enthält einen durchgeweichten Helden,
der seinem blinden Freund biologisch-dynamisches
Diebesgut unterjubelt und eine demografisch
interessante Familie kennen lernt.
Ich schien die Nacht mit einem Gewaltmarsch über mehrere Distanzen verbracht zu haben, denn beim Erwachen waren Körper und Bett schweißgebadet. Fröstelnd lag ich eine Weile in meinem eigenen Tau und versuchte, mich an mein nächtliches Treiben zu erinnern. Doch ich fand keinen Grund für meinen vollverschweißten Zustand; die Träume, die ich erinnern konnte, waren weder sexueller noch bedrohlicher Natur gewesen, sondern im Gegenteil von einer geradezu empörenden Nichtigkeit. Das erinnerte mich wiederum an Mendelssohn, der von sich sagt, er sei dankbar für jeden nicht gehabten Traum, denn er empfinde seine Tage als derart prall, dass er wenigstens des Nachts seine Ruhe haben wolle. Ich schnellte aus dem Bett, rannte ins Bad, wärmte meine abgesackte Kerntemperatur unter der heißen Dusche wieder auf und begab mich mit Mendelssohns Einkaufsliste in die Stadt.
Schwungvoll und zu neunzig Prozent wieder aus original Lebensfreude bestehend, stemmte ich die Einkaufstüten auf Mendelssohns Küchentisch.
Mendelssohn gab seinen Horchposten am gekippten Küchenfenster auf, zog seine Teleskopohren ein und zischte mich an: »Leise! Bei den Nachbarn rumpelt gerade der Haussegen!« Und wenn ich mich nicht sehr täuschte, entfuhr ihm sogar ein genießerisches Schmatzen. Ja, Herr Mendelssohn – seit seinem zwanzigsten Lebensjahr blind wie eine Kolonie Maulwürfe – hatte im Laufe der blinden Jahre das Gehör eines Luchses sowie gewisse Abhörtechniken entwickelt, die ihn zu einem Leben als Geheimagent befähigt hätten. Wir hatten schon oft und ernsthaft die Eröffnung einer kleinen, feinen Privatdetektei in Erwägung gezogen. Die entsprechenden Räumlichkeiten hätten wir ja schon, denn Mendelssohn hatte sich von seinem Cousin ein Erbe ausbezahlen lassen und damit ein wirklich schönes Stadthaus gekauft, das Makler mit solch schmierigen Formulierungen wie »ein Kleinod« oder »with standing« an den Neureichen zu bringen pflegen.
Das Erdgeschoss bestand aus einem beeindruckend dunkel getäfelten Vestibül, von dem befensterte Schiebetüren links und rechts in große Räume führten. Und einer kleinen Tür in die Küche. Aus den beiden Riesenräumen ließen sich im Handumdrehen echte Detektivbüros machen. Mit schweren Rollkasten-Schreibtischen, potthässlichen Onyx-Aschenbechern, die weniger nach Aschenbecher aussahen als vielmehr nach einem typischen »schweren stumpfen Gegenstand«. Nicht zu vergessen der notorische Garderobenständer, an dem pflichtgemäß ein Hut und ein Regenmantel zu hängen hatten. Ins Vestibül würden wir eine üppige Blondine setzen, die als Sekretärin über einen Vornamen wie »Lizzy« verfügen sollte.
Im ersten Stock gab es ein Schlafzimmer, ein Gästezimmer, ein Zimmer für alles Mögliche (Asservaten?) und ein großes Bad, in dem sich locker eine Art »Labor« unterbringen ließe. Und in den beiden Mansarden unter dem Dach könnten wir obendrein ein paar Helfershelfer, Kronzeugen oder Leiharbeiter parken.
