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BARTHOLOMÄUS GRILL

UM UNS DIE TOTEN

Meine Begegnungen mit dem Sterben

Siedler

Die Abbildungen im Innenteil des Buches stammen aus dem Privatbesitz des Autors, mit Ausnahme von: Archiv Wolf-Christian von der Mülbe (1), Kurt Stüber/www.biolib.de (2), Rainer Unkel (3), Pascal Maître/Cosmos (4 u. 5). Die Rechteinhaber der Abbildungen (6) konnten trotz intensiver Recherche bis Redaktionsschluss nicht ermittelt werden. Der Verlag bittet Personen oder Institutionen, die die Rechte an diesen Abbildungen haben, sich zu melden.

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Copyright © 2014 by Siedler Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg,
unter Verwendung eines Bildes von Carlos Gotay/Getty Images

Satz: Ditta Ahmadi, Berlin

Reproduktionen: Aigner, Berlin

ISBN 978-3-641-12402-1
V002

www.siedler-verlag.de

Inhalt

Die Kappe auf dem Kopf des Kutschers

Durch Leid zur Herrlichkeit –
Die Todeskultur auf dem Bergbauernhof

Und der Baum liegt, wie er fällt –
Todeserfahrungen in der späten Kindheit

Wir Unsterblichen –
Die Sturm- und Drogenjahre

Die Eiserne Jungfrau –
An der Schwelle des Todes

Unter Geiern –
Kriegsberichterstatter und die Faszination des Todes

Die Gräber sind noch nicht voll –
Der Tod als Völkermörder in Ruanda

Der globalisierte Tod –
Aids und die Rückkehr der vormodernen
Krankheitserfahrung

Der Tod, ein Fest fürs Leben –
Streifzüge im afrikanischen Ahnenreich

Der Schnitter im Weizen –
Abschied vom Vater

Endstation Zürich –
Die letzte Reise meines Bruders

Barbarei oder Barmherzigkeit? –
Ein Streitgespräch über das Recht zu leben und zu sterben

Der Tod ist ein Mörder –
Abschied von der Mutter

Die Gleichgültigkeit der Gestirne –
Von der Freiheit, nicht an den Tod zu denken

Dank

Für Urban

Die Kappe auf dem Kopf des Kutschers

Es sei ein kalter, sonniger Februartag gewesen, Tante Afra erinnert sich noch genau. Mir fällt niemand ein, den ich sonst noch fragen könnte, und es leben auch nicht mehr viele, die eine Antwort wüssten. Ich habe den Tag ganz anders im Gedächtnis: grau und frostig. Ein scharfer Westwind wehte durch den Halmberger Hof, als der Leichenwagen von Kirchreit her kommend in die Durchfahrt zwischen Getreidestadel und Bauernhaus einbog, ein Gespann mit zwei kastanienbraunen Gäulen, auf dem Kutschbock saß ein Mann mit kantigem Gesicht. Kurz bevor das Gefährt vor der Haustür zum Stehen kam, riss eine Bö die Kappe von seinem Kopf. »Brrrrrrrr«, rief er den Pferden zu und fasste auf sein entblößtes Haupt. Der Leichenwagen stand still, und der Kutscher stieg ab, um die Kappe aufzuheben.

Ich stand unter dem Lederapfelbaum im Obstanger und verfolgte gebannt das Geschehen. Es war meine erste Begegnung mit dem Tod. Drei Tage vorher, am 8. Februar 1958, war der Großvater gestorben. Er hieß Bartholomäus, wie ich. Er lag aufgebahrt im Hausflur, trug seinen besten Anzug und rührte sich nicht mehr. Er ist jetzt bei den Engeln, erklärte die Großmutter. Die Toteneinsagerin, ein altes, dickes Weiblein, hatte die Nachricht in die Gemeinde getragen und zum Sterberosenkranz gebeten. Nun, am Morgen der Beerdigung, versammelten sich die Angehörigen, Verwandten und Nachbarn im Hausgang, um vom Halmberger Bartl Abschied zu nehmen. Die Trauernden trugen schwarze oder graue Gewänder, sie sahen aus wie die Rabenvögel, die draußen auf den kahlen Äckern herumhüpften. Sie sprachen gedämpft, raunten, flüsterten. Waren sich einig, dass er eigentlich einen schönen Tod gehabt habe, in Prutting, am Tag nach der Hochzeit seiner Nichte. Er sei Trauzeuge gewesen, erzählt seine Tochter, die Tante Afra, der Schlag habe ihn am nächsten Tag getroffen, unmittelbar nach der Sonntagsmesse.

