ALFRED BRENDEL
A bis Z eines Pianisten
EIN LESEBUCH
FÜR KLAVIERLIEBENDE
Zeichnungen von
Gottfried Wiegand
Carl Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-24104-6
Alle Rechte vorbehalten
© Carl Hanser Verlag München 2012
© der Zeichnungen von Gottfried Wiegand
by Jan Wiegand, Bonn
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
E-Book-Konvertierung: Beltz Bad Langensalza GmbH
Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de
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Inhalt
Akkord
Akzente
Anfang
Anschlag
Arpeggio
Aufnahme
Bach
Balance
Bearbeitungen
Beethoven
Brahms
Cantabile
Charakter
Chopin
Crescendo
Diminuendo
Dirigent
Dolce
Einfachheit
Ensemble
Extreme
Fantasie
Fingersatz
Form
Gefühl
Harmonik
Haydn
Humor
Husten
Interpret
Interpretation I
Interpretation II
Jammerklavier
Klang
Klavier
Klavierkonzert
Kleine Noten
Komponist
Kontrolle
Legato
Liebe
Lied
Liszt
Metronom
Mozart
Notentext
Oktaven
Orchester
Pedal
Programme
Puls
Querflügel
Regel
Repertoire
Rhythmus
Ritardando
Rührung
Scarlatti
Schlüsse
Schubert
Schumann
Staccato
Stille
Synkope
Tanz
Temperament
Tempo
Texttreue
Tiefe
Triller
Üben
Übergang
Ungerupft
Variation
Verschiebung
Vielfalt
Virtuosität
Vortragszeichen
Werk und Person
Xenien
Yuck!
Zusammenhang
Vorwort
Dieses Buch destilliert, was ich in vorgerücktem Alter über Musik, Musiker und Angelegenheiten meines Metiers zu sagen habe. Mein zweites Metier, die Literatur, verlangt dabei von mir, daß ich die Dinge einfach sage, ohne sie unzulässig zu vereinfachen. Hier spielt meine Vorliebe für Aphoristisches und Fragmentarisches hinein. Vollständigkeit ist nicht angestrebt. Wer meine Essays (»Über Musik«, Piper) und meine Gespräche mit Martin Meyer (»Ausgerechnet ich«, Hanser) nicht kennt, ist eingeladen, die Lektüre dort in ausgebreiteter Form fortzusetzen. Auf das Interpretationskapitel in »Ausgerechnet ich« möchte ich besonders hinweisen.
Man kann sich der Musik sozusagen mit geschlossenen Augen überlassen, sie ohne Reflexion einfach »machen«. Man kann sie formalisieren, intellektualisieren, psychologisieren, poetisieren. Man kann ihr, wenn man darauf Wert legt, soziologisch sagen, was sie sein darf und was nicht. Man kann den Stücken entnehmen, was sie sind, oder in die Stücke hineintun, was sie sein sollten. Letzteres zumindest habe ich nach Kräften vermieden. Das Bedürfnis, mich der Musik zu stellen, Musik mir ins Bewußtsein zu rücken, Musik und Sprachlust miteinander zu verbinden, hat mich nicht verlassen.
Das von mir verwendete Wort »Großmeister« wird manchen Ohren vielleicht antiquiert klingen oder gar ironische Prägungen wie den Großkritiker oder den Großschriftsteller ins Gedächtnis rufen. Ich möchte, da ich im Deutschen kein Äquivalent für das englische »pre-eminence« gefunden habe, auf das Wort nicht verzichten. Zusätzlich verrät es etwas von der staunenden Verehrung, in die mich große Musik versetzt. Zur Anwendung kommt es dort, wo mir Komponisten in ihrem Umgang mit bestimmten Formen oder Gattungen als überragend erscheinen. Größe, Genie und Meisterschaft sind Vokabeln, ohne die mein Sprachgebrauch nicht auskommt.
