Buchinfo

 

In Tims Armen liegen – das ist das Wunderschönste für Jojo! Eigentlich ist sie das glücklichste Mädchen des Universums. Tja, eigentlich. Denn Jojo hat fremdgeküsst. Und Tim darf nie etwas von dieser Riesendummheit erfahren. Nie!

 

Autorenvita

 

Ullrich

 

© Thienemann Verlag GmbH

 

 

Hortense Ullrich redet gern, lacht gern und schreibt gern. Und zwar über alles, was das Leben an Lustigem und Komischem zu bieten hat. Sie schreibt einfach auf, was bei ihr zu Hause tagtäglich passiert. Allerdings nie die volle Wahrheit, denn die würde ihr ohnehin niemand glauben. Ihre Töchter Allyssa und Leandra sind die Vorbilder für Jojo und ihre Schwester Flippi. Jojos überbesorgte, kochunfähige Mutter hat rein zufällig große Ähnlichkeit mit der Autorin. Nur Hortense Ullrichs Mann und die beiden Hunde kommen ungeschoren davon. Noch. Acht Jahre verbrachte Hortense Ullrich mit ihrem Mann und ihren Kindern in New York, inzwischen lebt sie in Bremen.

IT

 

Dienstag, 3. Juni

 

»Du hast ihm echt gesagt, du willst nicht, dass er deinen Brief liest, weil deine Rechtschreibung so mies ist?!« Lucilla konnte es nicht fassen.

»Was hätte ich denn sonst sagen sollen? Etwa: ›Entschuldige bitte, aber ich habe mich in Frankreich in Clement verliebt und per Brief mit dir Schluss gemacht. Dann hab ich mir’s jedoch anders überlegt, deshalb will ich jetzt nicht, dass du diesen Schlussmachbrief liest.‹«

»Schlussmachbrief?« Lucilla zog tadelnd die Augenbrauen zusammen und schüttelte den Kopf. »Du hast nicht nur ein Problem mit deiner Rechtschreibung. Das klingt echt lahm. Dem Wort fehlt jede Romantik.«

Ich verdrehte die Augen. »Was bitte ist am Schlussmachen romantisch?«

Meine beste Freundin Lucilla überlegte kurz. »Na ja, es ist fürchterlich dramatisch. Und damit irgendwie auch wieder fürchterlich romantisch. Und außerdem …«

Während Lucilla über die Romantik beim Schlussmachen dozierte, gingen mir die letzten Tage noch mal durch den Kopf. Es war echt mal wieder Chaos hoch zehn gewesen.

Angefangen hatte es damit, dass ich mit meiner Klasse in Frankreich auf dem Schüleraustausch war. Und ich aus Versehen mit meinem Freund Tim Schluss gemacht habe. Na ja, aus Versehen trifft es vielleicht nicht so ganz. Ich habe den verhängnisvollen Brief schon mit Absicht geschrieben, weil Tim sich nicht gemeldet hat. Und als sich Clement, der Freund meines Austauschschülers, total lieb um mich gekümmert hat und mir dauernd Komplimente machte, war ich so geschmeichelt, dass ich mich glatt in ihn verliebte. Und mit Tim Schluss gemacht habe. Per Brief eben.

Dumm nur, dass Tim dann plötzlich in Frankreich aufgetaucht war, um mich zu besuchen. Als ich ihn sah, war Clement sofort vergessen. Gut war, dass Tim diesen blöden Brief noch nicht bekommen hat. Schlecht war allerdings, dass ich ihn überhaupt abgeschickt habe und es nur eine Frage der Zeit beziehungsweise der Zuverlässigkeit der Post war, wann Tim mein Geständnis lesen würde.

»Jojo?«

»Was?« Anscheinend war Lucilla fertig mit ihrer Ausführung über den romantischen Aspekt des Schlussmachens.

