Die fünf Bennet-Schwestern sollen standesgemäß unter die Haube gebracht werden, das ist das erklärte Ziel ihrer Mutter. Als der attraktive und vermögende Mr. Darcy in das Leben der Bennets tritt, scheint der perfekte Schwiegersohn und Ehemann für Elizabeth gefunden. Wäre er der klugen und stolzen jungen Frau aufgrund seiner blasierten Überheblichkeit nur nicht so unsympathisch — und damit als Ehemann gänzlich ungeeignet … Doch nicht nur für Elizabeth, auch für ihre Schwestern wird das Finden eines Ehemannes zu einer nicht gerade leichten Aufgabe. Denn in einer Gesellschaft, in der sich der Heiratsmarkt nach Stand und Vermögen richtet, Gefühle sich jedoch nur selten an Regeln halten, gilt es Eitelkeiten, Vorurteile und den eigenen Stolz zu überwinden, um das wirkliche Glück zu finden!

 

Jane Austen (1775-1817) hatte dank der umfangreichen Bibliothek des Vaters schon früh Zugang zur Literatur. 1811 erschien ihr erster Roman, Verstand und Gefühl, gefolgt von Stolz und Vorurteil (1813), Mansfield Park (1814) und Emma (1816). Bis heute ist Jane Austen eine der beliebtesten und meistgelesenen Autorinnen der Weltliteratur — was nicht zuletzt daran liegt, dass ihre Romane gleichermaßen von Gefühl, Intellekt und Witz getragen sind und auch noch 200 Jahre nach Erscheinen höchst modern sind.

Jane Austen

Stolz und Vorurteil

Roman

Aus dem Englischen von Margarete Rauchenberger

Vollständig neu bearbeitet von Ursula Gräfe

Insel Verlag

Stolz und Vorurteil

Erstes Kapitel

Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle, der ein schönes Vermögen besitzt, zu seinem Glück nur noch einer Frau bedarf.

Wie wenig man auch über die Gefühle und Ansichten eines solchen Mannes weiß, wenn er zum ersten Mal in eine Gegend kommt, ist diese Wahrheit doch so fest in den Köpfen der ansässigen Familien verankert, dass er als rechtmäßiges Eigentum der einen oder anderen ihrer Töchter betrachtet wird.

»Mein lieber Mr. Bennet«, sagte eines Tages seine Gemahlin zu selbigem, »hast du schon gehört, dass Netherfield Park endlich vermietet ist?«

Mr. Bennet erwiderte, er habe es nicht gehört.

»Aber es ist so«, sagte sie. »Mrs. Long war soeben hier und hat mir alles genau erzählt.«

Mr. Bennet gab keine Antwort.

»Willst du denn gar nicht wissen, an wen?«, rief seine Frau ungeduldig.

»Du willst es mir erzählen, und ich habe nichts dagegen, es mir anzuhören.«

Einer weiteren Aufforderung bedurfte es nicht.

»Denke dir, mein Lieber, Mrs. Long sagt, dass Netherfield von einem vermögenden jungen Mann aus dem Norden übernommen wird, dass er am Montag in einem Vierspänner vorgefahren ist, um das Anwesen zu besichtigen, und so entzückt davon war, dass er sich sofort mit Mr. Morris einig wurde. Er will noch vor Michaeli einziehen, und schon Ende nächster Woche siedelt ein Teil seiner Dienerschaft über.«

»Wie heißt er denn?«

»Bingley.«

»Ist er verheiratet oder ledig?«

»Oh, selbstverständlich ledig, mein Lieber! Ein Junggeselle mit einem ansehnlichen Vermögen: vier- oder fünftausend im Jahr. Was für ein Glück für unsere Mädchen!«

»Wieso? Was haben denn unsere Mädchen damit zu tun?«

»Mein lieber Mr. Bennet«, entgegnete seine Frau, »wie kannst du nur so schwer von Begriff sein! Natürlich wünsche ich mir, dass er eine von ihnen heiratet. Kannst du dir das nicht denken?«

»Und aus diesem Grund lässt er sich hier nieder?«

»Unsinn, was redest du! Aber es besteht doch immerhin die Möglichkeit, dass er sich in eine von ihnen verliebt, und deshalb musst du ihm deine Aufwartung machen, sobald er hier ist.«

»Dazu sehe ich keinen Anlass! Geh du doch mit den Mädchen! Oder schick sie alleine hin, was vielleicht ratsamer wäre, denn du bist ebenso hübsch wie jede von ihnen, sodass womöglich du Mr. Bingley von allen am besten gefällst.«

»Mein Lieber, du schmeichelst mir. Früher bin ich gewiss nicht ganz unansehnlich gewesen, aber ich bilde mir nicht ein, dass ich noch etwas Besonderes bin. Und wenn eine Frau fünf erwachsene Töchter hat, sollte sie den Gedanken an ihre eigene Schönheit aufgeben.«

»Wenn sie das tut, ist meist nicht mehr viel davon übrig.«

»Mein Lieber, du musst Mr. Bingley unbedingt einen Besuch abstatten, wenn er unser Nachbar wird.«

»Das ist mehr, als ich versprechen kann!«

»Denk doch an deine Töchter! Denk doch mal, was für eine gute Partie eine von ihnen machen könnte. Sir William und Lady Lucas wollen ihn auch besuchen, und nur aus diesem Grund. Denn, wie du weißt, machen die beiden im Allgemeinen keine Antrittsbesuche. Du musst hingehen! Wir können ihn unmöglich aufsuchen, wenn du es nicht tust.«

»Du nimmst es allzu genau. Ich bin überzeugt, Mr. Bingley wird sich sehr freuen, euch zu sehen, und ich will dir ein paar Zeilen an ihn mitgeben, aus denen er mein herzliches Einverständnis zur Heirat mit einer meiner Töchter seiner Wahl entnehmen mag, obwohl ich für meine kleine Lizzy gern ein besonders gutes Wort einlegen würde.«

»Das wirst du nicht tun! Lizzy ist um nichts besser als die anderen. Sie ist nicht halb so hübsch wie Jane und hat nicht halb so ein heiteres Gemüt wie Lydia. Aber sie war ja immer dein Liebling.«

»Keine von ihnen ist besonders bemerkenswert«, erwiderte Mr. Bennet. »Sie sind genauso albern und unwissend wie alle anderen jungen Mädchen auch. Aber Lizzy ist wenigstens ein bisschen aufgeweckter als ihre Schwestern.«

