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PROLOG

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Ich war umgeben von hohen Hecken. Rechts, links und geradeaus führte je ein schmaler Weg zwischen den Hecken durch, die wie Hausmauern aufragten. Ich zögerte, dann wandte ich mich nach links. Der Weg war kaum einen Meter breit, ich folgte ihm, bog um eine Ecke – und fand mich vor einer Mauer aus dichtem Grün.

Ich ging zurück zu der Kreuzung und wählte den Weg, der geradeaus weiterführte. Ich folgte ihm, bog nach rechts, dann wieder nach links ab, stieß auf eine Sackgasse und kehrte um, bis ich wieder an der Kreuzung stand, von der aus ich gestartet war. Jetzt blieb mir nur noch eine Möglichkeit. Wenn dieser Weg ebenfalls eine Sackgasse ist, dachte ich, während ich dem letzten der drei Wege folgte, dann muss ich mir etwas einfallen la

Ich blieb abrupt stehen. Am Ende des Wegs war kein Grün. Zwischen den Hecken sah ich ein Haus. Es kam mir bekannt vor.

Ich ging auf das Gebäude zu, begann zu laufen, bis ich die grünen Mauern hinter mir ließ und mich plötzlich im Stadtzentrum fand, mitten auf dem Stephansplatz.

Das Merkwürdigste daran war, dass der Stephansplatz menschenleer war. Es war heller Tag, aber kein Mensch war zu sehen. Ich blickte mich in alle Richtungen um. Die Fußgängerzonen, die sternförmig auf den Platz zuliefen, waren normalerweise zu jeder Tages- und Nachtzeit voller Menschen. Jetzt war es vollkommen still. Ich drehte mich um die eigene Achse. Das Hecken-Labyrinth hinter mir war verschwunden. Unsicher marschierte ich die Fußgängerzone entlang, meine Schritte waren das einzige Geräusch in der Stille.

Das Ganze musste ein Scherz meines Verlobten sein.

Seit er aus der Hölle zurückgekehrt war, besaß er die dämonische Fähigkeit, meine Träume zu manipulieren. Und ein Traum musste das hier ja wohl sein, eine andere Erklärung fiel mir nicht ein.

»Nathaniel!«, rief ich laut. Meine Stimme hallte von den Gebäuden um mich herum wider. »Nathaniel! Hör auf damit, das ist nicht komisch!«

Ich ging weiter die Fußgängerzone entlang, ohne ein bestimmtes Ziel, einfach nur, weil ich nicht tatenlos herumstehen wollte. Ich fühlte mich unbehaglich und immer weiterzugehen gab mir das Gefühl, wenigstens irgendeine Art von Kontrolle über die Situation zu behalten.

»Nathaniel!« Ich drehte mich im Kreis und streckte die Arme zu beiden Seiten aus. »Komm schon, was soll das?«

Es sah meinem Schutzengel überhaupt nicht ähnlich, mich in eine unangenehme Lage zu bringen. Die Träume, die er mir bisher geschenkt hatte, waren ohne Ausnahme wundervoll gewesen, er war darin stets an meiner Seite gewesen und hatte mich nie allein gelassen.

Das mulmige Gefühl in meinem Bauch verstärkte sich. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wo blieb er nur? Sonst tauchte Nathaniel immer sofort auf, wenn ich nach ihm rief. Er konnte meine Gedanken hören und spürte, wenn ich in Gefahr war, selbst nachdem er von den Erzengeln in einen Erdengänger verwandelt worden war und seitdem ein menschliches Leben an meiner Seite führte.

»Warum hast du mich hergebracht?«, rief ich und sah mich suchend um. »Ist das irgendein Spiel?«

Doch ich ahnte schon, dass es kein Spiel war. Nathaniels dämonische Seite mochte bedrohlich und gefährlich sein, aber er hatte diese Macht niemals eingesetzt, um mir Angst zu machen – und es war Angst, die jetzt in mir aufkeimte, je länger ich in dieser seltsamen Einsamkeit umherirrte.

Plötzlich sah ich am Ende der Fußgängerzone das vertraute, schwarze Schimmern von Nathaniels Flügeln. Erleichterung durchflutete mich und verdrängte das Gefühl der Furcht. Ich beschleunigte meine Schritte und wurde ein wenig ärgerlich, während ich auf ihn zulief.

»Nathaniel! Was zum …?« Ich verlangsamte meine Schritte.

In den schwarzen Flügeln des Dämons, der am Ende der Straße stand, lag kein goldenes Funkeln.

Das war nicht Nathaniel.

Ich machte auf der Stelle kehrt, geriet ins Stolpern, fing mich wieder und hastete weiter. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass der Dämon mich verfolgte, tiefschwarz schimmernd wie die Hölle.

Jetzt rannte ich so schnell ich konnte.

»Es ist ein Traum«, keuchte ich, um mich selbst zu beruhigen. »Es ist nur ein Traum.« Mein Herz hämmerte wild. Immer wieder warf ich einen Blick zurück. Der Dämon hatte seine Schwingen ausgebreitet und jagte durch die Luft hinter mir her. Der Abstand zwischen uns verringerte sich mit jedem Augenblick.

»Geweihter Boden.« Meine Schritte hallten von den Gebäuden wider und ich blickte mich verzweifelt suchend um. »Geweihter … Boden …« Der Turm der Stephanskirche ragte zwischen den Häusern auf. Die Kirche war noch zwei Häuserblocks von mir entfernt, aber sie war der einzige Zufluchtsort.

Der Dämon würde mir nicht einmal in einem Traum auf geweihten Boden folgen können. Ich würde in Sicherheit sein – falls mein Verfolger mich nicht vorher einholte.

Das schwarze Geschöpf glitt lautlos hinter mir her. Ich rannte noch schneller, meine Lungen brannten und ich fragte mich, warum der Dämon mich noch nicht eingeholt hatte. Dann begriff ich, dass diese Jagd für ihn Teil des Spiels war.

Jetzt tauchte die Stephanskirche vor mir auf. Ich erwartete, die Krallen des Dämons jeden Moment in meinem Rücken zu spüren und wappnete mich für die Schmerzen, die eine dämonische Berührung für einen Menschen bedeutete. Doch ich kam der Kirche näher und näher, ohne dass der Dämon mich aufhielt.

Wahrscheinlich ist es seine Art, mich zu quälen. Wahrscheinlich will er mich hoffen lassen und wird zuschlagen, wenn ich mich schon in Sicherheit glaube …

Wo war Nathaniel? Was war geschehen, dass es diesem Dämon gelungen war, mich im Traum in diese Falle zu locken?

Ich hatte die Kirchentore beinahe erreicht. Als ich mich dagegenwerfen und sie aufstoßen wollte, spürte ich die Energie eines kraftvollen Flügelschlags hinter mir. Es war wie eine Sturmbö, die mich von den Füßen fegte und gegen die Kirchenmauer schleuderte.

Benommen suchte ich Halt an dem kalten Stein. Der Dämon war mit einem Satz über mir, schlug seine Schwingen wie einen Käfig um mich auf, ließ mir keine Möglichkeit, zu fliehen und stützte seine Arme rechts und links von meinem Körper gegen die Wand. Ich keuchte erschrocken auf. Er musste sehr mächtig sein, wenn er es ertrug, ein Gebäude auf geweihtem Boden zu berühren, selbst wenn es nur in einem Traum geschah.