»Wieso hatte er denn den Brief überhaupt? Ich dachte, du hättest Flippi dafür bezahlt, ihn zurückzuholen, bevor Tim ihn lesen kann.«

Flippi, meine nervige kleine Schwester, zeichnet sich außer durchs Schneckenzüchten dadurch aus, dass sie aus so ziemlich allem eine Geldeinnahmequelle macht. Da sie sich aber auch um rein gar nichts schert, was Regeln oder gar Verbote anbelangt, gehen ihre Geschäfte nicht schlecht. In diesem Falle habe ich sie von Frankreich aus telefonisch gebeten – genauer gesagt beauftragt – den Brief, den ich an Tim geschrieben habe, wieder aus Tims Haus zu entfernen, damit er kein Unheil anrichten kann. Sollte eigentlich kein Problem sein, Tim war ja bei mir in Frankreich. Flippi musste nur seine Mutter unter einem Vorwand dazu bringen, sie in sein Zimmer zu lassen. Und so was ist für Flippi eine Kleinigkeit.

»Also? Was ist schiefgelaufen?«, fragte Lucilla.

»Der Brief, den Flippi zurückgeholt hat, war eine Mahnung von der Bibliothek. Die Handschrift auf dem Umschlag sah meiner ähnlich.« Ich zuckte die Schultern.

Das habe ich bei meiner Rückkehr festgestellt, als Flippi mir den falschen Brief gab.

»Und dann?«, erkundigte sich Lucilla.

Ich seufzte, denn nun wurde es etwas kompliziert und verwirrend. »Ich bin schnell zu Tim geflitzt, wollte ihm den echten Brief abluchsen. Aber Tim hat sich nicht darauf eingelassen und ihn einfach gelesen.«

Lucilla riss erschrocken die Augen auf. »O Gott!«

Ich winkte ab. »Das dachte ich zunächst auch. Aber dann stellte sich heraus, dass es gar nicht mein Schlussmachbrief war, der da im Umschlag steckte, sondern mein Aufsatz für die Schule, den wir in Frankreich schreiben mussten.«

»Wieso hast du Tim deinen Aufsatz geschickt?«

Meine Güte, Lucilla müsste mich doch besser kennen! »Ich hab das doch nicht mit Absicht getan, es war ein Versehen.«

»Und was hat das jetzt mit deiner Rechtschreibung zu tun?«

»Na ja, Tim hat sich natürlich gewundert, warum ich unbedingt verhindern wollte, dass er meinen Brief liest. Und da hab ich das mit der Rechtschreibung gesagt. Als Ausrede.«

Lucilla schüttelte den Kopf. »Oh, Jojo, was hast du bloß wieder für ein Chaos angerichtet!«

Ich seufzte. Lucilla hatte recht.

»Und wo ist jetzt dein Brief? Also der schlimme …«

Ich seufzte erneut. »Den hatte ich unserer Lehrerin abgegeben, statt meines Aufsatzes. Ich bin dann mit dem Aufsatz zu unserer Lehrerin. Zu dem ganzen Durcheinander wollte ich ja nicht noch eine schlechte Note haben.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Nicht viel. Sie hatte sich schon über den merkwürdigen Aufsatz gewundert, in dem ich keine antiken Fundstücke beschrieb, wie ich es hätte tun sollen, sondern mit meinem Freund Schluss machte. Ich hab ihr gesagt, sie solle den Brief doch bitte wegwerfen, und war erst mal fertig mit der Welt.«

Lucilla atmete tief ein und lehnte sich erschöpft zurück. Als sie wieder Kraft gesammelt und nachgedacht hatte, beugte sie sich vor und rief begeistert: »Dann hast du jetzt ein gefährliches Geheimnis!«

»Was soll das heißen?«, fragte ich leicht beunruhigt.

»Eine Lüge schwebt über dir!«

Ich sah automatisch nach oben.

»Er darf es nie erfahren.« Lucilla machte weiter. Gnadenlos. Sie liebt alles, was mit Romantik und Dramatik im weitesten Sinne zu tun hat. Und das hier war genau nach ihrem Geschmack.

»Sicher, deshalb habe ich dieses Affentheater doch überhaupt veranstaltet.« Ich wurde noch unruhiger. Konnte Lucilla mir nicht einfach auf die Schulter klopfen und so was sagen wie »Schwein gehabt!« oder »Das war knapp, aber ging ja noch mal gut aus!«?