»Was für eine geringe Meinung du von deinen eigenen Kindern hast! Es macht dir Spaß, mich zu ärgern. Aber du hast ja noch nie Rücksicht auf meine armen Nerven genommen.«

»Du tust mir Unrecht, meine Liebe. Ich habe den größten Respekt vor deinen Nerven. Sie sind alte Freunde von mir, und seit wenigstens zwanzig Jahren lausche ich voller Anteilnahme, wenn du von ihnen sprichst.«

»Ach, du weißt nicht, was ich leide.«

»Aber ich hoffe, du wirst es verwinden und noch erleben, dass viele junge Männer mit viertausend Pfund im Jahr sich in unserer Nachbarschaft ansiedeln.«

»Es wird uns nichts nützen, selbst wenn ihrer zwanzig kämen, da du sie ja doch nicht besuchen willst.«

»Du kannst dich darauf verlassen, meine Liebe, sobald es zwanzig sind, werde ich sie alle besuchen.«

Mr. Bennets Persönlichkeit zeichnete sich durch eine Mischung aus Schlagfertigkeit, Sarkasmus, Distanz und Launenhaftigkeit aus, und seine Frau hatte ihn auch nach dreiundzwanzig Ehejahren noch nicht durchschaut. Ihr Wesen war weniger unergründlich. Sie war eine einfältige Frau mit wenig Bildung und unberechenbarem Temperament. Wenn sie schlechte Laune hatte, schob sie es auf ihre Nerven. Ihre Lebensaufgabe bestand darin, ihre Töchter unter die Haube zu bringen, und ihre einzige Freude waren Besuche, Klatsch und Tratsch.

Zweites Kapitel

Mr. Bennet machte Bingley als einer der Ersten seine Aufwartung. Er hatte das von Anfang an so beabsichtigt, obgleich er seine Frau bis zuletzt in dem Glauben ließ, es nicht tun zu wollen, sodass sie erst am Abend nach dem Besuch auf folgende Weise davon erfuhr. Er schaute seiner zweitältesten Tochter zu, die damit beschäftigt war, einen Hut aufzuputzen, als er plötzlich sagte: »Hoffentlich gefällt er Mr. Bingley, Lizzy.«

»Wir werden nie erfahren, was Mr. Bingley gefällt«, entgegnete ihre Mutter missmutig, »da wir ihn doch nie kennenlernen werden.«

»Aber Mama, du vergisst, dass wir ihm auf Gesellschaften begegnen werden«, meinte Elizabeth, »und Mrs. Long versprochen hat, ihn uns vorzustellen.«

»Ich glaube nicht, dass Mrs. Long etwas Derartiges tun wird. Sie hat selbst zwei Nichten und ist eine selbstsüchtige, unaufrichtige Frau. Ich habe keine hohe Meinung von ihr.«

»Ich auch nicht«, pflichtete Mr. Bennet ihr bei, »und ich freue mich, dass ihr nicht auf ihre Hilfe angewiesen seid.«

Mrs. Bennet würdigte ihren Mann keiner Antwort, aber da sie ihren Unmut nicht länger zu beherrschen vermochte, fing sie an, eine ihrer Töchter zu schelten.

»Huste doch nicht dauernd, Kitty, um Himmels willen! Nimm ein wenig Rücksicht auf meine Nerven. Du zerreißt sie ja förmlich.«

»Kitty hustet ohne jedes Taktgefühl«, sagte ihr Vater, »immer im falschen Augenblick.«

»Ich huste nicht zu meinem Vergnügen«, gab Kitty patzig zurück.

»Wann ist euer nächster Ball, Lizzy?«

»Morgen in vierzehn Tagen.«

»Ja, das stimmt«, rief die Mutter, »und da Mrs. Long erst am Tag zuvor zurückkommt, ist es ganz ausgeschlossen, dass sie uns Mr. Bingley vorstellt, denn sie kennt ihn ja selbst noch nicht.«

»Dann hast du deiner Freundin etwas voraus, meine Liebe, und kannst Mr. Bingley ihr vorstellen.«

»Ausgeschlossen, Mr. Bennet! Ausgeschlossen! Ich kenne ihn doch gar nicht, wie kannst du mich so zum Besten halten?«

»Ich bewundere deine Umsicht. Eine Bekanntschaft von vierzehn Tagen ist natürlich noch sehr oberflächlich. Nach so kurzer Zeit kann man einen Mann nicht wirklich kennen. Aber wenn wir es nicht wagen, wird es ein anderer tun. Schließlich müssen Mrs. Long und ihre Nichten auch ihr Glück versuchen. Sie wird es für einen Freundschaftsdienst halten. Aber wenn du nicht willst, kann ich das übernehmen.«

Die Mädchen sahen ihren Vater überrascht an, während Mrs. Bennet nur »Unsinn, Unsinn!« sagte.

»Was bedeutet dieser nachdrückliche Einwurf?«, fragte ihr Gatte. »Betrachtest du die Formen der Vorstellung und die ihnen beigemessene Bedeutung als Unsinn? Da kann ich dir ganz und gar nicht beipflichten. Was sagst du dazu, Mary? Du bist eine tiefsinnige junge Dame, die bedeutsame Bücher liest und daraus exzerpiert.«

Mary hätte zu gern etwas sehr Kluges gesagt, aber es fiel ihr nichts ein.

»Während Mary ihre Gedanken ordnet«, fuhr er fort, »wollen wir zu Mr. Bingley zurückkehren.«

»Ich kann den Namen nicht mehr hören«, rief seine Frau.

»Es tut mir leid, das zu erfahren! Aber warum hast du mir das nicht eher gesagt? Hätte ich das schon heute Morgen gewusst, wäre ich nie zu ihm gegangen. Das trifft sich ja nun sehr ungünstig aber da ich ihm nun einmal einen Besuch gemacht habe, können wir der Bekanntschaft nicht mehr aus dem Weg gehen.«

Die Verblüffung der Damen entsprach genau seinen Wünschen, und Mrs. Bennets Erstaunen übertraf womöglich noch das ihrer Töchter. Doch als der erste Freudentaumel sich gelegt hatte, behauptete sie, ohnehin die ganze Zeit nichts anderes erwartet zu haben.