Daß die in diesem Buch näher erwähnten Komponistennamen nicht ins 20. Jahrhundert reichen, sollte man nicht mißverstehen. Die Abwesenheit von Würdigungen etwa Debussys und Ravels bis Messiaen und Ligeti hat damit zu tun, daß mein eigenes Repertoire überwiegend einer musikalischen Epoche verpflichtet war, die noch im Cantabile ihre Wurzeln hatte. Ich möchte sie die Blütezeit der Klavierkomposition nennen. Das 20. Jahrhundert hat diese gesangliche Basis dann weitgehend aufgegeben. Wer mich kennt, weiß, wie passioniert ich mich mit der Musik der letzten hundert Jahre als Ohrenzeuge beschäftigt habe. Daß einige wenige Komponisten um 1908/9 es erstmals gewagt haben, die Konsequenz aus der Auflösung der Tonalität zu ziehen, war eine Heldentat, die ich nicht genug bewundern kann. Übrigens habe ich Schönbergs Klavierkonzert 68mal und auf fünf Kontinenten gespielt. Ein Aufsatz, der sich mit diesem Werk auseinandersetzt, steht in meinen Essays.
Ein Wort an die Musikerinnen. Wenn ich von Pianisten rede, sind immer auch die Pianistinnen gemeint. Der leidige deutsche Sprachgebrauch macht es notwendig, um der besseren Lesbarkeit willen den regelmäßigen Hinweis auf das andere Geschlecht zu unterlassen. Die Vereinfachung, obwohl eigentlich unzulässig, ist leider unvermeidlich. Bitte fühlen Sie sich freundlichst eingeschlossen.
Die Niederschrift dieses Buchs wurde in der freundlichen Obhut des Wissenschaftskollegs zu Berlin beendet. Wertvollste Hilfe kam von Monika Möllering, Till Fellner und Maria Majno. Ich widme es den Musikern, die mir Maßstäbe gegeben haben, in Bewunderung und Widerspruch, den Hörern in Dankbarkeit, und den großen Komponisten in Liebe.
London, 2012
Alfred Brendel
A
AKKORD Ein Dirigent sagte mir tatsächlich: »Wenn ein Pianist alle Noten eines Akkords gleich laut spielt, dann ist das eine gute Technik.« Kein Wunder, daß sein eigenes Dirigieren Wärme und Verfeinerung vermissen ließ.
Man achte auf die Mittelstimmen. Akkorde können von innen leuchten.
AKZENTE sind, wenn sie sich nicht auf synkopierte Noten beziehen, fast immer vorzubereiten. Oft übernimmt die Auftaktnote einen Teil – bei Schubert einen guten Teil – der Intensität. Der Anfangsrhythmus der Wandererfantasie klingt so frischer und natürlicher; daktylisch tritt er auf der Stelle. Bei Schubert, dem Akzententhusiasten, wird es oft nötig sein, Akzente ins Gesangliche zu übersetzen. Zunächst muß man allerdings versuchen, seine in den Autographen manchmal allzu groß geratenen Akzentzeichen von Diminuendozeichen zu unterscheiden. Die betonten Horntöne am Anfang der großen C-Dur-Symphonie sollte man lieber nicht anstechen, sondern im ganzen leicht hervorheben.
Bei Beethoven finden wir neben dem üblichen Akzentzeichen noch verschiedene andere Vorschriften und Graduierungen wie sforzando, sforzato, rinforzando, fortepiano, mehrfach wiederholtes forte. Genaues darüber in »Über Musik«, Piper, S. 58–60.
ANFANG Der Pianist betritt das Podium, setzt sich hin, rutscht auf seinem Stuhl herum und schraubt daran, öffnet und schließt die Augen, legt die Finger mehrfach auf die Tasten, greift sich an die Knie, gibt sich einen Ruck und fängt an. Sollte er vielleicht lieber den Klavierstuhl (und den Flügel) vorher ausprobieren, bevor er ohne große Geschichten zu spielen beginnt?
Fast immer, zumindest in der älteren Musik, teilt der Anfang des Werkes oder Satzes dessen Grundcharakter mit. In der Aufführung soll er sofort da sein. Es ist eine wichtige Aufgabe des Interpreten, sich diese Sicherheit zu erwerben.
ANSCHLAG Vielleicht gibt es Spieler, die einen Anschlag im Schilde führen, einen Anschlag auf das Publikum. Der Klang des Flügels wird es ihnen mit gleicher Münze zurückzahlen.
Halten wir uns lieber an freundlichere Wörter wie »touch« und »toucher«.