»Es wird dich verfolgen, dir den Schlaf rauben und nie wirst du sicher sein können, dass er es nicht vielleicht doch über verschlungene Pfade erfahren wird. Wow!« Lucilla schien beeindruckt.

Jetzt war ich in heller Panik. So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Und eigentlich wollte ich das so auch gar nicht sehen! »Schwör mir, dass du die Klappe hältst!«

»Au!«

Ich hatte mich in Lucillas Schulter gekrallt. »Los, schwöre es!«

»Lässt du dann los?«

Als Zeichen meines guten Willens lockerte ich gleich meinen Griff.

Lucilla massierte ihre Schulter. »Jojo, wirklich, du solltest an deinen Umgangsformen arbeiten«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Also los, schwöre es.«

Lucilla schwieg.

»Das Glück und die Liebe meines Lebens hängen daran«, setzte ich sicherheitshalber noch hinzu. Das war die Sprache, die Lucilla verstand.

»Schon gut, schon gut. Ich sag schon nichts.« Sie überlegte kurz. »Obwohl es wirklich eine zu romantische Geschichte ist …«

»Lucilla!«

»Okay, okay, ich schwöre es ja.«

Ich seufzte erleichtert auf. »Gut, es bleibt ein Geheimnis zwischen dir und mir. Niemand sonst weiß von Clement und mir.«

»Okay, außer natürlich Clement, Nicola und seiner Familie – du hast bei ihnen gewohnt, die haben alles mitbekommen – und vielleicht noch dem einen oder anderen Freund von den beiden.«

Meine Panik setzte wieder ein. Sie waren weit weg, sie konnte ich wohl nicht so einfach zum Schweigen bringen. Obwohl, genau, weit weg! »Kein Problem«, winkte ich ab. »Sie wohnen in Frankreich, wie groß ist wohl die Chance, dass sie sich hier mit Tim treffen, um über diese Geschichte zu plaudern. Solange hier nur wir beide davon wissen – und du nichts sagst! –, bin ich in Sicherheit.«

»Tja, und dann ist da noch unsere Lehrerin …«

Murks. Stimmt, sie hatte den Brief ja gelesen. Aber Tim war auf einer anderen Schule. Sie kannte ihn nicht. Und selbst wenn, wieso sollte meine Lehrerin mit Tim über so etwas reden? Trotzdem wäre es besser, in nächster Zeit nicht unangenehm in ihrem Unterricht aufzufallen. Sicherheitshalber. Ich überlegte, ob es bei Lehrern nicht auch so etwas wie Schweigepflicht gab. Müsste es eigentlich. »Sie wird nichts sagen, oder?«

Lucilla zuckte die Schultern. »Ich würde in der nächsten Zeit mal lieber meine Hausaufgaben machen.«

Ja, den Gedanken hatte ich auch bereits gehabt.

»Okay, ich muss los. Valentin wartet bestimmt schon auf mich.« Lucilla küsste mich rechts und links und wieder rechts, eine Angewohnheit, die sie mit Begeisterung aus Frankreich mitgebracht hatte, und schwebte von dannen.

Ich setzte meinen Weg nach Hause alleine fort.

Valentin ist Lucillas Freund. Die beiden sind das Traumpaar schlechthin. Was immer Lucilla sich wünscht, Valentin weiß es nicht nur, ohne dass sie ein Wort erwähnen muss, sondern hat es auch schon erledigt oder besorgt. Außerdem ist Valentin Tims bester Freund. Was eigentlich sehr schön ist, da wir immer Dinge gemeinsam als zwei Pärchen machen können.

Hey, Moment mal. Was, wenn Lucilla doch nicht die Klappe halten konnte und Valentin davon erzählen würde? Und er als Tims bester Freund …

Ich sprintete los. Dummerweise konnte es Lucilla immer nicht erwarten, Valentin zu sehen, und hatte daher eine ordentliche Geschwindigkeit drauf. Ich musste eine ganz schön lange Strecke im Sprint zurücklegen, bevor ich sie einholte. Und dann war ich auch erst mal mit Luftschnappen beschäftigt und das Sprechen fiel mir etwas schwer.