»Wie reizend von dir, mein lieber Mr. Bennet! Aber ich wusste, ich würde dich schließlich doch überzeugen, und deine Töchter sind dir zu lieb, um ihnen eine derartige Bekanntschaft vorzuenthalten. Ach, wie mich das freut! Und welch netter Scherz, dass du heute Morgen schon bei ihm warst, ohne uns auch nur ein Wort davon zu sagen.«

»Jetzt kannst du husten, so viel du willst, Kitty.« Mit diesen Worten verließ Mr. Bennet, erschöpft von der Begeisterung seiner Frau, den Raum.

»Was habt ihr doch für einen wunderbaren Vater!«, sagte sie zu ihren Töchtern, als die Tür sich geschlossen hatte. »Ich weiß gar nicht, wie ihr ihm je für seine Güte danken könnt. Und mir ebenfalls! Glaubt mir, in unserem Alter ist es gar nicht angenehm, jeden Tag neue Bekanntschaften zu machen, aber um euretwillen würden wir alles tun. Lydia, mein Liebling, obgleich du die Jüngste bist, wird Mr. Bingley auf dem nächsten Ball sicher auch mit dir tanzen.«

»Oh, da bin ich nicht bange«, verkündete Lydia selbstsicher, »denn ich bin zwar die Jüngste, aber auch die Größte.«

Den Rest des Abends erging man sich in Vermutungen, wann Mr. Bingley den Besuch des Vaters wohl erwidern würde und wann man ihn zum Essen einladen solle.

Drittes Kapitel

Trotz aller Bemühungen gelang es Mrs. Bennet und ihren fünf Töchtern nicht, dem Hausherrn eine zufriedenstellende Beschreibung von Mr. Bingley zu entlocken. Sie bestürmten ihn mit unverblümten Fragen, scharfsinnigen Vermutungen und abwegigen Mutmaßungen, doch er widerstand all ihren Finessen. Schließlich mussten sie sich mit der Auskunft ihrer Nachbarin Lady Lucas begnügen, deren Bericht höchst günstig ausfiel. Sir William sei begeistert von ihm gewesen. Mr. Bingley sei jung, ausgesprochen gutaussehend, äußerst zuvorkommend und beabsichtige, als Krönung des Ganzen, mit einer größeren Gesellschaft auf dem nächsten Ball zu erscheinen. Besser konnte es gar nicht kommen! Eine Vorliebe fürs Tanzen war oft der erste Schritt zur Liebe, und so machte man sich lebhafte Hoffnungen auf Mr. Bingleys Herz.

»Könnte ich nur eine meiner Töchter glücklich in Netherfield unterbringen«, sagte Mrs. Bennet zu ihrem Gatten, »und die anderen ebenso gut verheiraten, wäre ich wunschlos glücklich.«

Einige Tage später machte Mr. Bingley seinen Gegenbesuch und verbrachte ungefähr zehn Minuten bei Mr. Bennet in der Bibliothek. Er hatte gehofft, auch den jungen Damen vorgestellt zu werden, von deren Schönheit er schon viel gehört hatte, aber zu sehen bekam er nur ihren Vater. Die Damen waren in einer etwas glücklicheren Lage, denn sie vermochten sich immerhin von einem Fenster des oberen Stockwerks aus zu vergewissern, dass er einen blauen Rock trug und einen Rappen ritt.

Kurz darauf erging eine Einladung zum Essen. Mrs. Bennet hatte bereits ein Menü zusammengestellt, das jeder Hausfrau zur Ehre gereicht hätte, als eine Antwort eintraf, die alles umstieß. Mr. Bingley musste am nächsten Tag in der Stadt sein, und daher war es ihm nicht möglich, die Ehre ihrer Einladung anzunehmen. Mrs. Bennet war verzweifelt. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, was er so kurz nach seiner Ankunft in Hertfordshire schon wieder in der Stadt zu tun haben sollte. Die Furcht stieg in ihr auf, er würde stets von einem Ort zum anderen unterwegs sein und seine Zelte nie endgültig in Netherfield aufschlagen, wie es eigentlich hätte sein sollen. Lady Lucas beruhigte sie ein wenig mit der Vermutung, er sei wahrscheinlich nach London gefahren, um eine größere Gesellschaft zum Ball einzuladen. Und in der Tat folgte bald der Bericht, dass Mr. Bingley mit zwölf Damen und sieben Herren erscheinen würde. Die Mädchen waren über die Zahl der Damen sehr betrübt, vernahmen jedoch am Tag vor dem Ball die tröstliche Nachricht, er habe nur sechs Damen aus London mitgebracht — seine fünf Schwestern und eine Cousine. Doch als die Gesellschaft dann den Ballsaal betrat, bestand sie nur aus fünf Personen — Mr. Bingley, zwei seiner Schwestern, dem Gatten der ältesten und einem weiteren jungen Mann.

Mr. Bingley war gutaussehend und ein Gentleman, hatte ein zuvorkommendes Auftreten und benahm sich gelassen und ungekünstelt.

Seine Schwestern waren schöne und ausgesprochen elegante Frauen. Sein Schwager Mr. Hurst sah aus wie jeder andere Gentleman, aber sein Freund, Mr. Darcy, zog bald die Aufmerksamkeit aller auf sich, was an seiner hochgewachsenen Gestalt, seinen ebenmäßigen Zügen, seinem vornehmen Auftreten und dem fünf Minuten nach seiner Ankunft bereits umgehenden Gemunkel lag, er verfüge über zehntausend Pfund im Jahr. Die Herren nannten ihn einen schönen Mann, die Damen fanden ihn viel besser aussehend als Mr. Bingley, und er wurde während der ersten Hälfte des Abends mit großer Bewunderung betrachtet, bis er mit seinem Benehmen solchen Anstoß erregte, dass seine Beliebtheit dahin war. Man entdeckte, dass er eingebildet war und sich über die Gesellschaft, in der er sich befand, und ihre Vergnügungen erhaben fühlte. Selbst sein ausgedehnter Besitz in Derbyshire konnte ihn nicht davor bewahren, dass man sein Auftreten als höchst unerzogen und unangenehm empfand und ihn des Vergleiches mit seinem Freund für unwürdig hielt.