Er war mir so nah, dass ich mich nicht bewegen konnte, ohne mich seiner schmerzhaften Berührung auszusetzen.

Ich atmete heftig und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Jetzt sah ich den Dämon zum ersten Mal richtig an. Wie alle Dämonen war er körperlich furchteinflößend, mit breiten Schultern und schwarzen Flammen, die auf seiner Haut knisterten. Er hatte weniger dämonische Narben im Gesicht als Nathaniel, doch die meisten waren frisch, was mich vermuten ließ, dass er noch nicht lange ein Dämon war.

Das Verwirrende an ihm waren seine Augen – nicht rot wie die Augen der anderen Dämonen oder schwarz wie die Augen Luzifers oder die Augen der Inferni.

Sie waren violett.

Er blickte mich aus diesen merkwürdigen, violetten Augen an und beugte sich näher heran. Ich drängte mich weiter gegen die Wand, in dem sinnlosen Versuch, ihm auszuweichen. Ich wusste, dass er mich in seiner Gewalt hatte und mir wehtun konnte, wenn er es wollte. Jede seiner Berührungen würde meine Haut verätzen.

»Nathaniel wird dich umbringen«, stieß ich hervor. Ihm zu drohen war meine einzige Hoffnung. Nathaniels Macht war unter den Höllenwesen bekannt und gefürchtet. Ich wollte dem Dämon nicht zeigen, dass ich Angst hatte, also hob ich trotzig das Kinn und starrte herausfordernd in seine violetten Augen.

»Ich weiß«, erwiderte er heiser. Dann wurde sein Ton eindringlich. »Hilf mir.«

DER BANNFLUCH

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»›Hilf mir?‹ Er hat wirklich gesagt ›Hilf mir‹?« Marcellus konnte es nicht glauben. Er stand stirnrunzelnd an den Kamin gelehnt, während Nathaniel und ich auf seiner Couch saßen. Sophie saß uns im Morgenmantel gegenüber, ihre Hände nervös auf dem Schoß verschlungen.

Marcellus rieb sich über die Stirn. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, er sah aus, als hätte er seit Tagen kaum geschlafen.

»Ist alles in Ordnung, Marcellus?« Ich hatte ihn in der letzten Woche kaum gesehen, weil ich so sehr mit den Vorbereitungen für meine Abschlussprüfungen beschäftigt gewesen war, doch jetzt machte ich mir Sorgen um ihn.

Er schirmte seine Augen gegen die Sonnenstrahlen ab, die das Wohnzimmer fluteten. Es war kurz nach sechs Uhr morgens, die Sonne stand bereits strahlend am Himmel und kündigte einen herrlichen Maitag an.

»Kannst du ihn beschreiben?«, fragte er statt auf meine Frage zu antworten. Was auch immer es war, das ihn beschäftigte, er schien es beiseitezuschieben und konzentrierte sich voll und ganz auf uns.

Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Er hat ausgesehen … na ja, eben wie ein Dämon. Schwarz, schimmernd, dunkle Flügel … Ich habe ihn nie zuvor gesehen, tut mir leid.«

Nathaniel hielt meine Hand fest in seiner. »Kannst du dich an irgendetwas erinnern, das uns helfen könnte, ihn zu identifizieren?«

»Die meisten seiner Narben waren frisch«, sagte ich.

»Ein junger Dämon?« Nathaniels Blick schoss zu seinem Mentor.

»Ich könnte herausfinden, welche Engel erst vor kurzem gefallen sind«, überlegte Marcellus.

»Erzähl ihm von seinen Augen«, sagte Nathaniel mit hartem Ton in der Stimme. In ihm musste der Zorn nur so brodeln, weil es einem Dämon gelungen war, sich an ihm vorbei in meine Träume zu schleichen.

Als ich aus dem Traum aufgeschreckt war, hatte Nathaniel tief und fest an meiner Seite geschlafen. Erst meine verwirrten Gedanken hatten ihn geweckt und als er begriffen hatte, was geschehen war, war sein schwarzes Feuer mit einem Schlag explodiert. Er hatte darauf bestanden, die Sache sofort mit Marcellus zu besprechen.

Ich konnte ihn nicht davon abbringen, obwohl es fast noch mitten in der Nacht war. Beim Morgengrauen hatten wir Marcellus‘ Ehefrau Sophie aus dem Bett geholt, die uns sagte, dass Marcellus noch nicht von einem Treffen mit den Erzengeln zurückgekehrt war und uns angeboten, gemeinsam auf ihn zu warten. Sophie war äußerst verständnisvoll gewesen und hatte mit Nathaniel übereingestimmt, dass Marcellus sofort von dem Dämon in meinem Traum erfahren sollte. Obwohl sie ein Mensch war, kannte Sophie die Welt der Engel und Dämonen durch ihren Ehemann, der gleichzeitig ihr Verstandesengel war. Marcellus, halb Engel, halb Erdengänger, war Nathaniels Mentor und ein wichtiger Vertrauter der Erzengel. Er leitete in ihrem Auftrag einen Medienkonzern und wurde von den Erzengeln mit heiklen Missionen betraut, die er mit kompromissloser Durchsetzungskraft erfüllte.

Eine dieser Aufgaben lautete, Nathaniel als seinen Sohn in seiner Familie aufzunehmen, als Nathaniel vor einem halben Jahr zum Erdengänger geworden war. Die Erzengel hatten ihn verwandelt, um seine außergewöhnlichen Fähigkeiten zu nutzen. Solange ich am Leben war, blieb Nathaniel mein Schutzengel und konnte sich aufgrund seiner dämonischen Hälfte sowohl in der Hölle als auch im Reich der Engel bewegen. Als Erdengänger jedoch war er ebenso wie Marcellus an einen sterblichen Körper gebunden, was seine Schutzengelfähigkeiten auf der Erde einschränkte und ihn körperlich verletzlich machte.

Doch nur so war es möglich, dass wir ein gemeinsames Leben führen konnten. Ebenso wie bei Marcellus und Sophie hatten die Erzengel ihre Zustimmung zu unserer Verbindung gegeben und sie war im vergangen November von dem Nexus Moana, einer himmlischen Standesbeamtin, geschlossen worden.

Seither war Nathaniel nicht nur als mein Schutzengel sondern auch körperlich stets an meiner Seite, um mich zu beschützen, auch wenn es in den letzten Monaten kaum Angriffe auf mich gegeben hatte. Nicht, seitdem Nathaniel unseren Erzfeind Lazarus vernichtet hatte. Bei diesem Kampf hatte der Erzengel Michael Nathaniel und mich vor Luzifer beschützt, der versucht hatte, selbst ins Geschehen einzugreifen, was sowohl ihm als auch den Erzengeln verboten ist. Seither trugen Nathaniel und ich Michaels Siegel im Nacken, einen machtvollen Schutz gegen höllische Angriffe.

»Seine Augen waren merkwürdig«, sagte ich schließlich. »Sie waren nicht rot, sondern violett.«

Marcellus stutzte. »Violett?«

»Nathaniels Augen sind auch nicht rot«, bemerkte ich und blickte in die schönen, goldbraunen Augen meines Schutzengels.