Ich kannte diese Villa inzwischen besser als meine eigene schäbige Einraumbutze, denn ich hatte sie Mendelssohn vor der Kaufentscheidung Stein für Stein beschreiben müssen. Sehr zum Leidwesen des Maklers. Den ich mit einem besonderen Gespür dafür, wo ein Makler seine empfindlichen Weichteile hat, ausführlich gequält hatte: »Also, der Fußboden hier ist schlecht, schlecht, schlecht! Da musst du noch mal ordentlich reinstecken«, oder »Die Fenster sind natürlich der letzte Schrott. Das wird nicht billig!«, oder »Was essen Makler eigentlich zum Frühstück? Kreide? Pomade?«. Wie unschwer zu erkennen, zählen Makler zu meinen natürlichen Feinden. Ich verstehe nicht, warum ein Typ in Ölanzug, mit Ölfrisur und Ölstimme einhunderttausend Euro dafür bekommt, dass er eine Tür aufschließt. Ich bin der Meinung, sämtliche Makler gehören erstens arbeitslos gemacht und dann zweitens in ein Resozialisierungsprogramm. Wo ihnen engagierte Sozialarbeiter das Maklervokabular austreiben sowie ein Gefühl für ehrliche, sinnvolle Arbeit vermitteln.
Seit einer Woche gehörte dieses Kleinod/Schmuckstück/ Idyll nun Mendelssohn. Und überall standen noch immer pralle Umzugskisten, an denen er sich in regelmäßigen Abständen stieß und fluchte. Ein Grund dafür, dass ich ihm verbot, in diesem Sommer kurze Hosen zu tragen, denn seine Beine sahen so schillernd aus, als wäre er den Jakobsweg auf Knien durchgerutscht, eisern und in Todesverachtung von Blankenese bis zum bitteren Santiago de Compostela.
Unser vorläufiges Hauptquartier hatten wir in der Küche aufgeschlagen. Eine große, fast herrschaftliche Küche, in der etwa fünf Köche plus Sous-Chefs plus Küchenjungen ein Bankett hätten herrichten können, ohne sich gegenseitig in die Wachteln oder das Flammerie zu laufen. Schränke, Tische, Kacheln – alles von blendendem Weiß. Eine kleine Treppe führte in den Garten, der bei mir tatsächlich so etwas Unappetitliches wie »Sozialneid« aufkommen ließ: alter, hoher Baumbestand, opulent, aber licht genug, um die Sonne auf das Gras zu lassen; sowie die Strahlen durch die Blätter schimmerten, konnte man meinen, man schaue in ein ruhiges grünes Schwimmbassin. Das Bassin wurde begrenzt durch eine circa ein Meter achtzig hohe, schmale Backsteinwand. Dahinter lag Mendelssohns aktuelles Zielobjekt: die Nachbarn.
Mendelssohn war mir gegenüber hier eindeutig im Vorteil, da es nix zu sehen, aber alles zu hören gab.
Ich begann, Mendelssohns Einkäufe aus- und einzuräumen, während er seine Trichter wieder in Richtung Nachbarschaft ausfuhr. Dann klärte er mich auf: »Also: Da wohnen schätzungsweise drei Personen. Mindestens zwei weibliche und eine männliche. Die männliche hat übrigens eine sehr hübsche Stimme. Sonor, aber trotzdem jugendlich.«
»Soll ich mich über die Mauer hängen und ihn dir beschreiben?«
»Das wäre zu auffällig«, sagte Mendelssohn ernsthaft. Wenn es um eventuell attraktive Männer geht, versteht Mendelssohn keinen Spaß.
»Und was ist mit dem Haussegen?«, fragte ich und stopfte Mendelssohns Müslivorräte in die dickwandigen Glasschütten des alten Hängeschranks.
»Es geht um … soviel ich mitbekommen habe: eine Beziehung.«
»Wie langweilig! Gibt es was langweiligeres, als anderer Leute Beziehung?«
»Das klingt nicht nach langweiliger Beziehung! Eher nach ziemlich bewegter! Glaube ich jedenfalls. Immerhin sind sich alle darüber einig, dass diese Beziehung gelöst werden muss. Streit herrscht allerdings über die Frage, WIE sie am besten zu zerstören sei.«
»Wir sollten Cromwell anrufen.« Mein bester Freund – noch vor Mendelssohn – ist ein herrlich beziehungsgestörter Mensch. Er ist ein Paarungsschreck par excellence, ein wahrer Liebschaftsterminator; er sollte eigentlich T-Shirts mit Aufdrucken wie: »Es ist nicht, was du denkst!«, tragen. Nachdem ich jahrelang sein Balz- und Trennungsverhalten studiert habe, kann ich behaupten: Für eine ordentlich gescheiterte Beziehung rutscht Cromwell auf den Knien von Blankenese nach Santiago.
