissar einmal in etwas verbissen hatte, musste er ihn nur noch von der Leine lassen, dann fand er in aller Regel schnell und sicher das Ziel. Dr. Klose wusste, was er an Moritz hatte, ja es war ihm von Anfang an klar gewesen. Deshalb hatte er ihn schon vom ersten Tag an unter die Fittiche genommen und ihn schließlich zum Kriminalhauptkommissar befördert.
Als er die Kollegen vom SEK hinter sich hörte, ging Moritz vorsichtig los. Flankiert von vier Polizisten in Helmen und Einsatzuniformen, die sich stumm und nur mit Gesten verständigten, durchforschte er das Gelände. Hinter ihnen kam Dr. Klose mit vier weiteren Polizisten.
»Hier, untersuch’ das!«, sagte Moritz zu einem Kollegen vom SEK, als er am Boden einen Rucksack fand. Der Kollege widmete sich vorsichtig dem Fundstück, während die anderen weiterhin Moritz folgten. Mit der Pistole im Anschlag schob er sich Schritt für Schritt vorwärts, bis er vor sich eine verlassene S-Bahn sah. Er gab den Kollegen vom SEK, die hinter ihm waren, das Zeichen zum Ausschwärmen.
Moritz blieb stehen, packte seine Waffe fester und nahm die Waggons aus geringer Entfernung ins Visier. Nichts bewegte sich. Mit der rechten Hand gab er dem SEK Anweisung, rechts entlangzugehen, während er selbst die andere Seite wählte. Als er die S-Bahn schließlich erreicht hatte, ging er daran entlang und spähte vorsichtig hinein. Plötzlich war ihm, als hätte er eine Bewegung gesehen. Wieder schoss ihm das Adrenalin ins Blut.
Er holte tief Luft und machte mehrere schnelle Schritte in die Richtung, in der er die Bewegung gesehen zu haben glaubte. Tatsächlich: Die Waggontür stand offen, eine dunkle Person sprang heraus. Moritz steckte seine Waffe in das Holster und stürzte sich auf sie. Er packte ihren Arm, drehte ihn auf den Rücken und drückte die Person gegen die Zugwand. Dann zog er seine Waffe. »Keine Bewegung! Wer sind Sie?«
»Das geht Sie nichts an!«, fauchte Olivia und versuchte, sich zu wehren. Doch Moritz’ Griff war zu fest.
»Polizei?«, konnte Olivia gerade noch krächzend hervorbringen.
»Kripo Mannheim«, bestätigte Moritz.
Stell dich doch gleich vor, Mensch! Endlich seid ihr da. »Ich habe die Polizei verständigt. Gut, dass ihr da seid«, japste Olivia nach Luft.
»Das kann jeder behaupten.«
Moritz ließ langsam von ihr ab. Olivia drehte sich um, und er musterte sie mit scharfem Blick.
Vor ihm stand eine große, selbstbewusst wirkende Frau, die etwa so alt war wie er. Sie hatte einen dunklen Lockenkopf, dessen Haare kreuz und quer in die Höhe standen.
»Was in aller Welt macht die hier draußen?«, fragte sich Moritz.
»Ich bin nicht jeder«, unterbrach Olivia zynisch Moritz’ Gedankengänge.
In der Zwischenzeit war auch Dr. Klose an der Stelle angekommen und hörte den letzten Satz mit.
Ein wilder Lockenkopf. Das war doch nicht etwa –«, dachte sich Dr. Klose. Er sicherte seine Waffe und steckte sie zurück in den Gürtel.
»Olivia von Sassen?«, fragte er höflich, aber bestimmt. »Ja?«
»Kriminaldirektor Dr. Manfred Klose.« Er streckte ihr die Hand entgegen.
»Oh, mein Gott, das ist die Neue!«, fluchte Moritz innerlich. Zugleich erhielt er von Dr. Klose einen Tritt. Offenbar sollte er sich selbst vorstellen.
»Kriminalhauptkommissar Moritz Martin«, hörte er sich langsam sagen und fügte noch ein halb geräuspertes »Hallo!« hinzu.
Nach allem, was er in dem Licht der Bahnhofslampen sehen konnte, sah die neue Kollegin verdammt gut aus, das stand fest. Moritz war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel. Irgendwie hatte er auf eine unsympathische Berliner Göre gehofft, die er aus vollem Herzen abscheulich finden konnte. Aber nun? Das glatte Gegenteil schien eingetreten zu sein.
»Na ja, sie sieht zwar gut aus, aber bestimmt ist sie unausstehlich«, tröstete er sich und brachte damit seine Welt wieder in Ordnung, »sie wird nie meinen alten Partner Fritz ersetzen«.
Fast wehmütig wünschte er sich die Zeit mit seinem alten Partner zurück, zu dem er Jahre lang wie zu einem Vater aufgeschaut hatte.