»Nicht … reden!«, keuchte ich.

»Was?«

»Valentin … nicht …«

»Ich soll nicht mit Valentin reden?«

Ich nickte.

»Jojo, wie soll das gehen? Wir reden immer …«

»Nein!«, brüllte ich in Panik.

Die Leute drehten sich schon zu uns um.

Lucilla zog mich zur Seite. »Jetzt beruhig dich doch erst mal.«

Ich holte tief Luft und versuchte meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Es klappte. »Du darfst Valentin nichts von dem Brief sagen.«

»Oh.« So weit hatte Lucilla wohl nicht gedacht, als sie ihren Schwur geleistet hatte.

»Auf keinen Fall!«, bekräftigte ich.

»Aber wir haben keine Geheimnisse.«

»Jetzt schon!« Ich klang wohl ein bisschen drohend.

Lucilla machte einen Schritt zurück.

»Das Glück und die Liebe meines Lebens …«, erinnerte ich sie.

Lucilla sah mich sehr unzufrieden an. Sie war wohl echt in einem Konflikt.

»Bitte, Lucilla! Du bist meine beste Freundin und das ist mein schlimmstes Geheimnis! Du darfst es Valentin nicht erzählen! Es hat doch auch gar nichts mit ihm zu tun. Ich meine, es gibt keinen Grund, warum er es wissen sollte.« Dann schob ich noch einmal ein sehr flehentliches »Bitte!« nach und ihr Widerstand schmolz.

»Okay, ich werde schweigen.« Lucilla nickte.

Ich atmete erleichtert auf, und zwar etwas überlaut. Puh, ich war gerettet!

»Jetzt muss ich aber wirklich los.« Sie küsste mich wieder dreimal auf die Wangen und stürmte weiter.

Ich seufzte und schlenderte nach Hause. Warum musste eigentlich immer alles so fürchterlich kompliziert sein?

Aber hey, es würde alles gut werden. Bestimmt. Es durfte nur nicht die Sprache auf Frankreich kommen.

 

Dienstag, 3. Juni, später

 

Den ganzen Weg nach Hause hatte ich mir Mut zugesprochen und mir eingeredet, dass alles gar kein Problem war. Die Sache würde schon nicht auffliegen. Ich hatte alles im Griff. Es würde keine Überraschungen geben, und bei Tim und mir würde sich nichts ändern. Als ich unsere Haustür aufschloss, hatte ich mich völlig davon überzeugt, dass alles in bester Ordnung war. Ich war entspannt und guter Dinge.

Als Erstes stolperte ich über ein paar Kisten mit Kostümen. Das war nichts Außergewöhnliches, da meine Mutter Kostümbildnerin am Theater ist und öfter ihre Arbeit mit nach Hause bringt, um bei den »Kindern« zu sein. Die »Kinder« versuchen es mit Fassung zu tragen und den verzweifelten Erziehungsversuchen ihrer Mutter aus dem Weg zu gehen. Und wenn das auch nicht hilft, gibt es immer noch Oskar, den Mann meiner Mutter, ein echter Fels in der Brandung, der nach langem Kampf meine Mutter endlich dazu bringen konnte, ihn zu heiraten. Flippi und ich standen schon lange auf seiner Seite. Er ist für unseren bisherigen reinen Frauenhaushalt eine echte Bereicherung. Übrigens ist Oskar Bühnenbildner am selben Theater und so sieht es bei uns wirklich des Öfteren aus wie hinter einer Bühne. Momentan arbeiten er und meine Mutter gerade an einer neuen Produktion. Welche, habe ich vergessen, okay, eigentlich habe ich erst gar nicht richtig zugehört, weil mir so viel im Kopf rumgegangen ist.

»Hey, ich bin zu Hause!« Nicht dass jemals jemand darauf reagiert hätte, aber nachdem ich neulich mit meiner Mutter in der Küche zusammengestoßen war und sie sich fast zu Tode erschrocken hatte, weil sie gedacht hatte, ich sei noch in der Schule, gab ich mal lieber Laut, wenn ich das Haus betrat.