Mr. Bingley hatte sich bald mit den Honoratioren im Saal bekannt gemacht. Er war lebhaft und aufgeschlossen, ließ keinen Tanz aus, und, enttäuscht über das frühzeitige Ende des Balles, sprach er sogar davon, selbst einen Ball in Netherfield geben zu wollen. Derartige Liebenswürdigkeit sprach für sich selbst. Welch himmelweiter Unterschied zwischen ihm und seinem Freund! Mr. Darcy tanzte nur einmal mit Mrs. Hurst und einmal mit Miss Bingley. Er lehnte es ab, anderen Damen vorgestellt zu werden, und verbrachte den übrigen Abend damit, im Saal umherzuwandern oder gelegentlich mit einem seiner Bekannten zu sprechen. Man hatte seinen Charakter durchschaut: Er war der arroganteste und unangenehmste Mann der Welt, und man konnte nur hoffen, er würde sich nie wieder blicken lassen. Zu seinen heftigsten Gegnerinnen zählte Mrs. Bennet, deren Abneigung gegen sein allgemeines Benehmen sich in regelrechte Feindschaft verwandelte, nachdem er eine ihrer Töchter brüskiert hatte.

Elizabeth Bennet hatte wegen des Mangels an Herren zwei Tänze auslassen müssen. Einen Teil dieser Zeit hatte Mr. Darcy so in ihrer Nähe gestanden, dass sie eine Unterhaltung zwischen ihm und Mr. Bingley mitanhören musste, als Letzterer die Tanzfläche für ein paar Minuten verließ, um seinen Freund zum Tanzen zu drängen.

»Komm, Darcy, du musst tanzen. Es gefällt mir nicht, dich so albern allein herumstehen zu sehen. Tanz doch lieber.«

»Kommt nicht infrage. Du weißt, wie ich es verabscheue, mit einer Unbekannten zu tanzen. Bälle wie dieser sind mir einfach unerträglich. Deine Schwestern sind vergeben, und im ganzen Saal gibt es keine andere Frau, mit der zu tanzen keine Strafe für mich bedeuten würde.«

»Nicht um alles in der Welt möchte ich so wählerisch sein wie du«, rief Bingley. »Ich habe noch nie so viele hübsche Mädchen auf einem Fleck gesehen wie heute Abend! Einige von ihnen sind sogar ungewöhnlich schön.«

»Du tanzt mit dem einzigen hübschen Mädchen im ganzen Saal«, entgegnete Mr. Darcy und blickte dabei die älteste Miss Bennet an.

»Ja, sie ist das schönste Geschöpf, das ich je gesehen habe! Aber unmittelbar hinter dir sitzt eine ihrer Schwestern, die hübsch und obendrein charmant ist. Komm, ich bitte meine Tänzerin, dich vorzustellen.«

»Welche meinst du?« Er drehte sich um und musterte Elizabeth einen Moment, bis ihre Augen einander begegneten, um sich sogleich kühl abzuwenden. »Sie ist ganz passabel, aber nicht hübsch genug, um mich zu reizen«, sagte er. »Außerdem bin ich nicht in der Stimmung, mich junger Damen anzunehmen, die von anderen Männern übersehen werden. Geh zu deiner Tänzerin zurück und erfreue dich an ihrem Lächeln, denn mit mir verschwendest du nur deine Zeit.«

Mr. Bingley folgte seinem Rat. Mr. Darcy schlenderte weiter, und Elizabeth blieb mit wenig herzlichen Gefühlen für ihn zurück. Sie erzählte diesen Vorfall ihren Freundinnen, denn sie hatte ein lebhaftes, heiteres Gemüt und Vergnügen an allem Lächerlichen.

Insgesamt verbrachten die Damen der Familie Bennet einen sehr angenehmen Abend. Mrs. Bennet war nicht entgangen, dass die Herrschaften aus Netherfield ihre älteste Tochter sehr bewundert hatten. Mr. Bingley hatte zweimal mit ihr getanzt, und auch seine Schwestern hatten sie mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Jane war darüber ebenso erfreut wie ihre Mutter, nur zeigte sie es nicht so, aber Elizabeth spürte ihre Freude. Mary hatte gehört, wie jemand Miss Bingley erzählte, sie sei das klügste Mädchen der Gegend. Und zu ihrem Glück waren auch Catherine und Lydia nie ohne Tänzer gewesen, ihre Hauptsorge bei einem Ball. Daher kehrten sie in bester Stimmung nach Longbourn zurück, die Ortschaft, in der sie lebten und deren angesehenste Bewohner sie waren. Mr. Bennet war noch nicht zu Bett. Über seinen Büchern vergaß er häufig die Zeit, und heute war er außerdem recht neugierig auf den Verlauf des Abends, der solch hohe Erwartungen geweckt hatte. Er hatte eigentlich gehofft, die Hoffnungen seiner Frau auf den Fremden würden enttäuscht, aber er fand bald heraus, dass ihm eine andere Geschichte bevorstand.

»Oh! Mein lieber Mr. Bennet, es war ein entzückender Abend, ein wunderschöner Ball«, rief seine Gattin, als sie das Zimmer betrat. »Ich wünschte, du wärest dabei gewesen! Jane wurde so bewundert, es war unvergleichlich! Alle sagten, wie hübsch sie sei. Mr. Bingley fand sie sehr schön und tanzte zwei Mal mit ihr! Denk dir nur, mein Lieber, er tanzte wirklich zwei Mal mit ihr! Sie war die Einzige im Saal, die er zwei Mal aufforderte! Zuerst bat er Miss Lucas. Darüber habe ich mich sehr geärgert. Aber sie gefiel ihm überhaupt nicht — wie wäre es auch anders möglich gewesen? Aber als Jane durch den Saal tanzte, schien er wie vom Donner gerührt. Sofort ließ er sich vorstellen und bat um die nächsten beiden Tänze. Den dritten Tanz in der zweiten Hälfte tanzte er dann mit Miss King, den vierten mit Maria Lucas, den fünften wiederum mit Jane und den sechsten und den Boulanger mit Lizzy.«

»Wenn er nur ein wenig Mitgefühl mit mir hätte«, rief ihr Gatte ungeduldig, »hätte er nur halb so viel getanzt! Um Gottes willen erzähl mir nichts mehr von seinen Tänzerinnen! Ach, hätte er sich doch beim ersten Tanz den Fuß verstaucht!«

»Weißt du, mein Lieber«, fuhr Mrs. Bennet unbeirrt fort, »ich bin ganz entzückt von ihm. Er ist so gutaussehend! Und seine Schwestern sind reizende Damen. In meinem ganzen Leben habe ich keine elegantere Garderobe gesehen. Ich möchte sagen, die Spitzen auf Mrs. Hursts Toilette …«

Hier wurde sie wieder unterbrochen. Mr. Bennet wollte nichts über Toiletten hören. Sie musste daher nach einem neuen Thema suchen, und so berichtete sie mit großer Erbitterung und einiger Übertreibung von Mr. Darcys schockierendem und unhöflichem Benehmen.