»Das liegt daran, dass ein Teil von ihm selbst in der Hölle noch dein Engel gewesen ist«, erklärte Marcellus. Er schüttelte den Kopf. »Aber violette Augen … davon habe ich noch nie gehört.«

»Vielleicht ist sein Schützling auch noch am Leben?«

Marcellus dachte nach. »Ich werde versuchen, etwas darüber in Erfahrung zu bringen.«

»Ich werde die ganze Hölle nach ihm durchkämmen, wenn es sein muss«, knurrte Nathaniel. Dunkle Flammen kräuselten sich auf seinem Körper, in einer Mischung aus Wut über den Angriff des fremden Dämons und aus verletztem Schutzengelstolz, weil der Dämon es tatsächlich geschafft hatte, an ihm vorbeizukommen.

»Tolle Idee.« Die Stimme meines Verstandesengels erklang ironisch von der anderen Seite des Wohnzimmers. Mein Kopf schoss herum und ich sah den bronzenen Ramiel lässig an der Tür lehnen. Seine weißen Schwingen reichten bis zum Boden und waren mit bronzenen Diamanten gesprenkelt, die in der Sonne funkelten. »Jag ruhig den ganzen Laden dort unten in die Luft, ich passe so lange hier auf Victoria auf, soll ich?«

Nathaniel knurrte Ramiel an.

»Er hat Recht«, sagte Marcellus. »Es wäre nicht klug, Victoria jetzt allein zu lassen, Nathaniel. Nicht, solange wir nicht wissen, mit wem wir es zu tun haben. Lass mir etwas Zeit, um in Erfahrung zu bringen, wer dieser violettäugige Dämon ist. Dann kannst du ihn dir vorknöpfen.«

»Worauf du dich verlassen kannst«, knurrte Nathaniel.

Sophie erhob sich. »Ich werde euch etwas zu essen machen«, sagte sie. »Ihr habt einen wichtigen Tag vor euch, ihr solltet nicht mit leerem Magen gehen.« Sie warf ihrem Mann einen besorgten, liebevollen Blick zu. »Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?«

Marcellus schenkte ihr ein kleines Lächeln. Ich erschrak darüber, wie eingefallen seine Wangen waren.

»Ich werde mich nicht einmischen, nur damit das klar ist.« Ramiel schlenderte an meiner Seite hinter Sophie her in Richtung Esszimmer. »Es gab keine dämonischen Angriffe auf dich, keine Gefahren … bis auf den Traum letzte Nacht, ich weiß, Nathaniel … also jedenfalls gibt es keinen Grund, warum du die heutigen Abschlussklausuren nicht ohne meine Hilfe hinkriegen solltest.«

Ich verzog zweifelnd den Mund. »Ein bisschen Hilfe von meinem Verstandesengel könnte nicht schaden.«

»Kommt nicht in Frage.« Ramiels Ton wurde streng. »Du hast wochenlang dafür gebüffelt, also bestehst du heute die Klausuren mit links, verstanden?«

»Mh«, brummte ich. Ich hatte die vergangenen Wochen nichts anderes getan, als mich auf die Prüfungen vorzubereiten, doch schließlich handelte es sich auch um die Abschlussklausuren. Bei dem Gedanken daran, dass ich in weniger als zwei Stunden zum letzten Mal in der Klasse sitzen und die letzten Prüfungen meiner Schullaufbahn schreiben würde, bekam ich ein mulmiges Gefühl im Bauch.

Nathaniel drückte sanft meine Hand. »Du wirst das schon schaffen.«

Es machte den Eindruck, als würde er überhaupt keinen Gedanken an die Abschlussarbeiten verschwenden, obwohl er mit mir gemeinsam die Klausuren schreiben musste. Als Engel schien er ohnehin alles zu wissen und jetzt galt seine Sorge eindeutig dem violettäugigen Dämon.

»Ich weiß nicht alles«, widersprach er, als wir uns an den Tisch setzten und der Duft von frischem Kaffee und Toast aus der Küche drang.

»Jedenfalls weißt du genug, um die Prüfungen mit Bestnoten zu bestehen, obwohl du erst seit einem halben Jahr überhaupt zur Schule gehst«, erwiderte ich.

Nathaniel wischte meinen Einwand vom Tisch, als wäre der Stoff der Oberstufe eine Kleinigkeit, die nicht der Rede wert war.

Sophie zauberte im Handumdrehen Spiegeleier auf Toast auf den Tisch und mit gefülltem Magen und einer Tasse Kaffee in der Hand fühlte ich mich zuversichtlicher, was die bevorstehenden Prüfungen anging.

Marcellus hatte seinen Teller kaum angerührt.

»Was ist mit dir, Liebling?« Sophie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich weiß, dass du nicht über die Aufträge der Erzengel sprechen kannst, aber ich sehe doch, dass dir etwas große Sorgen bereitet. Wenn ich irgendetwas für dich tun kann …«

Marcellus ergriff ihre Hand und drückte einen Kuss auf ihren Handrücken. Sein Schweigen erfüllte auf beklemmende Art den Raum. Nathaniel ließ das Besteck sinken.

»Was ist los, Marcellus?«

Doch sein Mentor schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Victoria hat einen wichtigen Tag vor sich, sie braucht ihre volle Konzentration. Wir reden darüber, wenn ihr zurück seid.«

Ich wechselte einen unruhigen Blick mit Nathaniel. Marcellus lag offensichtlich etwas sehr Ernstes auf der Seele. Mein Schutzengel nickte schweigend und aus seinem Gesicht sprach die Entschlossenheit, seinen Mentor zu unterstützen, egal wie gravierend die Schwierigkeiten auch waren, die Marcellus belasteten.

Als Nathaniel und ich uns auf den Weg machten, begleitete Marcellus uns hinaus. »Ich werde so viel wie möglich über den violettäugigen Dämon herausfinden«, versprach er und drückte meine Hand. »Viel Glück für die Abschlussprüfungen, Victoria.«

Vor der Tür von Marcellus‘ und Sophies Apartment standen zwei Männer in dunkler Kleidung. Sie überragten mich um einen Kopf und waren beinahe so groß wie Nathaniel, ebenso breit gebaut und bis an die Zähne bewaffnet.

Nathaniel legte beschützend seine Hand an meinen Rücken und seine Flammen flackerten in einer stummen Warnung über seine Haut. Die beiden Männer traten schweigend zur Seite und ließen uns passieren.

»Wer war denn das?«, platzte ich heraus, als sich die Fahrstuhltüren hinter uns geschlossen hatten.

»Wächter«, erwiderte Nathaniel.

»Wächter? Du meinst, Bodyguards?«

Nathaniel nickte.

»Seit wann hat Marcellus denn Bodyguards?«

»Seit er sie braucht«, erwiderte Nathaniel dunkel. »Seit letzter Woche«, fügte er hinzu, als er meinen verwirrten Blick sah.

»Aber wieso …? Sind das Menschen?«

»Es sind Erdengänger«, erklärte er. »Allerdings mit einer besonderen Ausbildung. Sie sind mit speziellen Waffen ausgestattet, die Dämonen verletzen können. Die beiden gehören zur Eliteeinheit des Colonels.«

Ich erinnerte mich an den Waffen- und Nahkampfspezialisten, den Marcellus im vergangenen November für mich angeheuert hatte.