Mendelssohn begann, prüfend die Einkäufe abzutasten. »Da ist aber nichts aus einem Container dabei?«, fragte er streng. »Nein, nein!«, log ich mit fester Stimme.
Ich gehöre nämlich seit neuestem zu der »Generation Container«: Ich betrete kaum noch Geschäfte durch die Vordertür, sondern radle direkt hinter die Supermärkte und prüfe dort die Abfalltonnen. Meistens sehr erfolgreich. Der Laie ahnt ja nicht, WAS alles weggeworfen wird: angequetschtes Obst, leicht deformiertes Gemüse, just abgelaufene Molkereiprodukte – und die ganze Pracht in absolut genießbarem Zustand und kaum gesundheitsschädlich! Einerseits ist es ganz klar eine nationale Schande, was unsere saubere Gesellschaft angesichts des weltweiten Hungers da so täglich auf den Müll haut. Andererseits habe ich es immerhin geschafft, mich in klammen Monaten völlig kostenlos davon zu ernähren, und dies noch nicht mal schlecht: Da gibt es teure Joghurt-Drinks, die ich mir im echten Leben nie leisten könnte, Paprika, Möhren, Salatköpfe satt, Marzipan (zugegeben etwas trocken), Lachs, Nudelgerichte, wunderbar zähe Mohrenköpfe, und einmal kam ich mit vierzig intakten Bio-Eiern nach Hause. So sehe ich mich weniger als einen dreckigen Tonnenwühler, sondern vielmehr als einen Helden des Überflusses: Meinetwegen ist so manche Möhre, manche Paprika und mancher Handkäse wenigstens nicht umsonst gestorben!
Da die Märkte ihren Ausschuss meist palettenweise in die Tonne werfen, gibt es von einem Produkt immer sehr viel mehr, als ich für den Eigenbedarf mitnehmen könnte. Und so juble ich Mendelssohn bisweilen etwas Gratisgemüse oder sauber eingeschweißten Käse und dergleichen unter. Dabei trage ich aber immer seiner Lebensmittelhysterie Rechnung und schiebe ihm nur Produkte unter, die seinem völlig überzogenen Hygienewahn gerecht werden: originalverpackt, gut verschweißt, unbedenklich und abwaschbar.
Heute war es ein Büschel zart gefleckter Bio-Bananen.
Auch sie passierten anstandslos Mendelssohns Qualitätskontrolle.
Dabei wären wir beide ein Container-Dream-Team: Ich hänge kopfüber in den Tonnen, während Mendelssohn an der Hintertüre lauscht und beim ersten Geräusch Alarm gibt, so dass ich nie mehr – wie schon mehrmals geschehen – von einem Mittagspäuschen machenden oder heimlich rauchenden oder mit vollem Abfalleimer anmarschierenden Verkäufer erwischt würde, der irritiert und angewidert meinen über dem Tonnenrand hin- und herzappelnden Bürzel betrachtet, während ich versuche, ein so solides Gesicht zu machen wie ein Zehnjähriger beim Nachsitzen.
Aus dem Nachbargarten war nun nichts mehr zu hören. Man hatte die Beziehungsdiskussion wohl nach Innen verlegt.