Mein Vater aber tischte eine Version auf, die ich viel attraktiver fand: Großvater sei mitten im Hochzeitstanz niedergesunken und habe sich gleichsam hineingedreht ins ewige Leben. Vater berichtete auch von einem prophetischen Traum der Großmutter. Der Gatte sei ihr zwei Nächte nach seinem Tod erschienen und habe sie auf das Geld in der Innentasche seines Anzugs hingewiesen, zweihundert Mark. Am anderen Morgen sei die Großmutter an die Bahre im Hausgang getreten, habe das Jackett aufgeknöpft und die Scheine gefunden. Ich nehme an, dass mein Vater diesen Vorfall frei erfunden hat, er neigte zu Übertreibungen und Mythologisierungen. Seinerzeit aber nahm ich seine Geschichte für bare Münze. In meinen Augen war der wundersame Fund eine jener mysteriösen Begebenheiten, die sich beim Tod eines Menschen ereignen.

Ein Hauch des Übersinnlichen liegt auch über dem Testament des Großvaters, er hatte es, sein baldiges Ende offenbar ahnend, am 1. Februar handschriftlich verfasst, genau eine Woche vor dem Herzinfarkt. Überdies hat sich der Tod schon im Spätherbst 1957 angekündigt, am Tag der Beerdigung der alten Mare, seiner Tante, die nie geheiratet hatte und auf dem Hof von ihrem Leibgedinge zehrte. Als nämlich der Leichenwagen mit ihrem Sarg abfuhr, scheuten die Pferde, stemmten sich gegen die Deichsel und schoben das Fuhrwerk eine Radumdrehung zurück. Ein Nachbarbauer meinte, dies sei ein untrügliches Zeichen dafür, dass aus diesem Haus schon bald der Nächste heraussterben werde. Der Nächste war der Großvater.

Mehr weiß ich von seinem Heimgang nicht mehr. Der Platz am schmalen Bürotisch in der Stube war fortan leer, die Schreibmaschine, eine Mercedes Prima aus Zella-Mehlis, hatte zu klappern aufgehört. Die Zither blieb stumm, das Sachs-Motorrad unbewegt. Es sollte keine Spazierfahrt mehr geben, bei der ich vorne auf dem Benzintank sitzen durfte. Gegenüber dem Kachelofen hing ein Bild des Großvaters. Sein strenger, traurig anmutender Blick hat meine ganze Kindheit und Jugend begleitet.

Großvater Bartholomäus,
gestorben am 8. Februar 1958

Die schwebende Kappe des Kutschers des Leichenwagens, ein gefrorener Augenblick, eine magische Sekunde – diese Szene bleibt in meinem Gedächtnis wie ein surrealistisches Gemälde von Giorgio de Chirico. Es war meine erste bewusste Anschauung des Todes. Sie sollte sich als dessen Urgestalt in meine kindliche Vorstellungswelt einschreiben.

Fast ein halbes Jahrhundert später, an einem Novembertag des Jahres 2004, trat eine neue Gestalt des Todes in das Bild, ein Mann in einem beinlangen, schwarzen Ledermantel. Er trug eine Sonnenbrille und stand just an der Stelle vor der Haustür, an der einst der Leichenwagen angehalten hatte, um den Sarg des Großvaters abzuholen. Es war ein warmer, bernsteingelb leuchtender Spätherbstmorgen. Der Mann schaute sich noch einmal um. Das Bauernhaus. Der Obstanger. Der Hühnerstall. Der Getreidespeicher. Der Taubenkobel. Das leere Storchennest auf dem Dachfirst. Der letzte Blick – ein Abschied für immer. Der Mann war Urban, mein unheilbar kranker Bruder. Er stieg an diesem Tag in ein Auto, das ihn nach Zürich brachte, zu den Sterbehelfern von Dignitas. Er hatte sich für den assistierten Freitod entschieden. Dreißig Stunden später sollte er nicht mehr unter uns sein.