»Ich kann dir versichern«, fügte sie hinzu, »dass Lizzy nicht viel versäumt, wenn sie seinem Geschmack nicht entspricht, denn er ist ein höchst unangenehmer, grässlicher Mann und nicht wert, dass man sich um ihn bemüht. Er gibt sich so erhaben und hochmütig, dass es einfach nicht zum Aushalten ist! Er stolzierte hierhin und dorthin und kam sich sehr großartig vor! ›Nicht hübsch genug, um mit ihr zu tanzen.‹ Ich wünschte, du wärest da gewesen, mein Lieber, um ihm eine deiner Abfuhren zu erteilen. Ich verabscheue diesen Mann.«

Viertes Kapitel

Als Jane mit Elizabeth allein war, gestand Erstere, die zunächst mit ihrem Lob für Mr. Bingley sehr zurückhaltend gewesen war, wie sehr er ihr gefallen hatte.

»Er ist gerade so, wie ein junger Mann sein soll: vernünftig, vergnügt und lebhaft. Ich habe noch nie so angenehme Umgangsformen erlebt. Er ist so ungezwungen und dabei doch vollkommen wohlerzogen!«

»Außerdem sieht er sehr gut aus«, erwiderte Elizabeth. »Wie es sich ja auch für einen jungen Mann gehört. Es ergänzt seinen Charakter.«

»Ich war so geschmeichelt, als er mich ein zweites Mal zum Tanz aufforderte. Eine solche Auszeichnung hätte ich nie erwartet.«

»Wirklich nicht? Aber ich. Und das ist der große Unterschied zwischen uns. Immer überraschen dich die Komplimente, die du bekommst, mich nie. Was wäre wohl natürlicher, als dich ein zweites Mal aufzufordern? Es konnte ihm einfach nicht verborgen bleiben, dass du fünfmal hübscher bist als jedes andere weibliche Wesen im Saal. Das war keine besondere Auszeichnung. Ja, er ist sehr nett, und ich gestatte dir, ihn zu mögen. Immerhin hast du schon größere Dummköpfe gemocht.«

»Aber Lizzy!«

»Doch! Du neigst viel zu sehr dazu, alle Menschen gernzuhaben. Du siehst bei niemandem einen Fehler. In deinen Augen ist die ganze Welt gut und freundlich. In meinem ganzen Leben habe ich nie gehört, dass du schlecht über jemanden gesprochen hättest.«

»Ich möchte nicht voreilig urteilen, aber ich sage immer, was ich denke.«

»Das weiß ich, und das ist ja gerade das Wunder. Dass du, mit deinem gesunden Menschenverstand, so blind für die Albernheiten und den Unsinn der anderen bist! Geheuchelte Aufrichtigkeit ist weit verbreitet — man begegnet ihr überall. Aber ohne Hintergedanken aufrichtig zu sein, in jedem Menschen nur das Gute zu sehen und es sogar noch besser zu machen und sich gegen das Schlechte zu verschließen — das findet man nur bei dir. Deshalb magst du auch seine Schwestern. Aber glaub mir, sie können ihm nicht das Wasser reichen.«

»Wenigstens nicht auf den ersten Blick. Aber wenn man sich mit ihnen unterhält, sind sie reizend. Miss Bingley wird hier bei ihrem Bruder bleiben und ihm den Haushalt führen, und ich müsste mich sehr irren, wenn wir in ihr nicht eine angenehme Nachbarin fänden.«

Elizabeth hörte schweigend, aber keineswegs überzeugt zu. Das Benehmen der beiden Damen auf dem Ball war nicht dazu angetan gewesen, allen zu gefallen. Von schnellerer Auffassungsgabe und weniger beeinflussbar als ihre Schwester, hatte Elizabeth einen klareren Blick, und ihr Urteil war auch nicht durch kleine Freundlichkeiten zu trüben, die man ihr erwies. Sie war jedenfalls nicht sonderlich begeistert von Mr. Bingleys Schwestern. Zwar waren sie durchaus wohlerzogen und auch charmant, solange alles nach ihrem Kopf ging, und besaßen die Fähigkeit, sich angenehm zu machen, wenn es ihnen beliebte, dennoch waren sie stolz und dünkelhaft. Beide waren ausgesprochen hübsch und auf einer der ersten Privatschulen Londons erzogen worden. Ihr Vermögen belief sich auf zwanzigtausend Pfund, und sie waren es gewohnt, mehr auszugeben, als sie sollten. Sie verkehrten in den ersten Kreisen und fühlten sich daher in jeder Weise berechtigt, gut von sich und gering von anderen zu denken. Sie stammten aus einer angesehenen Familie Nordenglands — ein Umstand, der sich ihnen tiefer eingeprägt hatte als jener, dass ihr Geld und das ihres Bruders durch Handel erworben worden war. Mr. Bingley hatte von seinem Vater ein Vermögen von fast einhunderttausend Pfund geerbt. Der alte Herr hatte sich für diese Summe ein Landgut kaufen wollen, war aber zuvor verstorben. Mr. Bingley verfolgte den gleichen Plan, konnte sich jedoch für keine Grafschaft entscheiden. Da er jetzt über ein ansehnliches Haus verfügte und die Vorrechte eines Grundbesitzers genoss, zweifelten diejenigen, die seine Unbekümmertheit kannten, nicht daran, dass er einfach den Rest seiner Tage in Netherfield verbringen und es der nächsten Generation überlassen würde, das Anwesen zu kaufen.

Seinen Schwestern war sehr daran gelegen, dass er ein eigenes Anwesen besitze. Doch obgleich er jetzt nur Pächter war, hatte Miss Bingley keineswegs etwas dagegen, seinem Haushalt vorzustehen, und Mrs. Hurst, die einen Mann mit mehr Geschmack als Vermögen geheiratet hatte, war nicht abgeneigt, das Haus ihres Bruders von Zeit zu Zeit als das ihre zu betrachten. Mr. Bingley war kaum zwei Jahre mündig gewesen, als er durch einen Zufall auf Netherfield aufmerksam geworden war. Er besichtigte es eine halbe Stunde lang von innen und von außen. Die Lage gefiel ihm, ebenso die wichtigsten Gesellschaftsräume, und was der Besitzer sonst noch zum Lobe des Hauses vorbrachte, sagte ihm auch zu, und er nahm es sofort.