»Wir sollten rübergehen und uns vorstellen. Von wegen guter Ton und Kinderstube, nicht wahr!«
»Wenn′s danach ginge, müssten DIE zu DIR kommen, mit Brot und Salz.« Ich verräumte Mendelssohns ekelhafte Müslischnitten und wurde nachdenklich: »Wieso eigentlich Brot und Salz? Es könnte ja theoretisch auch eine Wurstsemmel sein. Oder ein kaltes Schnitzel mit Kartoffelsalat.«
Mendelssohn, wie aus der Pistole geschossen: »Brot, damit nie Hunger herrscht, und Salz für den Wohlstand. Weil das früher so teuer war wie Gold.« Und er fügte träumerisch hinzu: »Damals hätte mich die Villa maximal ein Viertelpfund Salz gekostet. Und für ein Päckchen Jodsalz hätte der Makler wahrscheinlich die Nachbarn noch obendrauf gelegt.« Er dachte einen Moment nach: »Außerdem muss es auch was Christliches sein. In der Bibel steht ja schließlich: ›Ich bin das Brot des Lebens und ihr seid das Salz der Erde.‹«
Mendelssohn kennt sich – obwohl aus einem unchristlichen Haushalt stammend – wie kein Zweiter aus mit dem Christentum, und sein bevorzugtes Gebiet, ja, geradezu sein Steckenpferd, ist der Katholizismus. Schon als Kind liebte er den Pomp eines Hochamtes, die schicken Verkleidungen von Priestern und Messdienern, die nudeldick aus den Pfeifen quellenden Orgeltöne, den Weihrauch, der einem Kind schon mal einer Dröhnung gleich ins Hirn fahren kann, so dass sich im überforderten Kinderorganismus Eindrücke bester Art ein Stelldichein geben: Es ist laut, es ist bunt, es ist feierlich, und man ist high.
Heutzutage lauscht er an hohen Feiertagen gerne den Übertragungen aus dem Vatikan; in einer grotesken Mischung aus Faszination und Ekel, denn noch immer liebt er die Rituale, dies Klingeln und Hinknien, Aufstehen unter erneutem Gebimmel, während seine Erwachsenenratio die bewusstseinsverengenden Grundsätze der hl. Römischen Kirche verachtet …
»Nee«, sagte Mendelssohn, »die Nachbarn sind zu jung für Brot und Salz. Das kennen die garantiert nicht. Wir gehen mal rüber. Dann können wir nachprüfen, ob ich richtig gehört habe. Übrigens: Wenn ich richtig gehört habe, dann wohnt links von uns niemand. Kein Ton. Vielleicht ein Geisterhaus?«
Das Haus zu unserer Linken war ebenfalls eine einstöckige Villa und ebenfalls von diesem typischen Hamburger Weiß; die ganze mit Kopfstein gepflasterte Straße entlang zogen sich weiße Häuser, die allesamt trotz ihrer Schlichtheit einen so profunden Wohlstand ausstrahlten, wie es wohl nur hanseatische Gebäude zuwege bringen.
Wir gingen in das nach links weisende Zimmer; Mendelssohn lauschte, ich schaute. Das Geisterhaus sah tatsächlich unbewohnt aus. Doch plötzlich hielt vor dem Gartentor ein Auto. Genauer gesagt: ein Cabriolet. Und nicht nur Mendelssohn zuckte zusammen, auch mir gingen die aus dem offenen Wagen aufsteigenden Geräusche durch und durch: Da hörte einer in der Lautstärke eines aus dem Ruder laufenden Hochamtes inklusive kaputter Orgel eine gottverdammte Rap-Musik! Die Bässe wummerten in unser Zimmer hinein, Sprachfetzen klatschten uns um die Ohren, der Motor brummte, während der Chauffeur keine Anstalten machte, auszusteigen und/ oder Ruhe zu geben, sondern im Gegenteil sogar zur Krönung noch drei lange Huptöne über die Kakophonie legte. »Arschloch!«, rief ich erzürnt. Der Chauffeur rührte sich nur einmal, und zwar um erneut zu hupen. Mein Blutdruck schoss in die Höh′, meine Hände ballten sich zu Fäusten: Solcherart Lärm tut mir fast körperlich weh und beschert mir Gewaltfantasien, so schlimme Gewaltfantasien, dass sie es bestimmt mit denen von Stalins Geheimdienstchef Berija aufnehmen könnten, der ja bekanntlich sogar »Arbeit« mit nach Hause nahm bzw. in seinem Privatkeller nach Dienstschluss noch ein wenig weiterfolterte …