Zwischen diesen beiden Ereignissen liegen all meine Begegnungen mit dem Tod, die ich in diesem Buch beschreibe. Es birgt, um falschen Erwartungen vorzubeugen, keine Abhandlung über das Altern und die Begleiterscheinungen des biologischen Verfalls. Auch Querverweise auf den Generationenkonflikt in einer modernen westlichen Gesellschaft, in der immer mehr Alte und immer weniger Junge um begrenzte Zukunftsressourcen konkurrieren, werden die Leser vergeblich suchen. Das Buch will auch kein Ratgeber zum Thema Sterben und Sterbehilfe sein. Es ist vielmehr der Versuch einer sehr subjektiv gefärbten Phänomenologie des Todes, ein Herantasten an die Gestalten, Figuren oder Personifikationen, in denen er mir erschienen ist, die sich in mein Bewusstsein gesenkt und mit kollektiven Repräsentationen vermengt haben, mit jener Vielfalt von Vorstellungen, Sinnbildern, Metaphern und Ideen vom Tode, die wir mit uns herumtragen. Aber es sind eben nur schattenhafte Abbilder des Todes – sein Wesen bleibt uns so verschlossen wie den gefesselten Menschen in Platons Höhlengleichnis, die ihre Sinneseindrücke für die Wirklichkeit halten.

Im Zentrum steht der Freitod meines Bruders Urban, sein langer Kampf gegen den Krebs, schließlich sein unwiderruflicher Entschluss, das Leiden und den endlos sich hinziehenden Prozess des Sterbens zu beenden. Er sprach von seiner letzten Freiheit, von der Freiheit des erlösenden Todes. Urban bat mich, seine Geschichte aufzuschreiben, um Menschen, die sich in einer ähnlich verzweifelten Lage befinden, einen Ausweg anzubieten. Nachdem er gegangen war, zögerte und zauderte ich ein ganzes Jahr, ehe ich den Text zu Papier brachte. In dieser Zeit, ich war gerade fünfzig Jahre alt geworden, begann meine bisweilen obsessive Beschäftigung mit dem Sterben und dem Tod – viel zu früh, sagten gleichaltrige Freunde, die im Spätsommer des Lebens noch nichts von den letzten Dingen wissen wollten. Den Fragen aber, die ich im Zusammenhang mit dem assistierten Suizid meines Bruders aufwarf, konnten sie sich nicht entziehen. Niemand kann sich ihnen entziehen, sie stellen sich zwangsläufig im Rahmen der großen ethischen Kontroversen in einer vergreisenden Gesellschaft. Wie gehen wir mit den Verheißungen einer Hochleistungsmedizin um, die die Herrschaft über den Tod an sich gerissen hat? Wie weit soll unsere Hilfe für Schwerstkranke gehen? Wer darf wann lebensverlängernde Geräte abschalten, die oft nichts anderes sind als Sterbeverlängerungsmaschinen? Über diese Fragen habe ich mit einem der bedeutendsten katholischen Moralphilosophen unserer Zeit gestritten, mit Robert Spaemann, einem entschiedenen Gegner jeder Form von Sterbehilfe. Im Kontext dieses Gesprächs schildere ich auch die Folgen, die das Niederschreiben und die Veröffentlichung der Geschichte meines Bruders hatten: die zahllosen Briefe und Hilferufe von Menschen, die ein ähnliches Schicksal durchlitten; den schamlosen Voyeurismus der Medien; den moralischen Druck auf die Familie; schließlich meine Weigerung, öffentlich über den assistierten Freitod zu sprechen. Mein Bruder sollte endlich Ruhe finden. Ich hatte mir eine Art benediktinisches Schweigen auferlegt.

In diesem Buch beende ich zehn Jahre des Schweigens und erzähle von meiner Auseinandersetzung mit dem Tod, die die existenzielle Erfahrung meines Bruders ausgelöst hatte. Sie beginnt mit dem Rückblick auf die alpenländische Totenkultur, die meine Kindheit geprägt hat, auf den Katholizismus und seine Erlösungslehre von der Auferstehung und dem ewigen Leben, auf das Memento mori, das ich in den frühen Jahren verinnerlicht habe, und auf die Ars moriendi, jene mittelalterliche Kunst des Sterbens, welche die Todesfurcht bannen soll. Die Auseinandersetzung endet mit dem Sterben meiner Mutter in der Trostlosigkeit einer Intensivstation, als ich den Tod stärker denn je als ruchlosen Mörder empfand.