Ihn und Darcy verband eine enge Freundschaft, obgleich sie charakterlich sehr verschieden waren. Darcy schätzte Bingley besonders wegen seiner Unbeschwertheit, Offenheit und Nachgiebigkeit, wenngleich diese Eigenschaften in keinem stärkeren Gegensatz zu seinen eigenen hätten stehen können, mit denen er jedoch auch nie unzufrieden zu sein schien. Bingley konnte sich auf Darcys Freundschaft fest verlassen und schätzte sein Urteilsvermögen sehr. Verstandesmäßig war Darcy ihm überlegen. Bingley war zwar nicht dumm, aber Darcy war klug. Überdies war er hochfahrend, zurückhaltend und wählerisch zugleich, und sein Benehmen war nicht gerade einnehmend, obwohl er gut erzogen war. In dieser Hinsicht war sein Freund ihm weit überlegen. Bingley gefiel, wohin er auch kam, während Darcy ständig Anstoß erregte.

Die Manier, in der die beiden den Ball in Meryton erörterten, war ganz typisch für sie. Bingley hatte nie angenehmere Menschen und hübschere Mädchen kennengelernt. Jedermann war freundlich und aufmerksam gewesen, es war weder förmlich noch steif zugegangen, und er hatte sich in dem Ballsaal bald wie zu Hause gefühlt. Kein Engel konnte schöner sein als Miss Bennet. Darcy hingegen hatte nur eine Ansammlung von Menschen gesehen, bei der es wenig Schönheit und gar keine Lebensart zu entdecken gab, niemand hatte ihn auch nur im Geringsten interessiert, niemand hatte ihm Aufmerksamkeit erwiesen oder ihm Freude bereitet. Er gab zu, dass Miss Bennet hübsch sei, aber er fand, sie lächle zu viel.

Mrs. Hurst und ihre Schwester stimmten dem wohl zu, aber dennoch bewunderten sie Miss Bennet, sie gefiel ihnen, und sie erklärten sie zu einem reizenden Mädchen, das sie gerne näher kennenlernen würden. Miss Bennet war also als reizendes Mädchen anerkannt, und angesichts dieser Empfehlung fühlte ihr Bruder sich berechtigt, von ihr zu halten, was er wollte.

Fünftes Kapitel

Nur einen kurzen Spaziergang von Longbourn entfernt wohnte eine Familie, mit der die Bennets besonders eng befreundet waren. Sir William Lucas hatte als ehemaliger Geschäftsmann in Meryton ein hübsches Vermögen verdient und war dann nach seiner Amtszeit als Bürgermeister, auf eine an den König gerichtete Ergebenheitsadresse hin, in den Adelsstand erhoben worden. Diese Auszeichnung war ihm vielleicht ein wenig zu Kopf gestiegen, denn er hegte plötzlich eine Abneigung gegen seinen Beruf und die Wohnung in dem kleinen Marktflecken. So war er mit seiner Familie in ein ungefähr eine Meile vor Meryton gelegenes Anwesen übergesiedelt, das von da an Lucas Lodge genannt wurde. Hier konnte er sich dem Vergnügen seiner eigenen Wichtigkeit hingeben und sich ohne berufliche Zwänge damit beschäftigen, allen Menschen höflich zu begegnen. Die Erhebung in den Adelsstand hatte ihn nicht zum Hochmut verleitet; im Gegenteil, er war aufmerksamer denn je gegen jedermann. Von Natur aus arglos, freundlich und hilfsbereit, gab er sich seit seiner Einführung bei Hof auch noch galant.

Lady Lucas war eine gute Frau und nicht allzu klug, was sie für Mrs. Bennet zu einer sehr geeigneten Nachbarin machte. Die Lucas hatten mehrere Kinder, und die älteste Tochter, eine vernünftige und gescheite junge Dame von siebenundzwanzig Jahren, war Elizabeth' beste Freundin.

Dass die Damen Lucas und Bennet sich über den Ball unterhielten, war nur allzu natürlich, und am Morgen nach dem Fest kamen Sir Williams Töchter nach Longbourn, um Eindrücke auszutauschen.

»Für Sie hat der Abend gut angefangen, Charlotte«, wandte Mrs. Bennet sich mit höflicher Selbstbeherrschung an Miss Lucas. »Sie waren Mr. Bingleys erste Wahl.«

»Ja, aber seine zweite schien ihm besser zu gefallen.«

»Oh! Sie denken an Jane, weil er zweimal mit ihr getanzt hat. Ja, es sah wohl so aus, als gefalle sie ihm. Ich bin fast sicher, dass es so ist — ich hörte so etwas —, aber ich weiß nicht mehr genau, was. Etwas mit Mr. Robinson.«

»Vielleicht meinen Sie das Gespräch zwischen ihm und Mr. Robinson, das ich mitangehört habe? Ich hatte Ihnen doch davon erzählt. Mr. Robinson fragte ihn, ob ihm unser Ball in Meryton gefalle und ob er nicht finde, dass sehr viele hübsche Damen im Saale seien, und welche er für die Schönste halte? Worauf er antwortete: ›Oh! Die älteste Miss Bennet, ganz ohne Zweifel; in diesem Punkt sind sich wohl alle einig.‹«

»Was Sie nicht sagen! Das ist ja wirklich sehr deutlich. Es sieht so aus, als ob … aber vielleicht wird ja auch gar nichts daraus.«

»Was ich belauscht habe, war angenehmer als das, was du mitanhören musstest, Eliza«, sagte Charlotte. »Mr. Darcy zuzuhören lohnt sich weit weniger, nicht wahr? Arme Eliza! Nur ganz passabel zu sein.«

»Ich möchte Sie bitten, Lizzy nicht in den Kopf zu setzen, sich über diese Grobheit zu ärgern; er ist ein so unangenehmer Mensch, dass es geradezu ein Unglück wäre, ihm zu gefallen. Mrs. Long erzählte mir gestern Abend, er habe eine halbe Stunde neben ihr gesessen und nicht ein Wort mit ihr gesprochen.«

»Bist du dessen ganz sicher, Mutter? Irrst du dich auch nicht?«, fragte Jane. »Ich selbst habe Mr. Darcy mit ihr sprechen sehen.«