Um nicht mißverstanden zu werden: Man kann groß, ja gewaltig spielen, ohne den Klang wie mit einem Messer durch die Tasten zu treiben.
ARPEGGIO Nicht nur Notbehelf kleiner Hände, sondern vor allem Ausdrucksmittel. Der Ausdrucksradius der Arpeggien reicht vom Heftigen bis zum Mysteriösen (Beethovens Sonate op. 31 Nr. 2, Beginn).
Daß Arpeggio von »arpa« (Harfe) kommt, wird leicht vergessen. Der Spieler denke an eine schöne Harfenistin, die ihre Arpeggien dynamisch und rhythmisch mit ihren Fingerspitzen kontrolliert. Arpeggien brauchen Sorgfalt und wache Ohren. Wo das Arpeggiandozeichen nicht durchläuft, hören wir zwei simultane Harfen.
AUFNAHME Der Ornithologe Ludwig Koch hatte, wie aus einem BBC-Interview hervorging, das Bedürfnis, an Stelle von Vogelstimmen das Klavierspiel von Johannes Brahms auf einem Wachszylinder festzuhalten. Leider ist alles, was vom 1. Ungarischen Tanz übriggeblieben ist, ein Kratzen und Knacken. In Wirklichkeit fand die Aufnahme auf Betreiben eines Vertreters der Firma Edison im Hause des mit Brahms befreundeten Dr. Fellinger statt. Ludwig Koch beendete sein Interview mit der Eröffnung, er sei ein illegitimer Nachfahre Napoleons, »but it’s a secret«.
Dann kamen die Klaviere, die »von selbst spielten«, als säße da ein Gespenst: das Pianola von Welte-Mignon, die Produkte der Firma Hupfeld (Dea, Duophonola und Triphonola) oder das Ampico-System. Mit Hilfe von durchlöcherten Rollen wurden die Tasten und der Klang des Flügels in Bewegung gesetzt. Auf manchen Instrumenten konnte man zusätzlich das Pedal, die Dynamik und die Geschwindigkeit manipulieren. Daß die pianistischen Berühmtheiten der Zeit vom Ergebnis begeistert waren, ist heute schwer nachzuvollziehen.
Zugleich verbreiteten sich das Trichtergrammophon und die Schallplatte. Wir hören nun die Stimme Vladimir von Pachmanns, des Clowns unter den Chopinspielern, der vor dem Beginn des Minutenwalzers erklärt, er werde in der Reprise »staccato à la Paganjinji« spielen, was er dann auch tut.
Die dreißiger Jahre brachten das Busch- und das Kolisch-Quartett, die Klavierkünstler Fischer, Cortot und Schnabel, die nun wirklich hörbare Magie Furtwänglers in der Sommernachtstraum-Ouvertüre auf Schallplatten zum Vorschein. Hat der »technische Fortschritt« den Klang der Klavieraufnahmen seither wirklich verbessert? Auch die meisten Aufnahmen des Busch-Quartetts aus dieser Zeit haben für mich ihre greifbare Lebendigkeit bewahrt. Wo die technische Entwicklung einen unbestreitbaren Fortschritt darstellt, ist in der Wiedergabe des Orchesters. Allerdings führt dieser Fortschritt manchmal zu dynamischen Grenzwerten: Wo der Abstand von Laut und Leise vom Flüstern bis zum Gebrüll reicht, wird der Hörer einen privaten, schalldicht abgeschotteten Raum brauchen, um solche Extreme ungestraft zu genießen, wenn er nicht etwa, wie beim Musikhören im Auto, ständig das Leiseste hinauf- und das Lauteste herunterschrauben will.
Tonmeister sind moderne Zauberer. Sie können dem Musiker unschätzbare Dienste erweisen, ja blassen Aufführungen Rouge auf die Wangen legen. Sie können aber auch, dem eigenen Ehrgeiz folgend, jede Stimme der Partitur gleichmäßig gut hörbar machen, das Klangbild also zu einer Art Zweidimensionalität reduzieren, die einen wünschen läßt, in einen guten Konzertsaal zurückzukehren, in dem die Streicher noch vor den Bläsern sitzen und die Prioritäten des Dirigenten respektiert werden.
B
BACH