»Warum braucht Marcellus Bodyguards, die Dämonen verletzen können?«, fragte ich unbehaglich.

Wir hatten die Garage erreicht und stiegen in Nathaniels Hummer.

»Weil Erdengänger keine Schutzengel haben«, erklärte er, während er den Wagen aus der Garage lenkte und sich in den Verkehr einreihte.

»Das habe ich nicht gemeint«, sagte ich. »Warum braucht Marcellus jetzt plötzlich Bodyguards? Er hatte doch früher auch keine.«

Nathaniel schwieg und starrte auf den Verkehr. »Ich denke, das wird er uns heute Nachmittag verraten.« Sein Ton schürte das dumpfe Unbehagen in meinem Bauch.

Auf dem Schulparkplatz warteten meine Freunde schon auf uns. Chrissy und Mark standen betont auf Abstand zueinander, Chrissy mit verschränkten Armen. Meine beste Freundin Anne, die mit Chrissys Bruder Tom zusammen war, tänzelte nervös auf der Stelle.

Nathaniel und ich stiegen aus dem Wagen aus und gesellten uns zu ihnen.

»Seid ihr bereit?«, fragte ich und spürte, wie die Nervosität langsam in mir aufstieg.

»Egal, wie es ausgeht, wenigstens ist die Streberei jetzt endlich vorbei.« Mark warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu.

»Wie schön«, giftete Chrissy. »Dann hält dich endlich nichts mehr von deinem PC fern und du kannst noch mehr Zeit damit diesen dämlichen Spielen verbringen.«

Mark verdrehte genervt die Augen.

Nachdem Mark sein Alkoholproblem überwunden und sich die beiden gerade erst wieder versöhnt hatten, gab es anscheinend schon neuen Ärger.

»Kommt schon«, murmelte Anne. »Lasst es uns endlich hinter uns bringen.«

Sie stapfte missmutig auf die Schule zu. Ich holte sie mit ein paar schnellen Schritten ein, während die anderen zurückfielen und Chrissy und Mark hinter uns weiterstritten.

»Alles okay mit dir?«, fragte ich leise.

Anne zuckte mit den Schultern. Sie war blass und ich hatte das Gefühl, dass es nicht nur an den bevorstehenden Prüfungen lag.

»Rück schon raus damit.«

Sie schüttelte den Kopf, den Tränen nahe.

»Was ist denn los?«, fragte ich erschrocken.

Anne presste die Lippen aufeinander und wich meinem Blick aus.

»Es ist doch nicht wegen der Prüfungen, oder?«

Sie schwieg.

Ich zog sie ein wenig auf die Seite. Chrissy und Mark stritten jetzt so heftig miteinander, dass sie uns gar nicht bemerkten, als sie an uns vorbeistapften und in der Schule verschwanden. Ich gab Nathaniel mit einem Nicken zu verstehen, dass ich gleich nachkommen würde.

»Anne, schau mich mal an.«

Sie hob den Kopf. In ihrem Gesicht lag ein so unglücklicher Ausdruck, wie ich ihn noch nie an meiner sonst so fröhlichen Freundin gesehen hatte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Was ist denn passiert?«, fragte ich alarmiert. »Ist etwas mit deiner Oma?«

Sie schüttelte den Kopf. Tränen kullerten jetzt über ihre Wangen.

»Nein«, schniefte sie. »Aber meine Oma wird … sie wird mich umbringen.«

»Was? Warum denn?«

Anne starrte zu Boden und wischte sich mit der Hand die Tränen von den Wangen.

»Wenn du glaubst, dass ich dich in diesem Zustand deine Abschlussklausuren schreiben lasse, dann hast du dich geirrt«, sagte ich entschieden. »Du sagst mir jetzt sofort, was los ist, okay?«

»Nein«, murmelte Anne mit belegter Stimme. »Wir kommen zu spät, wir sollten reingehen.« Sie zog mich in Richtung Schulhaus, doch ich hielt sie zurück.

»Wir haben noch sieben Minuten. Also?«

Anne sah mich an und ein neuer Schwall Tränen schoss aus ihren Augen.

»Oh Vic, ich … ich …«, schniefte sie. »Ich glaube, ich … ich bin vielleicht …«

»Was denn?«, fragte ich verwirrt.

Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu.

Endlich begriff ich und packte sie an den Armen. »Willst du etwa sagen, du bist vielleicht … schwanger?«

Anne nickte stumm und heulte richtig los. Ich stand einige Augenblicke wie erstarrt da, dann nahm ich sie mechanisch in den Arm und streichelte ihr über den Rücken, während ich versuchte, den Schock zu verdauen.

Das war genau die Art von Nachricht, die ich fünf Minuten vorm Abitur brauchte.

»Bist du sicher?«, stieß ich leise hervor. »Ich meine, äh, könnte es überhaupt sein?«

Anne vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. »Tom und ich haben … wir haben, na ja, aufgepasst, aber trotzdem …«

»Wie lange bist du überfällig?«

»Zwei Wochen«, murmelte sie in meine Kapuzenweste. Dann hob sie den Kopf. »Warst du schon mal zwei Wochen drüber?«

»Zwei Wochen sind nicht so viel«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Sind es wirklich volle zwei Wochen oder weniger?«

»Ehrlich gesagt sind es achtzehn Tage.«

»Oh.« Oh Gott. »Hast du … du weißt schon, einen Test gemacht?«

Anne schüttelte den Kopf. »Ich hab mich noch nicht getraut. Vic, meine Oma wird mich umbringen!« Sie blickte scheu zu Nathaniel rüber, der beim Schuleingang auf mich wartete. Er hielt sich aus Höflichkeit außerhalb unserer Hörweite auf, obwohl er meine Gedanken deutlich hören konnte, und nach der Sache mit dem Traum würde er mich ohnehin keine Sekunde aus den Augen lassen. »Hast du schon mal … ich meine, seit du mit Nathaniel zusammen bist, hast du da schon mal gedacht, du wärst vielleicht …?«

Anne war die einzige meiner Freunde, die die Wahrheit über Nathaniel wusste. Alle anderen hielten ihn für den Sohn des Milliardärs Marcellus Van den Berg, sie hatten keine Ahnung, dass er in Wirklichkeit mein gefallener Schutzengel war.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Engel können keine Kinder bekommen, weißt du«, fügte ich leise hinzu.

»Oh.« Anne schniefte. »Was soll ich jetzt bloß machen, Vic?« Sie sah mich aus großen, verzweifelten Augen an.

»Pass auf«, sagte ich entschieden. »Du gehst da jetzt rein und schreibst die verdammten Klausuren. Vergiss diese … andere Sache für den Moment, schieb es einfach zur Seite. Konzentrier dich auf den Schulabschluss, wir haben so hart dafür gearbeitet und ich lasse nicht zu, dass du dir das jetzt versaust.« Ich fischte wild nach irgendetwas, das sie beruhigen würde. »Hör zu, bestimmt ist es nur der Prüfungsstress. Vielleicht machst du dich wegen nichts verrückt.«

»Meinst du?«, fragte sie leise und blickte mich hoffnungsvoll an.

Achtzehn Tage? Oh, verdammt.