»Jawohl — weil sie ihn schließlich fragte, wie ihm Netherfield zusage, und da musste er ihr ja wohl antworten, aber sie meinte, er habe es ihr sehr übelgenommen, dass sie ihn ansprach.«

»Miss Bingley sagte«, fuhr Jane fort, »dass er nie viel spricht, es sei denn unter Freunden. Unter Freunden sei er außerordentlich charmant.«

»Davon glaube ich nicht ein Wort, meine Liebe. Wäre er wirklich so charmant, hätte er wohl mit Mrs. Long gesprochen. Aber ich kann mir den Grund denken. Alle Welt behauptet, dass sein Stolz ihn verzehrt, und er hat wohl gehört, dass Mrs. Long keinen Wagen hält und in einer Mietkutsche zum Ball gekommen ist.«

»Ich finde nichts dabei, wenn er sich nicht mit Mrs. Long unterhält«, meinte Miss Lucas, »aber er hätte mit Eliza tanzen sollen.«

»An deiner Stelle, Lizzy, würde ich nie mit ihm tanzen«, ereiferte sich Mrs. Bennet.

»Ich glaube, das kann ich dir versprechen. Ich werde auf keinen Fall mit ihm tanzen.«

»Seinen Stolz«, meinte Miss Lucas, »finde ich nicht so kränkend wie den manch anderer Leute. Es ist doch kein Wunder, dass ein so vornehmer junger Mann aus erster Familie mit Vermögen und allen Vergünstigungen eine hohe Meinung von sich hat. Er hat beinahe ein Recht darauf, stolz zu sein, wenn ich das so sagen darf.«

»Ganz recht«, erwiderte Elizabeth, »und ich würde ihm seinen Stolz ohne weiteres verzeihen, wenn er meinen nicht beleidigt hätte.«

»Stolz«, bemerkte Mary, die sich etwas auf ihre tiefschürfenden Gedanken zugutehielt, »ist eine sehr verbreitete Schwäche. Nach allem, was ich gelesen habe, bin ich überzeugt, dass die menschliche Natur besonders anfällig dafür ist und nur sehr wenige von uns keine Selbstgefälligkeit hinsichtlich tatsächlicher oder eingebildeter Vorzüge hegen. Eitelkeit und Stolz sind zwei verschiedene Dinge, obwohl man die Worte oft gleich verwendet. Ein Mensch kann stolz sein, ohne eitel zu sein. Stolz bezieht sich mehr auf unsere Meinung von uns selbst, Eitelkeit auf das, was andere von uns denken sollen.« 

»Wenn ich so reich wäre wie Mr. Darcy«, rief einer der jüngeren Herren Lucas, der mit seinen Schwestern gekommen war, »wäre es mir egal, wie stolz ich wirken würde. Ich würde mir eine Meute Jagdhunde halten und tränke jeden Tag eine Flasche Wein.«

»Dann würdest du sehr viel mehr trinken, als dir gut täte«, sagte Mrs. Bennet, »und würde ich dich dabei erwischen, nähme ich dir sofort die Flasche weg.«

Der Junge erhob Einspruch, sie widersprach, sie würde es doch tun, und so fort, sodass der Zwist erst mit dem Besuch endete.

Sechstes Kapitel

Nicht lange danach machten die Damen von Longbourn ihre Aufwartung in Netherfield, und der Besuch wurde bald in gebührender Form erwidert. Miss Bennets gewinnendes Benehmen verfehlte nicht seine Wirkung auf Mrs. Hurst und Miss Bingley, und obgleich man die Mutter für unerträglich und die jüngeren Schwestern nicht der Anrede wert hielt, drückte man den beiden älteren gegenüber den Wunsch aus, sie näher kennenzulernen. Jane nahm dieses Kompliment mit großer Freude entgegen, aber Elizabeth erkannte die Überheblichkeit, mit der diese Damen andere Menschen, ihre Schwestern nicht ausgenommen, behandelten, und mochte sie nicht, zumal ihre Freundlichkeit gegenüber Jane aller Wahrscheinlichkeit nach ihren Ursprung in der Bewunderung ihres Bruders hatte. Sooft er ihr begegnete, war offenkundig, wie sehr sie ihm gefiel, und für Elizabeth war ebenso offenkundig, dass Jane ihrer anfänglichen Sympathie für ihn nachgegeben und sich gründlich in ihn verliebt hatte. Zu ihrer Freude erfasste sie jedoch auch, dass niemand etwas davon bemerken würde, da sich mit Janes Kraft zu tiefer Empfindung ein ausgeglichenes Gemüt und eine stetige Heiterkeit verbanden, die sie vor böswilligen Verdächtigungen bewahrten. Elizabeth sprach mit ihrer Freundin Miss Lucas darüber.

»Es ist vielleicht ganz nützlich«, erwiderte Charlotte, »wenn man der Öffentlichkeit etwas vormachen kann, aber manchmal gereicht allzu viel Beherrschung auch zum Nachteil. Verbirgt eine Frau ihre Liebe mit gleichem Geschick vor deren Gegenstand, kann er ihr entgleiten. Dann ist es nur ein schwacher Trost, dass die übrige Welt ebenso im Dunkeln tappt. Zu jeder Liebesgeschichte gehören so viel Dankbarkeit oder Eitelkeit, dass es nicht ratsam ist, sie sich selbst zu überlassen. Der Beginn fällt niemandem schwer — eine gewisse Sympathie ist ganz natürlich —, aber nur sehr wenige haben den Mut, sich ohne jede Ermutigung ernsthaft zu verlieben. In neun von zehn Fällen ist es besser, eine Frau bekundet mehr Zuneigung, als sie wirklich empfindet. Bingley ist zweifellos sehr angetan von deiner Schwester, aber vielleicht wird es dabei bleiben, wenn sie ihm nicht mehr entgegenkommt.«

»Aber sie kommt ihm ja schon so weit entgegen, wie ihre Natur es ihr erlaubt. Wenn schon ich ihre Gefühle bemerke, muss er wirklich ein Einfaltspinsel sein, um nichts zu merken.«

»Aber, Eliza, du darfst auch nicht vergessen, dass er Jane nicht so gut kennt wie du.«

»Aber wenn eine Frau einem Mann zugetan ist und es nicht zu verbergen sucht, kann ihm das doch nicht entgehen.«