Ich hörte Schritte auf der Treppe. Und was ich dann sah, ließ mich erstarren. Tim kam die Treppe runter. Das war natürlich nichts, was mich normalerweise erschreckt hätte. Aber seine Montur erledigte den Job. Er war leicht altertümlich angezogen und wirkte vor allem sehr französisch: Er hatte eine große französische Fahne als Schärpe umgebunden und eine Art Gewehr in den Händen. »Halt, wer da?«, rief er und sah mich grimmig an.

Ich schrie entsetzt und ziemlich laut auf.

Tim legte sofort die Muskete aus der Hand. »Die ist nicht echt. Keine Angst«, versuchte er mich zu beruhigen. Und setzte noch schnell und völlig unnötigerweise »Ich bin’s, Tim!« hinzu.

»Das weiß ich auch!«, fauchte ich, nachdem ich aufgehört hatte zu schreien und mich ansatzweise beruhigt hatte. Meine Gedanken rasten. Warum lief er hier in so einem französischen Aufzug auf unserer Treppe herum? Er musste etwas erfahren haben! Aber von wem? Und was genau?

Inzwischen hatte sich meine ganze Familie um mich versammelt. Selbst Flippi war aus ihrem Zimmer gekommen.

»Was soll dieser Unfug?«, blaffte ich Tim an.

»Entschuldige, aber ich dachte, es wäre lustig.«

»Ich hab mich total erschrocken!«

»Aber wieso denn?« Tims Ratlosigkeit nahm zu.

Hm. Ich konnte ja schlecht zugeben, dass mich mein schlechtes Gewissen offensichtlich bei französisch anmutenden Situationen völlig ausrasten lässt. Ich versuchte etwas ruhiger zu klingen und mich herauszureden: »Kein normaler Mensch läuft in so einem Aufzug herum.«

»Findest du es zu viel?«, mischte sich nun meine Mutter ein, begutachtete Tims Maskerade und fing an, an der Schärpe herumzuzupfen.

»Zu viel?! Wer kommt denn auf die Idee, so etwas anzuziehen?« Ich war nun doch am Rande einer leichten Hysterie.

Meine Mutter stellte sich schützend vor Tim. »Ich habe ihn darum gebeten.«

»Aber wieso?!«, fragte ich misstrauisch. Was wusste sie?

»Aber, Jojo-Schätzchen, das ist fürs Theater. Ich habe Tim doch nur gebeten, mir bei einem Kostümentwurf zu helfen, weil er in etwa die Größe des Darstellers hat.«

»Fürs Theater?!«

»Ja, wir bringen Les Misérables auf die Bühne. Als Musical. Das ist unser neues Projekt«, mischte sich jetzt Oskar ein.

»Theater also«, sagte ich mit übergroßer Erleichterung.

Alle nickten.

Ich machte einen Schritt auf Tim zu, der instinktiv zurückwich. »Das hat also nur was mit dem Theaterstück zu tun?« Ich fixierte ihn.

Tim war völlig überfordert und sah Hilfe suchend von einem Mitglied meiner Familie zum nächsten. »Ja?«, wagte er dann tapfer einen Versuch.

»Wieso bist du überhaupt hier?« Neues Misstrauen schwappte in mir hoch.

Tim stand da wie ein begossener Pudel und zuckte die Schultern. »Ich wollte dich überraschen.«

»Das ist dir ja echt gelungen!«, seufzte ich. Wenn man Angst hat, dass ein sorgsam gehütetes Geheimnis entdeckt wird, wird man etwas empfindlich, stellte ich fest.

»Ich geh dann mal lieber.« Tim hatte sich zur Flucht entschlossen. Er schlich an mir vorbei, achtete auf einen Sicherheitsabstand und rannte dann fast aus der Tür.

»Mein Kostüm!«, rief ihm meine Mutter noch schwach hinterher.

Aber darauf konnte Tim jetzt keine Rücksicht nehmen. Er war schon weg.