Mendelssohn war auch auf hundertachzig. Dieser sonst so besonnene Bursche schrie: »Töte ihn!«, und wir drohten und fluchten uns wechselseitig in Rage. Nach einer sehr langen Weile öffnete sich die Tür des Geisterhauses und heraus trat – ein kurzes Sommerkleidchen. Das Sommerkleidchen flatterte in Segelschuhen auf das Cabrio zu, beugte sich über den Wagenrand, küsste den Chauffeur und stieg dann sehr langsam in das aus allen Rohren brüllende Auto. Sodann erfolgte ein Kavalierstart und das Wummern entfernte sich. »Oha«, sagte Mendelssohn. »Will der das öfter machen?«
Ich beruhigte ihn: »Falls ja, wird uns schon was einfallen. Keine Sorge. Ich kann da Fantasien entwickeln – ich sage nur: Berija!«
Und Mendelssohn ergänzte verträumt: »Nadeln unter die Fingernägel. Oder du lässt ihn seinen CD-Player schlucken.«
»Beides gut!«
»Bei denen geh ich mich aber nicht vorstellen!«
»A propos: Fünfzehn Uhr. Wollen wir?«
»Also los!«
Ich hakte Mendelssohn unter, wir marschierten aus dem Haus durch den kleinen verwilderten Vorgarten und bogen in den ebenfalls verwilderten unserer Nachbarn ein. Auf einem Schild unter dem Klingelknopf stand krakelig der Name »Lövenich«. Ich drückte den Knopf, und statt einer Klingel ertönte eine Art Pausengong wie in einer Schule. Ein unvermutetes Geräusch, das sofort Assoziationen freisetzte: ABC-Schützen, Bohnerwachs, Werken und Brennball. »Schon sympathisch!«, murmelte Mendelssohn.
Dann öffnete sich die Tür und wir standen vor einem langen dünnen Kerlchen von etwa zwanzig Jahren. Eine schmutzige Jeans und ein ebenfalls unreines T-Shirt schlabberten um ihn herum. Er betrachtete uns und sagte vorsichtig: »Ja bitte?«
Mendelssohn holte tief Luft und legte los: Er sei der neue Nachbar. Und wolle sich kurz vorstellen. Und er habe das Haus da gekauft (er deutete wuschig in Richtung Villa, denn »offizielle« Situationen machten ihn stets befangen) und würde sich über eine gute Nachbarschaft freuen. Das Kerlchen schien seltsam erleichtert, trat zur Seite und sagte: »Ja, das ist ja nett! Wollen Sie nicht reinkommen?«
Mendelssohn nickte heftig und wir traten in einen Vorraum, der im Gegensatz zu Mendelssohns Vestibül in hellen Farben gestrichen und mit allerlei Fahrrädern, Fahrradanhängern und unrestaurierten Möbelstücken vollgestopft war. Das Kerlchen schlingerte voraus durch das Wirrwarr und führte uns durch ein großes Wohnzimmer in den Garten. Unter einem riesigen Sonnenschirm standen einige höchst bequem aussehende Gartenmöbel, und darauf lagerten zwei Damen unbestimmbaren Alters.
Ich habe immer wieder Schwierigkeiten, für Mendelssohn das Alter von Menschen einzuschätzen. Ständig liege ich falsch. Mal vertue ich mich um zehn Jahre nach oben, mal um zwanzig nach unten. Diese Mädchen hier schätzte ich auf – na, sagen wir mal: die eine auf dreißig, die andere auf vierzig. Insgesamt also eine Alterszusammensetzung, die viel Raum für Spekulationen ließ: War das Bürschlein ein Sohn? Oder ein Bruder? Oder ein etwas seltsamer Gigolo? Oder waren die Mädels seine Mütter? Oder Cousinen? Oder gar solche Flittchen wie das Sommerkleidchen von gegenüber? Nein, wie Flittchen sahen sie mir nicht aus. Die Ältere trug einen sympathischen Pferdeschwanz zum sommerbesprossten, ernsten Gesicht, die Jüngere einen korrekt-kantig geschnittenen Pagenkopf, allerdings war ihr Blick irgendwie unernst, beinahe schalkhaft. Die beiden richteten sich aus ihren Gelagemöbeln auf, setzten sich zurecht, sahen uns erwartungsvoll an und musterten vor allem Mendelssohns Blindenstock. Das Bürschlein stellte uns als die neuen Nachbarn vor und dann nannte ein jeder seinen Namen. Die Ältere hieß Katharina, die jüngere Laura, und das Bürschlein stellte sich als »Ritchie« vor. Und man möge doch Platz nehmen.