»Ganz sicher«, sagte ich mit so viel Überzeugung in der Stimme, wie ich aufbringen konnte. Dann reichte ich ihr ein Taschentuch, mit dem sie ihre Tränen trocknete.

»Victoria!« Nathaniels Stimme erklang vom Schuleingang. Er deutete auf die Uhr.

Ich drückte aufmunternd Annes Hände. »So. Jetzt gehen wir da rein und machen sie fertig, klar?«

»Klar«, murmelte Anne. Ihre Stimme klang kratzig, aber ein winziges Lächeln huschte über ihre Lippen. »Vic?«

»Mh?«

»Verrate es nicht Mark und Chrissy.«

»Würde ich nie tun. Außerdem glaube ich, die beiden haben im Moment genug mit sich selbst zu tun. Was war denn das für ein Streit gerade eben?«

»Tom sagt, das geht schon seit einer Weile so. Mark zieht sich ständig dieses neue Computerspiel rein, Gunmen 5 oder wie das heißt, jedenfalls hockt er in jeder freien Minute vor dem PC.«

Nathaniel hielt uns die Tür auf und folgte uns die Treppen hinauf, ohne sich etwas anmerken zu lassen.

»Aber Chrissy verbringt doch auch viel Zeit beim Reittraining mit Julius Caesar«, murmelte ich.

»Ja, und Mark und Tom haben ihr Hockeytraining. Aber diese Computerspiel-Sache scheint wirklich außer Kontrolle geraten zu sein, wenn sogar Tom sagt, dass Mark süchtig danach ist. In den letzten Wochen hat er sogar das Training ausfallen lassen, angeblich um zu lernen, aber Tom glaubt, dass er in Wahrheit gespielt hat.«

Ich runzelte die Stirn. Anscheinend war ich der letzten Zeit so auf die Prüfungsvorbereitung konzentriert gewesen, dass ich gar nicht bemerkt hatte, in welchen Problemen meine Freunde steckten.

Wir betraten mit dem Läuten der Schulglocke die Klasse. Madame Dupont, die die erste Klausur an diesem Tag beaufsichtigte, winkte uns eilig zu unseren Plätzen. Chrissy und Mark saßen in der Reihe vor uns und zeigten einander die kalte Schulter. Anne sank wie ein Häufchen Elend neben mir auf den Stuhl und Nathaniel hatte einen ernsten, grüblerischen Gesichtsausdruck, der ganz bestimmt nichts mit der bevorstehenden Prüfung zu tun hatte.

Na großartig, dachte ich und kramte einen Kugelschreiber aus meiner Tasche hervor. Wenn eine Abiturklausur in Französisch noch das Beste am ganzen Tag war, dann war das wirklich kein gutes Zeichen.

Nachdem wir die Französischarbeit hinter uns gebracht hatten und eine sehr schweigsame Mittagspause, in der Chrissy und Mark sich ignorierten, während Anne nervös in ihrem Essen herumstocherte, erwartete uns am Nachmittag die zweite Klausur.

Ich kämpfte mich durch den Deutschaufsatz, während meine Gedanken immer wieder abwechselnd zu Mark und Chrissy, Anne, Marcellus und dann zu dem fremden, violettäugigen Dämon aus meinem Traum wanderten. Ich bemerkte, dass Nathaniel jedes Mal zu mir herüberblickte, wenn ich an den Dämon dachte, und dabei kräuselten sich schwarze Flammen auf seiner Haut.

Bitte halt dich mit deinen dämonischen Kräften heute zurück, dachte ich, als wir schließlich nach Abschluss der Klausur gemeinsam die Treppen hinunterstiegen und das Schulhaus verließen. Mark und Chrissy sind auch so schon geladen genug, die müssen nicht noch durch deine dämonische Nähe angefeuert werden.

Nathaniels dämonische Energie hatte auf andere Menschen eine beängstigende, zornschürende Wirkung, von der nur ich verschont blieb. Wie auf Kommando brach Chrissy wieder einen Streit von Zaun, kaum dass wir das Schulhaus verlassen hatten.

»Weißt du was, wenn dir das blöde Spiel so wichtig ist, dass du jeden Abend damit verbringen musst, dann solltest du vielleicht auch mit dem Spiel auf Urlaub fahren, anstatt mit mir!«

»Was regst du dich so auf, ich hätte mit dem Spielen doch gar nicht angefangen, wenn du nicht mehr Zeit mit deinem Gaul verbringen würdest als mit mir!«

»Das nennt man Training, du Idiot! Das Sommerturnier steht an, das weißt du ganz genau!«

»Irgendein Turnier steht immer an! Und nenn mich nicht Idiot!«

Ich blieb seufzend auf dem Parkplatz zurück, während Chrissy und Mark streitend in Richtung Bus weiterliefen. Anne blieb zögernd bei mir stehen.

»Bis morgen, dann«, sagte ich und lächelte sie aufmunternd an. »Noch zwei Klausuren, dann ist es geschafft. Dann haben wir eine Weile Ruhe.« Genau genommen waren die nächsten zweieinhalb Wochen als Vorbereitungszeit auf die mündlichen Prüfungen gedacht, die im Juni stattfinden würden, aber wenigstens hatten wir in dieser Zeit keinen Unterricht mehr.

Anne nickte und biss auf ihrer Unterlippe herum.

»Es wird schon alles gut werden«, flüsterte ich und drückte sie. »Lass uns das morgen noch über die Bühne bringen, okay?«

Anne zuckte halbherzig mit den Schultern. Dann lächelte sie Nathaniel traurig an und trottete mit gesenktem Kopf hinter Mark und Chrissy her.

»Wow«, murmelte ich, als ich neben Nathaniel in den Hummer einstieg. »Was für ein Tag.«

»Ich hoffe sehr, dass Marcellus etwas über diesen verdammten Dämon herausgefunden hat«, knurrte Nathaniel, ohne im Geringsten auf Annes Situation einzugehen, und lenkte den Wagen auf die Straße. »Ich kann es gar nicht abwarten, ihm meine Klauen in die Flügel zu schlagen.«

Nathaniels Flammen züngelten unaufhörlich vor Ärger. Es war kein Wunder, dass Mark und Chrissy so aufeinander losgegangen waren.

»Er hat sich an mir vorbeigeschlichen, dieser Mistkerl«, zischte Nathaniel aufgebracht. »Er hätte dich angreifen können, er hätte dir sonstwas antun können!«

»Ich weiß.« Ich berührte beruhigend seine Hand. Die schwarzen Flammen kitzelten kühl meine Haut. »Hat er aber nicht. Ist es nicht merkwürdig, dass er mich um Hilfe gebeten hat?«

»Das Einzige, was mich interessiert, ist, wie ich diesen Kerl am schnellsten aus dem Weg räumen kann«, erwiderte Nathaniel hitzig.

»Wie ist er überhaupt an dir vorbeigekommen? Ich meine, ist das nicht unmöglich?«

Seine Augen blitzten bei meiner Frage bedrohlich auf. »Ich werde dafür sorgen, dass es in Zukunft unmöglich sein wird!« Zornig jagte er den Hummer über eine Kreuzung. »In Wirklichkeit habe ich keine Ahnung, wie es ihm gelungen ist.« Er ließ ein frustriertes Schnauben hören. »Das werde ich aus ihm herausprügeln, bevor ich ihn in Fetzen reiße.«

Kaum hatten wir Marcellus‘ Penthouse erreicht, eilte Sophie uns entgegen.