»Jojo.« Oskar kam auf mich zu und legte mir den Arm um die Schultern. »Vielleicht willst du erst mal etwas essen.«

»Wer hat gekocht?«

Das war eine wirklich überlebensnotwendige Frage. Meine Mutter ist nämlich ziemlich talentfrei, was den Umgang mit Lebensmitteln, Herd und Zubehör betrifft. Ihre Ehe mit Oskar ist ernährungstechnisch eine echte Rettung für Flippi und mich gewesen, da er echt total gut kochen kann.

»Ich«, sagte Oskar schnell.

»Okay«, nickte ich und ließ mich von Oskar in die Küche ziehen.

»Und alles in Ordnung so weit?«, wollte er wissen, während er mir das Mittagessen aufwärmte.

»Warum sollte denn nicht alles in Ordnung sein?«, ging ich sofort wieder zum Angriff über. Wusste Oskar etwas? Woher? Hat er mit meiner Lehrerin geredet? Oder mit Tim? Und wusste Tim doch etwas, hat sich jedoch nur nicht getraut es zuzugeben? »Denkst du da an etwas Bestimmtes?«

»Nein, nein«, winkte Oskar sofort ab. »Ich meine nur. Du scheinst etwas nervös zu sein und …«

»Ich bin nicht nervös. Und alles ist in bester Ordnung!«, fiel ich ihm mit Nachdruck ins Wort.

»Okay, fein, gut. Das freut mich zu hören. Sehr schön.«

Den Rest des Essens haben wir dann schweigend verbracht. Allerdings räumte Oskar schnell die Messer vom Tisch ab und schnitt das Fleisch in der Suppe klein. »Ist viel praktischer so«, erklärte er möglichst beiläufig.

Danach bin ich gleich in mein Zimmer verschwunden und habe mich erst mal auf mein Bett fallen lassen. Also so ein Geheimnis zu haben ist echt ganz schön anstrengend. Und sollte Lucilla das Ganze noch mal romantisch nennen, würden wir richtig Krach bekommen. Es war superbescheuert und man brauchte Nerven aus Drahtseilen. Ach was, Drahtseile – Stahlträger!

Wahrscheinlich war Tim wirklich einfach nur vorbeigekommen, um mir Hallo zu sagen. Eigentlich total süß von ihm. Und eigentlich freute ich mich ja auch immer, wenn ich ihn sah.

Hm, ich sollte wohl besser mal bei Tim vorbeischauen, um mich bei ihm zu entschuldigen.

Ich traf Oskar im Flur. »Hör mal, Jojo, deine Mutter braucht das Kostüm zurück, also vielleicht kannst du …?«

Ich war wieder völlig entspannt. »Klar, kein Problem, wird sofort erledigt!«, rief ich ihm fröhlich zu.

Mein Stimmungswandel irritierte ihn etwas, er schüttelte unmerklich den Kopf und murmelte ganz leise: »Teenager sind wirklich anstrengend.«

Ja, da hatte er recht. Und für die betreffenden Teenager ist es noch schlimmer als für deren Eltern!

 

Dienstag, 3. Juni, noch später

 

Als Tim die Tür öffnete und mich davorstehen sah, zuckte er etwas zusammen.

»Hallo.« Ich lächelte leicht verlegen. Inzwischen kam mir mein Auftritt nämlich wirklich mehr als lächerlich vor und war mir demzufolge ziemlich peinlich.

»Hallo«, sagte Tim abwartend.

»Ich wollte mich entschuldigen.«

»Wow!« Tim nickte anerkennend.

»Was soll das denn heißen?«

»Nichts, gar nichts. Ich freue mich. Willst du reinkommen? Ich hab auch normale Klamotten an.« Er grinste.

Ich grinste auch. Dann ging ich rein und gab ihm erst mal einen dicken Kuss.

»Und ich werde nie wieder etwas anderes tragen.« Er reichte mir das zusammengerollte Kostüm.

»Ja. Das wäre nett«, lachte ich.