Der Tod hat tausend Gesichter, und ich habe in viele geschaut, das brachte mein Beruf als Auslandskorrespondent mit sich. Die ersten Einsätze in den achtziger Jahren führten mich nach Osteuropa, nach Polen, wo Geheimagenten der wankenden Jaruzelski-Diktatur regimekritische Priester entführten und umbrachten. Dann, Weihnachten 1989, nach Rumänien, als der Despot Nicolae Ceauçescu gestürzt und hingerichtet wurde und mir beim Anblick vermeintlicher Folteropfer des Geheimdienstes Securitate der Tod erstmals als furchtbarer Menschenschinder erschien. Drei Jahre später wurde ich von der ZEIT nach Afrika entsandt. Seither habe ich regelmäßig über Kriege, Staatsstreiche, Hungersnöte, Seuchen und Katastrophen berichtet. Den ersten Aids-Toten sah ich in einem Fischerdörfchen am Victoriasee in Uganda, ich ahnte damals nicht, dass mich diese Pandemie von schier unvorstellbaren Ausmaßen in zahlreichen Reportagen immer wieder beschäftigen würde. Kein Ereignis hat mich indes so erschüttert wie der Genozid und dessen Nachwehen in Ruanda. Ich stand vor Leichenbergen, ich sah, wie Hunderte von toten Körpern auf Lastwagen verladen und in Gruben gekippt wurden, ich sprach mit Opfern, deren Angehörige bestialisch abgeschlachtet wurden, und mit Tätern, die wenig Reue zeigten oder ihre Verbrechen leugneten. Ich erlebte die Unfasslichkeit des anonymen Massentodes und empfand jenen Abscheu vor der Barbarei, jenen abgrundtiefen Zweifel an der Menschlichkeit, der uns beim Begehen nationalsozialistischer Konzentrationslager überwältigt: Das Grauen! Das Grauen! Der Tod, ein Völkermörder. Mein Auschwitz lag im Herzen Afrikas, und ich wurde dort auch mit einem persönlichen Versagen konfrontiert, das mich bis heute aufwühlt: Ich habe einen kleinen Jungen, den ich womöglich hätte retten können, in seiner ausweglosen Lage alleingelassen.

Oft ist mir der Tod in Afrika aber auch auf ganz andere Art und Weise begegnet. Zum Beispiel in Ghana bei der grandiosen Trauerfeier für den verstorbenen König der Asanti. Oder in Mali beim Tanz der Masken, die in der Kultur der Dogon die Seele eines Toten aus dem irdischen Dasein hinüber in das Zwischenreich der Ahnen begleiten. Oder in Benin bei Voodoo-Beschwörungen und dem Treiben der revenants, der Wiedergänger aus dem Jenseits. Es waren kollektive Rituale, um die dem Menschen innewohnende Angst vor dem Ende zu lindern. Bei solchen Anlässen erschien mir der Tod als Fest fürs Leben.

*

Que philosopher c’est apprendre à mourir – Philosophieren heißt sterben lernen. Ich habe Philosophie studiert und sie nach dieser Maxime von Michel de Montaigne erschlossen: im Ringen mit letzten Fragen, deren Beantwortung je nach Lebensalter höchst unterschiedlich ausfiel. In meiner Sturm-und-Drang-Zeit habe ich den Tod verachtet, er war ein bedeutungsloser Narr, ein Gesell für Glasperlenspiele in der immerwährenden, unzerstörbaren Jugend. Ich fürchtete ihn so wenig, wie ihn meine Helden der Weltrevolution gefürchtet hatten. Ich übte mich im Existenzialismus eines Jean-Paul Sartre und praktizierte spätpubertäre Todesverspottungsrituale. Je älter man wird, desto näher kommen die Einschläge. Man stellt sich die Frage nach der Endlichkeit des Lebens und der Vergeblichkeit allen Strebens neu, man thematisiert das Sterben viel ernsthafter, zumeist auch behutsamer und ängstlicher, man lernt das bisschen Leben, das man hat, als zerbrechliche Kostbarkeit zu schätzen. Und einige Grundwerte des Christentums, aber auch die fundamentalen Zweifel an dessen Dogmen leuchten wieder auf. Wir müssen im Gegensatz zum Tier mit dem ständigen Bewusstsein unserer Sterblichkeit leben – ohne zu wissen, wann uns die Stunde schlägt. In diesem Bewusstsein, das bis ins 20. Jahrhundert hinein Kindern, Geisteskranken und sogenannten Primitiven abgesprochen wurde, erkennen wir den innersten Kern unserer Menschlichkeit. Weil wir es nicht abschalten können, haben wir uns ein gewaltiges Arsenal von Verdrängungsinstrumenten zugelegt. Wir weigern uns, an das Ende zu denken. Wir tabuisieren den Tod und sperren ihn im Vorbewussten ein, damit er uns im Alltag nicht belästige. Wir versuchen, das Leben so zu leben, dass wir uns im Angesicht des Todes sagen können, es in vollen Zügen genossen zu haben. Wir trösten uns, sofern wir gläubig sind, mit den Versprechen der Wiedergeburt und des ewigen Lebens. Oder wir lassen uns von den Weisheiten der Philosophen beruhigen. »Wie wir in das Leben hineingelockt werden durch den ganz illusorischen Trieb zur Wollust; so werden wir darin festgehalten durch die gewiß eben so illusorische Furcht vor dem Tode«, lehrt Arthur Schopenhauer in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung. Doch es hilft alles nichts: Die Fuga mortis, die Scheu vor dem Tode, ist stärker. Natürlich kann ich nicht behaupten, frei von dieser Scheu zu sein, niemand ist das. Durch meine Begegnungen mit dem Tod konnte ich sie zeitweise abmildern, aber sie kehrte stets mit umso größerer Macht zurück, und ich sah den Mann auf mich zumähen, den Vincent van Gogh in seinem Gemälde Le moissonneur verewigt hat. Das Bild zeigt einen Schnitter unter grüngelbem Himmel, der mit einer Sichel Getreide schneidet. In dieser Allegorie kommt der Tod an einem glutheißen Sommertag, im flimmernden Goldlicht, und stößt mitten hinein in die Wirrsal des Lebens. Wir können ihm nicht entfliehen, er begleitet uns wie unser Schatten, unser Spiegelbild, unser Herzschlag. Er ist der Bruder des fühllosen Schlafes.