»Victoria! Wie sind die Klausuren gelaufen? Ist alles gut gegangen?«

»Wo ist er?«, fragte Nathaniel barsch und stürmte an Sophie vorbei, die missbilligend die Stirn runzelte. Dann umarmte sie mich und führte mich hinter Nathaniel ins Wohnzimmer.

»Ich habe einen Kuchen gebacken, um die überstandenen Prüfungen zu feiern.«

Ihr Fürsorge brachte mich zum Lächeln. Marcellus erwartete uns im Wohnzimmer, doch anders als seine Frau hatte er eine sehr ernste Miene aufgesetzt. Er sah noch erschöpfter und sorgenerfüllter aus als am Morgen.

Zu meiner Überraschung waren auch Moana und der Colonel anwesend. Die kleine, rundliche Hawaiianerin, die Nathaniel und mich verbunden hatte, trug ein bodenlanges, geblümtes Kleid und sah ebenso erschöpft aus wie Marcellus. Der Colonel, der sie um mehr als zwei Köpfe überragte, hatte einen ernsten Gesichtsausdruck und trug wie immer einen Kampfanzug in Tarnfarben. Ich fragte mich unwillkürlich, ob er so etwas wie zivile Kleidung überhaupt besaß.

»Moana! Ich wusste gar nicht, dass Sie in Wien sind«, begrüßte ich den Nexus.

Sie nickte mir freundlich zu. »Nur auf der Durchreise, meine Kleine. Geschäftlich.« Ihr Blick flackerte zu Marcellus.

Sophie ließ sich nicht beirren und drängte mich, Platz zu nehmen. Mit Bestimmtheit drückte sie ebenfalls Nathaniel auf einen Sessel, der sich ihr nur widerstrebend fügte.

»Was hast du herausgefunden, Marcellus?«, fragte er ohne Umschweife.

Sophies Schokoladenkuchen sah köstlich aus und ich merkte, wie ausgehungert ich nach dem anstrengenden Tag war.

»Ich habe meine Kontakte genutzt, um herauszufinden, wer dieser violettäugige Dämon ist«, begann Marcellus, während er sich von Sophie eine Tasse reichen ließ. »Die schlechte Nachricht ist: Niemand scheint es zu wissen.«

»Gibt es auch eine gute Nachricht?«, knurrte Nathaniel.

Marcellus nickte. »Ich habe mir von Melinda eine Liste der Engel schicken lassen, die in den letzten fünfzig Jahren gefallen sind. Wenn er, wie Victoria gesagt hat, nur über wenige, frische Narben verfügt, dann war sein Fall wahrscheinlich erst vor kurzem. Das bedeutet, dass er einer dieser Engel sein muss.« Marcellus legte eine Liste auf den Kaffeetisch.

»So viele Engel sind in den letzten fünfzig Jahren gefallen?«, flüsterte ich und griff entsetzt nach den zusammengehefteten Seiten. Die Liste war übelkeiterregend lang.

Melinda Seemann, eine alte Freundin der Van den Bergs, hatte die Liste zur Verfügung stellen können, da es als Chronistin ihre Aufgabe war, das Schicksal jedes Engels festzuhalten. So wusste sie auch über jeden einzelnen Engel Bescheid, der gefallen war. Ich blätterte auf die letzte Seite und spürte einen Stich, als ich Nathaniels Namen las.

»Das ist eine Liste der weltweit gefallenen Engel der letzten fünfzig Jahre«, sagte Marcellus. »Melinda hat für mich mit ihren Kollegen telefoniert und diese Liste zusammengestellt.«

»So effizient wie immer«, fügte Sophie mit freundlicher Anerkennung hinzu.

»Warum hast du einen Zeitraum von fünfzig Jahren gewählt?«, fragte ich Marcellus. »Ist das nicht viel zu lang?«

»Fünfzig Jahre bedeuten für Engel nicht dasselbe wie für Menschen«, sagte Marcellus. »Es könnte durchaus sein, dass sein Fall noch länger her ist, aber ich dachte, wir fangen mit den letzten fünfzig Jahren an.«

»Das sind zu viele Namen«, seufzte Nathaniel, nahm mir die Liste aus der Hand und blätterte sie durch. »So werden wir ihn niemals rechtzeitig finden. Er könnte jederzeit wieder zuschlagen. Verdammt, Marcellus, wie hat er es geschafft, sich an mir vorbeizuschleichen?«

»Mit Hilfe eines Bannfluchs«, schaltete sich Moana ein.

Nathaniel verzog ärgerlich die Lippen, als würde er die Zähne blecken.

»Was ist denn ein Bannfluch?«, fragte ich.

»Das ist ein Zauber, um einen Dämon an einem Ort festzuhalten oder von einem Ort fernzuhalten. Ich kenne einen Dämonenstamm im Amazonasgebiet, der sich auf diese Art von Zauberkunst spezialisiert hat. Richtig angewendet sind Bannflüche sehr effektiv, auch wenn ihre Macht nicht lange anhält.«

»Dann gehört der violettäugige Dämon zu einem Stamm im Amazonas?«, fragte ich erstaunt.

»Nicht unbedingt«, sagte der Colonel. »Die Amazonasdämonen sind Söldner, sie bieten ihre Zauberkunst jedem an, der dafür bezahlt.«

Vielleicht hatte er selbst bereits die Dienste dieses Dämonenstammes in Anspruch genommen. Ein Bannfluch schien mir genau die Art von Waffe zu sein, die dem Colonel gefallen würde.

»Dann hat der violettäugige Dämon meinen Traum mit einem Bannfluch belegt, damit Nathaniel mir nicht folgen konnte?«

»Ich glaube, dass es das Labyrinth war«, sagte Moana nachdenklich. »Das klingt wie ein typischer Zauber der Amazonasdämonen. Er hat dich durch das Labyrinth geschleust, das gleichzeitig Nathaniel ferngehalten hat.«

»Das bedeutet also, wir wissen, wo er sich Hilfe geholt hat, aber nicht, wer er ist«, knurrte Nathaniel, seine Stimmer voller Ungeduld und Frustration.

»Wir wissen einiges über ihn«, sagte der Colonel. »Er ist clever genug, um diese Sache mit dem Bannfluch auf die Beine zu stellen. Die meisten Dämonen lassen sich von ihren Instinkten leiten, sie sind impulsiv und verfügen weder über die Geduld, noch über die geistigen Fähigkeiten, um so etwas zu planen.«

»Ein Haufen Wilder«, ertönte plötzlich Ramiels Stimme neben mir. Ich warf ihm einen verärgerten Blick zu.

»Jetzt tauchst du auf? Ich hätte dich heute während der Klausuren gebraucht, nach allem, was passiert ist.«

Ramiel lehnte sich entspannt zurück. »Du hast es hervorragend ohne meine Hilfe geschafft.«

»Was ist denn sonst noch passiert?«, fragte Sophie besorgt, aber Nathaniel winkte ab.