»Obwohl, diese französischen Farben stehen mir ganz gut«, witzelte Tim. »Auf dem Heimweg haben mir ’ne Menge Leute hinterhergeschaut.«

»Kannst du diese Frankreichnummer vielleicht endlich mal lassen?«

Tim hob fragend die Schultern und sah mich leicht hilflos an. »Was hast du bloß?«

Ich atmete tief ein.

»Es hat etwas mit Frankreich zu tun, stimmt’s?«, riet Tim.

Ich seufzte. Eigentlich war das jetzt der Moment für die Wahrheit. Ich holte tief Luft. »Ja. Es war … so schlimm in Frankreich …«

Tim sah mich aufmerksam an.

Ich schluckte und vollendete meinen Satz: » ... von dir getrennt zu sein.«

Ich weiß nicht, wer verblüffter über das war, was ich gesagt hatte. Tim oder ich.

»Im Ernst?«

Ich nickte. Eine Mischung aus Erleichterung und schlechtem Gewissen machte sich in mir breit. Es war eine Notlüge und die waren doch erlaubt, oder? Um meine Beziehung mit Tim zu retten. Schließlich gab es keinen Grund für Probleme. Ich meine, Tim war in mich verliebt und ich in ihn. Und Clement? Na ja, wer weiß, vielleicht war mir das nur passiert, weil ich Tim so vermisst hatte. Ganz bestimmt. Ja genau, so war es. Die Lüge fühlte sich schon gar nicht mehr so schlimm an.

Tim nahm mich jetzt wieder in den Arm und küsste mich. »Ich hab dich auch vermisst. Deshalb habe ich Valentins Vater ja überredet, uns mitzunehmen, als er einen Geschäftstermin in Frankreich hatte, damit ich dich besuchen konnte.«

»Das war echt deine Idee?«

»Yap!«

Ich hatte wirklich den süßesten Freund der Welt! Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, mich in einen anderen Jungen zu verlieben? Ich schmiegte mich eng an ihn. Ja, die Notlüge war absolut gerechtfertigt. Das war ja auch in Tims Interesse. Schließlich sah er glücklich aus.

»Wollen wir feiern, dass Frankreich hinter uns liegt? Wir könnten essen gehen.«

Ich nickte. Auch wenn ich beim Wort Frankreich wieder leicht zusammenzuckte. »Lass uns Frankreich einfach nicht mehr erwähnen, okay?«, bat ich.

Tim nickte und schlug vor: »Pizza. Garantiert Frankreich-frei.«

Wir gingen zu unserer Stammpizzeria, wo sie echt supernett sind und immer einen Tisch für uns, weit ab vom normalen Restaurantbetrieb, bereithalten. Sie machen das zwar mehr aus einem gewissen Selbstschutz heraus, aber Tim und ich haben uns darauf geeinigt, es als besonderen Service in puncto Romantik anzusehen. Außerdem gibt es nicht mehr allzu viele Restaurants und Cafés, in denen wir noch kein Hausverbot haben, weil wir das Chaos irgendwie magisch anziehen.

Der Kellner erkannte uns auch gleich und geleitete uns auf dem sichersten Weg nach hinten zu unserem Tisch. Er rückte die Pflanze noch ein wenig zur Seite, weil sie irgendwann mal so dicht neben uns gestanden hatte, dass Tim ständig ein paar Blätter auf dem Teller hatte und schließlich aus Versehen in eins reinbiss. Das Blatt mit den Bissspuren war übrigens immer noch dran.

Bei der Bestellung nahm Tim den Kellner beiseite. »Wir brauchen eine echt italienische Pizza. Nur mit italienischen Zutaten.«

Mein schlechtes Gewissen meldete sich wieder. Irgendwie lenkte diese Frankreichvermeidung die Aufmerksamkeit noch mehr darauf.

 

Mittwoch, 4. Juni

 

Heute Morgen schlug beim Frühstück der alltägliche Wahnsinn mal wieder voll zu. Meine Mutter und Oskar machten den entscheidenden Fehler, von der Arbeit zu reden. Normalerweise interessiert uns das ja nicht, aber heute lief es anders.

Als ich in die Küche kam, summte meine Mutter die französische Nationalhymne.