»Was ist mit dem Mörder?«, unterbrach Olivia die Vorstellungsrunde. Sie war immer noch auf Verbrecherjagd. »Gibt es eine Leiche?«
In diesem Moment kamen die Männer vom SEK um den Waggon herum. Als sie die friedliche Szene sahen, senkten auch sie ihre Waffen.
»Nichts. Es handelt sich um einen Fehlalarm«, sagte einer der Männer.
»Welcher Idiot hat denn diesen Fehlalarm ausgelöst?«, fragte ein anderer.
»Ich!«, erwiderte Olivia empört.
Die Männer schauten sich an.
»Doch das ist kein Fehlalarm!«, hörte sie sich empört hinzufügen, obwohl sie selbst ein bisschen zweifelte. »Keine Leiche, kein Mörder, also Fehlalarm«, kommentierte einer der Polizisten trocken, »so ist das hier.«
So ist das hier, äffte Olivia ihn in Gedanken nach.
Dann riss sie sich zusammen. Sie straffte sich und versuchte gegenüber ihren Kollegen glaubhaft und selbstbewusst zu wirken, während sie ihnen ihre Hand entgegenstreckte.
»Darf ich mich vorstellen, ich bin die neue Kollegin, Kriminalhauptkommissarin Olivia von Sassen.«
»Eine ›Von und Zu‹?«, bemerkte der eine Kollege zum anderen.
»Wenn die Herren sich noch vorstellen würden, könnten wir hier endlich verschwinden«, forderte Moritz die beiden auf.
»Schuster.«
»Waigel.«
»Angenehm«, fügte Olivia mit etwas schnippischem Unterton hinzu.
Der Mann hatte große, dunkle Augen. Sie waren voller Panik und Angst. Sein Blick war geradeaus gerichtet und traf aus der Ferne den ihrigen. Er wehrte sich, schlug um sich, trat, versuchte zu beißen – vergeblich. Aus seiner Angst wurde Todesangst, aus seiner Panik der Kampf ums Überleben. Als er fast keine Luft mehr bekam, traten seine Augen aus den Höhlen. Sein Blick war noch immer starr in die Ferne gerichtet.
Mit seinen Händen umklammerte er die würgenden Hände des anderen, die Knöchel stachen weiß hervor. Wie ein Koloss stand sein Mörder hinter ihm. Machtvoll und unnachgiebig bearbeitete dieser sein Opfer.
Zu Beginn konnte er sich noch wehren, doch je länger sein Überlebenskampf dauerte, umso weniger Kraft hatte er. Irgendwann überkam ihn Hoffnungslosigkeit. Noch einmal versuchte er um sich zu schlagen, doch der ausbleibende Sauerstoff ließ seine Kräfte immer mehr schwinden. Er japste nach Luft.
»Livi!!!!!!!«, krächzte er mit letzter Kraft. Dann streckte er eine Hand in ihre Richtung. Sein Blick flehte um Hilfe. Als keine Reaktion kam, begriff er, dass es für ihn zu spät war. Nun gab er sich voll und ganz seinem Schicksal hin und nahm den Tod entgegen. Ganz sanft. Die Panik verschwand aus seinen Augen und wich dem leeren Blick des Todes, der dem Blick in die Ferne nur allzu ähnlich war.
Für einen kurzen Augenblick verharrte er so. Dann sackte er in sich zusammen und fiel zu Boden. Tödliche Stille kehrte ein. So als ob nie etwas gewesen wäre. Doch plötzlich war der Tote wieder da. Direkt vor ihren Augen schreckte er in die Höhe und starrte sie an.
»Olivia!!!!«
»Olivia!«
Olivia schreckte hoch. Schlagartig wurde sie wach. Ihr Herz raste. Der Blick des Sterbenden hatte sie bis in ihre Träume verfolgt. In den wenigen Stunden, die sie geschlafen hatte, war der Tote immer und immer wieder in ihren Träumen aufgetaucht. Immer und immer wieder wurde er vor ihren Augen erwürgt. Seine Augen hatten sie durchdrungen und tief berührt. Nun war sie wach.
Schnell wurde Olivia klar, dass sie zwar geträumt hatte, ihr Alptraum aber mit den Ereignissen der letzten Nacht eng verbunden war. Unwiderruflich fiel ihr wieder ein, was in den vergangenen Stunden geschehen war.
Was für ein Alptraum! Ich darf diese Momente nicht mehr so nah an mich heranlassen. Das kostet mich jedes Mal viel Kraft.
Augenblicklich fühlte sie sich unwohl und bedrückt. Der Mord, den sie beobachtet hatte, verbreitete in ihr morbide Gedanken, Gedanken an die Vergänglichkeit. Sie schüttelte sich bei der Erinnerung daran, dass der Tote ihr, kurz bevor er gestorben war, tief in die Augen geblickt hatte.