Ich schob Mendelssohn auf eine Holzbank und setzte mich daneben. Der Knabe Ritchie holte zwei Tassen aus dem Haus und schenkte uns Tee ein.
Behutsam bahnte sich das Gespräch an, um bereits keine zehn Minuten später in ein gelockertes Plaudern überzugehen. Offenbar hatten die neuen Nachbarn ihre Zwetschgen beisammen. Sie wirkten auf mich durchaus zurechnungsfähig, sprachen klar und gewandt, zeigten einen angenehmen Humor, gute Tischsitten und überhaupt gefeilte Manieren. Nach einer halben Stunde hatten sie jegliche Scheu abgelegt, befragten Mendelssohn zu seinem Handicap und gaben Gutachten über die übrigen Nachbarn ab: Die Frau aus dem Geisterhaus, das Sommerkleidchen, hieß in Wirklichkeit Marita, man könne sie aber auch ungestraft und zu Recht als »Plumpskuh« bezeichnen. Und ja, der rücksichtslose, Krawall verbreitende Freund der Plumpskuh sei ihnen auch bekannt. Ein wenig von seinem notorischen Klangteppich würde sogar bis in ihr Haus dringen …
Außerdem wohnten in der Straße noch:
1 Journalist nebst Gattin;
1 Zahnarzt nebst Gattin plus Tochter;
1 Verwaltungshirsch, der soo falsch und bösartig sei, dass er sogar einen schweren Krebs besiegt habe, einfach deswegen, weil er selbst noch bösartiger als jener Krebs gewesen sei;
1 Chirurg nebst Freundin
sowie diverse Rentnerinnen und Rentner nebst Hunden und Katzen.
Die familiären Verhältnisse unserer neuen Nachbarn erwiesen sich auch als sehr klar:
Sie waren vier Geschwister (ein Junge und drei Mädchen), lebten seit zehn Jahren in dem Haus, welches ihr Vater für sie gekauft habe, und da man so gut miteinander auskäme, gäbe es auch keinen Grund, an dieser Wohngemeinschaft irgendetwas zu ändern. Dann fragte Mendelssohn nach ihren Berufen.
Katharina-Pferdeschwanz grinste. Laura-Pagenkopf ebenfalls. Ritchie begann umständlich zu erklären: Sie seien noch alle in der Ausbildung.
»Aha«, sagte Mendelssohn und hinter seiner schwarzen Brille türmten sich Fragezeichen.
»Ja«, sagte Laura, »wir sind alle ein bisschen – spätberufen.«
Katharina lächelte fein: »ICH werde demnächst Psychologie studieren. Jura hab ich schon und BWL auch. Außerdem bin ich Goldschmiedin. Aber ich denke, Psychologie wird für mich der richtige Bringer!«
»Aha«, wiederholte Mendelssohn mit noch mehr Fragezeichen.
Laura erklärte, sie habe Kunstgeschichte fertig studiert und werde sich als nächstes wahrscheinlich der Germanistik widmen. Es sei denn, dieses Studium würde ihr – wie sie von einigen Kommilitonen bereits gehört habe – die Freude an der Sprache verderben. Denn dann würde es wohl auf das Studium der Zahnmedizin hinauslaufen. Es könne ja nie schaden, einen Zahnmediziner in der Familie zu haben. Außerdem bastle sie gerne; Reparieren oder Restaurieren sei sowieso ihr Hobby. Und nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: »Obwohl mir die Patisserie auch schmecken könnte!«
Diesmal entfuhr mir ein »Aha«. Und als der Knabe Ritchie erzählte, er werde erst eine Ausbildung zum Autoschlosser machen, um danach eventuell Erzieher zu lernen, blieben sowohl Mendelssohn wie auch ich stumm. Was trieben diese Nachbarn denn sonst noch alles? Hatten sie sich vorgenommen, dass bis zur Rente jeder Berufsstand mindestens ein Mal in ihrer Familie vertreten sein sollte? »Und unsere Jüngste, die Marvie, ist auf der Schauspielschule«, ergänzte Katharina. »Und ihr? Was macht ihr so?«
Mendelssohn erzählte, dass er eigentlich mit Leib und Seele Antiquar gewesen sei, bis ihm die Erblindung leider einen Strich durch die Rechnung gemacht habe. Jetzt sei er einfach eine Mischung aus Frührentner und Privatier. »Und mein Kollege hier« – dabei wies er auf mich, aber ich kam ihm zuvor: »Ich bin bei der Post!«, sagte ich rasch. Das sage ich immer wieder gerne, weil dann keine Nachfragen kommen. Und weil ich es zu kompliziert finde, meinen wahren Broterwerb zu schildern: »Ich schreibe manchmal Texte, aber hauptsächlich hänge ich mit meinen Freunden ab.« Denn danach folgt sofort die Frage: »Welche Art von Texten?«, und ich bin aufgeschmissen. Ich weiß nicht genau, wie man das nennt, was ich mache.