Ich erschrak. Sofort fühlte ich mich nach Frankreich zurückkatapultiert, denn dort gehörte das zu unserem täglichen Ritual. Ich versuchte erst, es zu ignorieren, aber dann brach es doch aus mir heraus. »Muss das sein?!«, jaulte ich.

»Was?« Meine Mutter war verwirrt. Aber sie hatte aufgehört zu summen.

Flippi sah auf. Streit am Morgen findet sie immer spannend. Vor allem wenn es mal nicht um sie geht.

»Na, ich meine ja nur. Das Summen so früh am Morgen …« Meiner Mutter konnte ich wohl kaum erzählen, dass ich immer noch unter Frankreich-Trennungsnachwehen leiden würde. Oder vielleicht doch?

»Jojo-Schätzchen, tut mir leid, aber ich bin so in Frankreichstimmung, seit wir die neue Produktion angefangen haben.«

Na klasse, das konnte echt heiter werden!

Flippi blickte mich forschend an, dann grinste sie. »Das hat nicht zufällig etwas mit einem Brief zu tun?«

Ich blitzte sie an. Schlimm genug, so eine skrupellose Schwester zu haben. Aber dass sie dann auch noch ansatzweise intelligent war, war wirklich zu viel. »Halt bloß die Klappe und überhaupt schuldest du mir noch Geld deswegen. Du hast den Auftrag ja nicht ordnungsgemäß ausgeführt!«, fauchte ich sie halblaut an.

»Brief? Auftrag? Worum geht es?« Bei Sachen, die man halblaut sagt oder gar flüstert, hat meine Mutter immer Ohren wie ein Luchs. Halt, das heißt Augen wie ein Luchs. Also Ohren wie … na ja, irgendein Tier, das verdammt gut hört eben. Aber wenn es um Taschengelderhöhung oder Verlängerung von Ausgehzeiten geht, befällt sie plötzlich absolute Taubheit.

»Um nichts«, sagte ich schnell, da ich keine Lust hatte, dieses Thema zu vertiefen.

Flippi grinste mich an. »Es ist also alles in Ordnung? Keine Reklamationen? Der Kunde ist zufrieden?«, fragte sie überlaut.

»Kröte!«, zischte ich und nickte.

»Welcher Kunde? Was für Reklamationen?« Meine Mutter ließ nicht so schnell locker. Es brauchte schon einiges, um sie von einer einmal aufgenommenen Spur abzubringen. Dazu gehörte unter anderem ihr Job. Und Glück.

Genau das hatte ich, denn Oskar kam gerade herein. Er hatte telefoniert. »Du musst noch ein weiteres Kostüm für die Kinderrolle machen. Der kleine Junge, der auftreten sollte, ist ausgefallen«, teilte er meiner Mutter mit.

Es wirkte: Meine Mutter war sofort abgelenkt. »Wieso das denn?«

Ich lächelte Oskar dankbar an.

Er lächelte verwirrt zurück. »Er hat sich ein Bein gebrochen.«

»Und was ist mit der Zweitbesetzung? Die hat doch schon ein Kostüm.«

»Diesen Jungen wollen sie aber nicht die gesamte Saison singen lassen. Er ist nicht gut genug. Sie suchen ein neues Kind.«

Meine Mutter zog die Stirn in etwas unwirsche Falten und meinte: »Dann sollen sie jemand in seiner Größe suchen. Ich hab echt ziemlich viel um die Ohren.«

Oskar sah meine Mutter milde an.

Sie seufzte und knurrte: »Ja, schon gut. Wo wollen sie denn überhaupt so schnell ein neues Kind herbekommen?«

»Ihr lasst Kinder da auftreten? Was ist das denn für ein Stück? Tz, tz, tz …« Flippi bastelte sich inzwischen ein Müsli, das aus zwei Haferflocken – genau abgezählt –, jeder Menge Gummibärchen und Erdnussbutter bestand.

Meine Mutter sah leicht angewidert auf Flippis Schüssel, entschied sich dann aber gegen einen Kommentar.

»In Les Misérables