»Vielleicht, wenn er sie häufig genug sieht. Bingley und Jane kommen zwar oft zusammen, doch nie für mehrere Stunden, und da sie sich immer nur bei größeren Gesellschaften begegnen, können sie nicht jeden Augenblick dazu nutzen, sich zu unterhalten. Jane sollte deshalb das Beste aus jeder halben Stunde machen, in der sie seine Aufmerksamkeit hat. Ist sie seiner erst einmal sicher, kann sie sich so viel in ihn verlieben, wie sie mag.«

»Dein Plan ist gut«, erwiderte Elizabeth, »solange jemand nur auf eine gute Partie aus ist; wenn ich auf einen reichen Mann oder überhaupt einen Mann aus wäre, würde ich mir deinen Rat gewiss zunutze machen. Aber Jane empfindet anders und handelt nicht mit einer bestimmten Absicht. Bis jetzt ist sie sich nicht einmal über das Maß ihrer Zuneigung im Klaren oder ob sie vernünftig ist. Sie kennt ihn erst seit vierzehn Tagen. In Meryton hat sie viermal mit ihm getanzt, einmal ist sie ihm an einem Morgen in seinem Haus begegnet, und seitdem hat sie viermal in größerer Gesellschaft mit ihm zu Abend gegessen. Das reicht nicht aus, um einen Menschen wirklich kennenzulernen.«

»Nicht, wie du es darstellst. Wenn sie nur mit ihm zu Abend gespeist hätte, wüsste sie tatsächlich jetzt nur, ob er einen guten Appetit hat, aber vergiss nicht, dass sie auch vier Abende miteinander verbracht haben — vier Abende können allerhand ausmachen.«

»Ja, diese vier Abende gestatten ihnen die Feststellung, dass sie beide Siebzehnundvier lieber spielen als Commerce, aber andere wesentliche Eigenschaften werden sich nicht dabei enthüllt haben.«

»Ich wünsche Jane jedenfalls von ganzem Herzen Erfolg«, sagte Charlotte, »und bin überzeugt, sie würde, wenn sie Bingley morgen heiraten würde, ebenso glücklich mit ihm, als wenn sie seinen Charakter noch ein ganzes Jahr lang studieren könnte. Glück in der Ehe ist reiner Zufall. Die Parteien können ihre Neigungen vorher noch so gut kennen und noch so viele Gemeinsamkeiten haben, ihr Eheglück wird das nicht fördern. Sie werden sich immer noch genügend auseinanderentwickeln, um Unstimmigkeiten hervorzurufen; deshalb finde ich, man sollte möglichst wenig über die Unzulänglichkeiten des Menschen wissen, mit dem man sein Leben verbringen wird.«

»Du bringst mich zum Lachen, Charlotte! Du weißt genau, dass das nicht stimmt, und würdest nie danach handeln.«

Während Elizabeth damit beschäftigt war, Mr. Bingleys Verhalten gegenüber ihrer Schwester zu beobachten, fiel ihr überhaupt nicht auf, dass sie selbst zum Gegenstand eines Interesses geworden war. Mr. Darcy hatte ihr anfangs nicht einmal eine gewisse Schönheit zugestanden, sie auf dem Ball ohne jede Sympathie betrachtet und bei einer späteren Begegnung nur kritisch gemustert. Doch kaum hatte er sich und seinen Freunden erklärt, wie wenig anziehend ihr Gesicht sei, kam ihm zu Bewusstsein, dass es durch die Schönheit ihrer ausdrucksvollen dunklen Augen ungewöhnlich klug erschien. Dieser Entdeckung folgten verschiedene andere, die ihn gleichfalls beschämten. Wenn auch sein kritisches Auge mehr als eine Unregelmäßigkeit an ihrer Gestalt entdeckt hatte, musste er bekennen, dass sie leicht und beschwingt war, und obgleich er sich immer wieder vor Augen führte, dass ihr Auftreten nicht dem der vornehmen Welt entsprach, nahm ihre spielerische Anmut ihn gefangen. Von alldem hatte Elizabeth nicht die geringste Ahnung; für sie war Darcy nur der Mann, der sich überall unbeliebt machte und sie nicht schön genug gefunden hatte, um mit ihr zu tanzen.

In dem Wunsch, sie kennenzulernen, gesellte er sich hinzu, wenn sie sich mit anderen unterhielt, und suchte nach einer Gelegenheit, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Damit erregte er ihre Aufmerksamkeit bei einer großen Gesellschaft im Haus von Sir William Lucas.

»Was bezweckt Mr. Darcy wohl damit, meiner Unterhaltung mit Colonel Forster zu lauschen?«, fragte sie Charlotte.

»Das ist eine Frage, die allein Mr. Darcy beantworten kann.«

»Aber wenn er noch lange lauscht, werde ich ihm offen zu verstehen geben, dass ich seine Absicht durchschaue. Er hat einen so spöttischen Blick, und wenn ich nicht bald selbst unverschämt werde, bekomme ich Angst vor ihm.«

Als er sich ihnen kurz darauf näherte, ohne indes ein Gespräch anzubahnen, riet Miss Lucas ihrer Freundin, ihn einfach zu übersehen. Dadurch zum Gegenteil gereizt, wandte Elizabeth sich ihm zu.

»Fanden Sie nicht, dass ich mich ungewöhnlich gewandt ausdrückte, Mr. Darcy, als ich soeben Colonel Forster herausforderte, in Meryton einen Ball für uns zu geben?«

»Und mit welchem Eifer! — Aber bei diesem Thema sind ja alle Damen eifrig.«

»Sie sind sehr streng mit uns.«

»Bald ist sie an der Reihe, geneckt zu werden«, warf Miss Lucas ein. »Ich öffne jetzt den Flügel, Eliza, und du weißt, was das bedeutet.«

»Du bist wirklich eine komische Freundin! Dass ich immer vor aller Welt singen und spielen soll! Hätte ich nur den geringsten musikalischen Ehrgeiz, du wärst mit Gold nicht aufzuwiegen, aber es gefällt mir durchaus nicht, vor Menschen zu singen, die es gewohnt sind, jeden Tag die besten Darbietungen zu hören.« Doch da Charlotte auf ihrem Willen bestand, fügte sie hinzu: »Gut denn, was sein muss, muss sein.« Und mit einem ernsten Blick auf Mr. Darcy: »Es gibt eine hübsche alte Redensart, die hier jeder kennt: ›Spar dir deinen Atem, um auf deine Suppe zu pusten!‹ Ich spare mir jetzt den meinen für ein Lied.«