»Jedenfalls nichts, was mit dem Violettäugigen zu tun hat. Sie sagten, Colonel?«

»Na, hör mal!«, protestierte ich. »Mark und Chrissy trennen sich vielleicht, und Anne … Anne …« Mir wurde bewusst, dass die Aufmerksamkeit der ganzen Runde auf mir lag. »Anne hat persönliche Probleme«, schloss ich.

»Vic, es geht hier um deine Sicherheit«, sagte Nathaniel eindringlich. Gleichzeitig drückte er sanft meine Hand, eine Bitte um Verzeihung für sein schroffes Verhalten.

»Ich glaube, dass dieser Dämon nicht zwangsläufig jung sein muss«, fuhr der Colonel fort. »Die Tatsache, dass er mit den Amazonasdämonen im Bunde war, deutet darauf hin, dass er sich gut in der Dämonenwelt auskennt. Doch weder Marcellus‘ Kontakte, noch ich und meine Männer haben jemals von ihm gehört, und das will etwas heißen. Er scheint wie ein Geist zu sein. Vielleich hat er deshalb so wenig Narben, weil er Kämpfen aus dem Weg geht und sein Gesicht versteckt.«

Nathaniel ließ die Luft zwischen seinen Zähnen entweichen. »Dann haben wir es also mit einem intelligenten Dämon zu tun, der Spezialtricks auf Lager hat und gern aus dem Hintergrund arbeitet. Was sagt uns das?«

»Dass er gefährlicher ist als ein Durchschnittsdämon«, sagte Ramiel trocken. »Er rennt nicht einfach wie eine wildgewordene Bestie auf sein Opfer zu, um es aufzuspießen. Nichts für ungut, Nathaniel.«

Mein Schutzengel warf ihm einen flammenden Blick zu, den Ra lächelnd wegsteckte.

»Aber warum?«, fragte ich. Alle sahen mich an. »Warum hält er sich im Hintergrund, statt wie ein normaler Dämon seiner Aggressivität nachzugeben? Könnte es etwas mit dieser merkwürdigen Augenfarbe zu tun haben?«

Der Colonel und Moana wechselten einen wissenden Blick.

»Es ist nur so, dass diese violetten Augen … mich irgendwie an Nathaniels Augen erinnert haben«, fuhr ich fort und blickte Nathaniel entschuldigend an. »Ich bin außer dir noch keinem Dämon begegnet, dessen Augen nicht rot waren.«

»Halten Sie das für möglich?«, fragte Marcellus den Colonel.

»Die rote Farbe der Augen kommt vom Grad des Bösen, dem der Dämon verfallen ist«, erklärte der Colonel. »Je mehr böse Taten er verübt, desto intensiver und dunkler wird der Rotton.«

»Was sagt uns das jetzt über den Violettäugigen?«, fragte Nathaniel barsch. Er schien mit seiner Geduld am Ende zu sein.

Der Colonel seufzte. »Nur, dass er kein gewöhnlicher Dämon ist.«

»Ist mir egal, was er ist«, knurrte Nathaniel. »Ich will ihn zu fassen kriegen und unschädlich machen, bevor er Victoria noch ein Mal zu nahe kommt.«

»Dabei kann ich dir vielleicht helfen.« Der Colonel öffnete den Reißverschluss der Tasche, die neben ihm auf dem Boden stand. Er zog etwas Schweres heraus und legte es klirrend auf den Tisch. Sophie wich erschrocken zurück.

Es waren Fesseln aus schmiedeeisernen Ketten.

»Was ist das?« Nathaniel griff danach. Doch kaum berührten seine Finger das Metall, sog er scharf die Luft ein und zuckte zurück.

»Das Eisenerz dieser Ketten stammt von geweihtem Boden«, erklärte der Colonel. »Ebenso wie die Kugeln und Klingen, die meine Männer und ich verwenden. Aber diese Ketten haben noch eine weitere besondere Eigenschaft: Ich habe sie von dem Amazonasstamm erworben.«

»Sie sind mit einem Bannfluch belegt?«, fragte Moana leise.

Der Colonel nickte. »Der Fluch ist stark genug, um einen Dämon für eine Weile festzuhalten. Doch irgendwann werden die Ketten brechen, je nachdem, wie stark der Dämon ist.«

»Vorher werde ich diesen Mistkerl stückchenweise zurück in die Hölle befördern«, fauchte Nathaniel.

»Ihr wollt den Dämon fangen?«, fragte ich. »Wie sollen wir das anstellen?«

»Wir müssen ihn in eine Falle locken«, sagte Nathaniel.

»Bringt ihn dazu, sich mit euch auf verfluchtem Boden zu treffen«, riet der Colonel. »Dort fühlen Dämonen sich stark, er wird sich im Vorteil wähnen.«

Ich wandte mich dem Colonel zu. »Verfluchter Boden?«

»Hinrichtungsschauplätze oder Schlachtfelder, zum Beispiel.«

»Wo gibt es denn in Wien ein Schlachtfeld?«

»Auf dem Leopoldsberg«, sagte Marcellus nachdenklich. »1683 schlugen dort die Armeen des Heiligen Römischen Reichs und Polens das osmanische Heer in die Flucht, das Wien belagert hatte. Es gab 20.000 Tote.«

»Außerdem gibt es dort die Leopoldskirche, also geweihten Boden, falls ihr Zuflucht suchen müsst«, sagte Sophie.

»Bleibt die Frage: Wie locken wir den Violettäugigen dorthin?«, fragte Ramiel.

Ich hatte schon eine Idee und blickte Nathaniel in die Augen.

»Kommt nicht in Frage«, knurrte er. »Schlag dir das aus dem Kopf!«

»Was denn?«, wollte Marcellus wissen.

»Sie will es ihm persönlich vorschlagen.«

»Hör mal, wir wissen nicht, wer er ist, oder wie wir an ihn rankommen können. Und offenbar kann er mich träumen lassen, was immer er will, ohne dass wir ihn aufhalten können«, sagte ich. Nathaniels Feuer loderte bei meinen Worten auf. »Also haben wir gar keine andere Möglichkeit, als abzuwarten, bis er wieder in meinen Träumen auftaucht und ich mit ihm sprechen kann.«

»Gefällt mir nicht«, stieß Nathaniel zwischen den Zähnen hervor.

»Ich weiß.« Ich drückte seine Hand. Seine schwarzen Flammen züngelten zwischen meinen Fingern hoch. »Aber er hat mir gestern Nacht nichts getan. Er hat mich … nicht einmal berührt.« Mir wurde diese Tatsache erst bewusst, als ich sie aussprach. »Er hätte mich mit seiner Berührung verletzen können, aber er hat es nicht getan. Er hat nur um Hilfe gebeten.«

»Das ist ein Trick«, protestierte Nathaniel.