Da wir uns noch in der Frühsommerphase befanden, wanderte die Sonne recht zügig wieder hinter die Erde und der kälteempfindliche Mendelssohn begann zu frösteln. Katharina bot ihm zwar eine Jacke an, aber Mendelssohn und ich brachen auf, unter dem Hinweis, dass da noch einige Kisten auf ihre Entleerung warteten. Die Geschwister Lövenich signalisierten Verständnis und entließen uns mit der Aufforderung, sich bei Fragen, Problemen oder irgendwelchen sozialen Bedürfnissen immer gerne an sie zu wenden.
Ritchie brachte uns zur Tür.
Da hast du aber eine interessante Nachbarschaft«, sagte ich. Mendelssohn bestätigte: »Sie sind weder ruhig noch unauffällig, also auf gar keinen Fall amoklaufende Soziopathen. Und jetzt schilder′ mir ihr Äußeres! Mal sehen, wie richtig ich mit meinem Bild liege!«
Wir gingen in das Richtung »Plumpskuh« weisende Zimmer, das ich mit Blick auf unsere zukünftige Detektei schon mal »Mein Büro« nannte. Mendelssohn setzte sich auf einen Karton, während ich begann, seine Regale zusammenzuschrauben.
»Mit wem soll ich anfangen?«
Mendelssohn tat so, als würde er überlegen und sagte dann erwartungsgemäß: »Mit dem Knaben Ritchie.«
»Okay: Circa zwanzig Jahre alt. Etwa ein Meter achtzig Länge. Braune Haare, braune Augen.«
»Ah!«, machte Mendelssohn.
»Eher dünn als schlank. Leger bis schlampig gekleidet. Ansonsten ein – würde ich mal sagen – frisches, offenes Gesicht. Dann: Katharina, um die vierzig. Hellbraune Haare, braune Augen. Schlank mit ganz leichter Tendenz zum – Stämmigen. Etwa ein Meter fünfundsiebzig. Dann: Laura. Schätze, um die dreißig. Dunkelbraune Haare, nackenlang und wie von Ebenholz. Und jetzt, wo du mich fragst: Ziemlich attraktiv.«
»Warte mal: zwanzig, dreißig und vierzig Jahre? Interessante Kombination! Oder du liegst mal wieder voll daneben und sie sind alle vierundzwanzig. Und dreieiige Zwillinge.«
Das erste Regal stand. Beziehungsweise lehnte. An der Wand. Weil es ansonsten einen Spagat gemacht hätte. Ich beschloss, Mendelssohn nichts davon zu sagen und machte mich an den großen Bruder des Regals: Ein stabiles Element mit Türen. Das würde für Solidität sorgen. Da könnte sich das kleine Spagatregal gut anlehnen.
In diesem Augenblick kam die Plumpskuh zurück nach Hause – das war unschwer zu hören. Wieder grölte es aus dem Cabrio, wieder stand das Auto ein paar Minuten im Leerlauf, dann wieder ein Kavalierstart – keine Frage: Marita und ihr Freund gehörten an die Wand gestellt.
Wir mussten uns dringend etwas einfallen lassen.