*

In allen Zeitaltern und Kulturen wurde der Tod unterschiedlich wahrgenommen, man kann das nachlesen in der Geschichte des Todes von Philippe Ariès. Dieses monumentale Werk liefert einen gedanklichen Leitfaden, der von der Antike in die Gegenwart führt. Der französische Poststrukturalist beschreibt, wie sich unsere Seelenlandschaften, Sterberituale, Trauersitten, Todesbilder und Jenseitsvorstellungen gewandelt haben, wie die Moderne den Tod aus dem Alltagsleben eliminiert hat, wie er schließlich privatisiert und von der Medizin vereinnahmt wurde und sich im Lauf des 20. Jahrhunderts ein dumpfes Schweigen über ihn gebreitet hat. Der Mensch tue so, als gäbe es den Skandal des Todes gar nicht, und bringe »die Umgebung der Sterbenden und der Toten mitleidslos zum Verstummen«.

Doch seltsam: Am Beginn des 21. Jahrhunderts scheint das kulturelle Unbehagen an der »Inversion des Todes« zuzunehmen; je mehr wir ihn verdrängen, je mehr wir die Trauer pathologisieren, desto stärker verspüren wir offenbar den Wunsch, uns mit allerletzten Fragen zu beschäftigen. Dieses Paradoxon bestätigt eine repräsentative Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach im Sommer 2012: 57 Prozent der Befragten erklärten, unsere Gesellschaft befasse sich zu wenig mit Sterben und Tod. Der Bundestag debattiert über Sterbehilfe, Palliativmedizin und Patientenverfügungen, Fernsehanstalten traktieren uns mit Talkshows und Themenabenden, auf den Bestsellerlisten stehen Bücher wie Gian Domenico Borasios Über das Sterben, Untertitel: Was wir wissen. Was wir tun können. Wie wir uns darauf einstellen. Gevatter Tod hat Konjunktur.

Letztlich spiegelt auch das vorliegende Buch das kollektive Bedürfnis, den verdrängten, verbannten und scheinbar gezähmten Tod wieder näher ans wirkliche Leben heranzuholen. Weil es aus einer sehr persönlichen Perspektive geschrieben ist, nimmt es in weiten Teilen autobiographische Züge an. Aus Respekt vor den Toten habe ich allerdings viele Namen geändert oder nur Initialen verwendet. Peter Weiss, der in seinem 1961 erschienenen Frühwerk Abschied von den Eltern eine bittere Abrechnung hinterlassen hat, nannte das Schreiben den Versuch, »mit all unseren Toten in uns, mit unserer Totenklage, unseren eigenen Tod vor Augen, zwischen den Lebenden dahin zu balancieren«. Kein Satz könnte meine Beweggründe trefflicher ausdrücken.