»Wenn er wieder auftaucht, dann werde ich ihm sagen, dass wir ihm helfen werden, wenn er sich mit uns auf diesem Schlachtfeld am Leopoldsberg trifft. Dort kannst du ihm dann die Ketten anlegen und ihn fragen, was er will.«

»Ich werde ihn nicht fragen, was er will, Vic!«, stieß Nathaniel fassungslos hervor. »Ich werde ihm eine Lektion erteilen, die er nie wieder vergisst, und die allen anderen Dämonen eine Warnung sein wird, nicht auf die Idee zu kommen, mich mit einem Bannfluch aus deinen Träumen fernzuhalten!«

»Er hat Recht, Vic«, sagte Ramiel ruhig. »Das Letzte, was wir brauchen, ist, dass dieses Beispiel Schule macht.«

Ich atmete tief durch. »Pass auf, Nathaniel. Ich werde ihm sagen, dass er uns auf dem Berg treffen soll, und dann … sehen wir weiter, in Ordnung?«

Nathaniel sah mich entgeistert an. »Du vertraust ihm doch nicht etwa, oder?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nein, es ist bloß … ich weiß auch nicht, er hatte etwas an sich … ach, keine Ahnung. Ich finde es einfach seltsam, dass er so einen Aufwand betreibt, dich aus meinem Traum verbannt und mich dann bloß um Hilfe bittet. Das ist doch seltsam, oder etwa nicht? Ich meine, er hätte mir alles Mögliche antun können, aber stattdessen bittet er um Hilfe. Wir sollten herausfinden, was dahintersteckt, Nathaniel.«

Mein Schutzengel schüttelte fassungslos den Kopf.

Marcellus erhob sich. »Es tut mir leid, aber ich muss euch jetzt verlassen. Es war ein langer Tag, ihr zwei solltet euch ein wenig ausruhen. Lasst mich wissen, sobald sich etwas Neues tut.« Er verabschiedete sich vom Colonel und drückte Sophie einen Kuss auf die Wange. Moana erhob sich ebenfalls und folgte Marcellus.

»Warte«, rief ihm Nathaniel nach. »Wolltest du nicht etwas Wichtiges mit uns besprechen?«

»Nicht heute«, erwiderte sein Mentor und ich erschrak darüber, wie müde er klang. »Heute haben wir andere Probleme, um die ihr euch kümmern müsst.« Damit verließen er und Moana das Apartment.

»Der Kuchen ist hervorragend, Madame Van den Berg«, sagte der Colonel. »Ob ich wohl noch ein Stück …?«

Während Sophie ihm ein weiteres großes Stück Schokoladenkuchen auf den Teller lud, tauschten Nathaniel und ich dunkle Blicke aus und ich wusste, dass wir beide dasselbe dachten.

Was auch immer Marcellus mit sich herumtrug, war möglicherweise noch gravierender als unser Problem mit dem violettäugigen Dämon.

DIE VERSCHWÖRUNG

VignetteBlatt

Als ich an diesem Abend an Nathaniels Brust gekuschelt im Bett lag, fiel mir auf, dass er mich viel fester in seinen Armen hielt als gewöhnlich.

»Mir gefällt der Plan nicht«, brummte er. »Kein bisschen.«

»Hast du eine bessere Idee?«

Seine Antwort war ein frustriertes Knurren.

»Ich habe keine Angst«, murmelte ich, beinahe schon im Halbschlaf. »Ich bin viel zu erledigt, um Angst zu haben.«

»Sehr witzig. Du verlangst von mir, dich einfach einschlafen zu lassen und diesem violettäugigen Dämon auszuliefern? Verdammt noch mal, weißt du überhaupt, was du da von mir erwartest?«

»Du tust so, als ob wir eine Wahl hätten. Was willst du denn machen? Soll ich nie wieder schlafen? Wie wollen wir ihn denn sonst finden?«

Ein dunkles, furchteinflößendes Brummen ertönte aus Nathaniels Brust, während seine Finger in meinem Haar spielten. »Ich werde mich auf die Suche nach diesem Labyrinth machen«, schwor er. »Ich werde diesen Bannfluch brechen und euch finden, und dann mache ich diesem Spuk ein Ende.«

Ich drückte müde einen Kuss auf seine Brust. »Geh nach rechts.«

»Was?«

»An der seltsamen Kreuzung.« Ich konnte kaum noch deutlich sprechen. »Du musst nach rechts gehen …« Von der Müdigkeit übermannt, schlief ich ein.

Diesmal reichte die Hecke um mich herum hoch bis in den Himmel. Es drang kein Sonnenlicht auf den schmalen Weg, dem ich folgte, weil die grünen Mauern rechts und links alles abschirmten. Es war dasselbe Labyrinth wie in der vergangenen Nacht. Als ich die Kreuzung erreichte, wandte ich mich gleich nach rechts und sah die Fußgängerzone am Ende des Wegs.

Ich trat aus dem Labyrinth, das augenblicklich hinter mir verschwand, und fand mich auf dem menschenleeren Stephansplatz wieder.

Wieder war in den Fußgängerzonen niemand zu sehen und kein Geräusch durchbrach die unheimliche Stille. Diesmal ging ich nicht die Straße entlang, sondern hielt direkt auf die Kirche zu. Ich legte meine Hand auf die riesigen, meterhohen Eingangstore und probierte, ob sie sich öffnen ließen. Zu meiner Verwunderung schwangen die Tore auf. Das Innere der Kirche lag in ruhiger Dunkelheit vor mir. Mit einem Fuß auf geweihtem Boden drehte ich mich um und ließ meinen Blick über den leeren Platz vor der Kirche schweifen.

»Ich bin hier!« Meine Stimme wurde von den Mauern der umstehenden Häuser zurückgeworfen. »Wenn du etwas zu sagen hast, dann zeig dich!«

Ich wartete, doch nichts geschah.

»Ich werde den geweihten Boden nicht verlassen!«, rief ich und überzeugte mich davon, dass mein Fuß auch wirklich über der Türschwelle der Kirche stand. Selbst in einem Traum konnten Dämonen geweihten Boden nicht betreten und ich fragte mich, warum dieser Dämon einen solchen Zufluchtsort für mich erschaffen hatte. Doch dann schob ich den Gedanken beiseite und konzentrierte mich auf meine Aufgabe. »Also entweder lässt du dich blicken oder dieser ganze Amazonas-Fluch-Aufwand war umsonst!«

Am Ende der Fußgängerzone, die ich in der vergangenen Nacht entlanggegangen war, erschien ein schwarzer Schimmer. Er näherte sich mir schnell, wurde zu einer Gestalt mit ausgebreiteten Schwingen und erreichte mich binnen weniger Augenblicke.

Er war so groß wie Nathaniel und ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen. Breit und muskelbepackt stand er vor mir, sein Körper von dunklen Flammen umgeben und seine Schwingen glitzernd schwarz.

Seine Augen, diese seltsamen, violetten Augen, ruhten mit einem beinahe gehetzten Ausdruck auf mir.

»Du bist schnell«, sagte ich und versuchte, meiner Stimme einen abgeklärten Klang zu geben, während mein Herz heftig klopfte. Seine dämonische Nähe weckte instinktive Ängste in mir, in abgeschwächter Form, da dies nicht die Realität war, doch mein Körper reagierte trotzdem mit aufsteigender Panik und einem heftigen Fluchtinstinkt.

»Warum hast du mich gestern Nacht bis zur Kirche laufen lassen? Du hättest mich mit Leichtigkeit schon auf der Straße einholen können. War das deine Vorstellung von einer spaßigen Jagd?« Ich verschränkte herausfordernd die Arme und stemmte gleichzeitig mein hinteres Bein fest auf den Kirchenboden, bereit, mich jeden Augenblick ins Innere der Kirche zu werfen.