TEXTAUSGABE + LEKTÜRESCHLÜSSEL
Reclam
1993, 2001, 2005, 2012, 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen
Made in Germany 2017
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-960150-2
ISBN der Buchausgaben:
Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris: 978-3-15-000083-0
Mario Leis: Lektüreschlüssel. Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris: 978-3-15-015350-5
www.reclam.de
Johann Wolfgang Goethe: Iphigenie auf Tauris
Editorische Notiz
Mario Leis: Lektüreschlüssel. Iphigenie auf Tauris
1. Erstinformation zum Werk
2. Inhalt
3. Personenkonstellation
4. Werkaufbau
5. Wort- und Sacherläuterungen
6. Interpretation
7. Autor und Zeit
8. Rezeption
9. Checkliste
10. Lektüretipps / Filmempfehlungen
Anmerkungen
Johann Wolfgang Goethe
Iphigenie auf Tauris
Ein Schauspiel
Reclam
IPHIGENIE
THOAS, König der Taurier
OREST
PYLADES
ARKAS
Schauplatz: Hain vor Dianens Tempel
IPHIGENIE. Heraus in eure Schatten, rege Wipfel
Des alten, heil’gen, dichtbelaubten Haines,
Wie in der Göttin stilles Heiligtum,
Tret ich noch jetzt mit schauderndem Gefühl,
5
Als wenn ich sie zum ersten Mal beträte,
Und es gewöhnt sich nicht mein Geist hierher.
So manches Jahr bewahrt mich hier verborgen
Ein hoher Wille, dem ich mich ergebe;
Doch immer bin ich, wie im ersten, fremd.
10
Denn ach mich trennt das Meer von den Geliebten,
Und an dem Ufer steh ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend;
Und gegen meine Seufzer bringt die Welle
Nur dumpfe Töne brausend mir herüber.
15
Weh dem, der fern von Eltern und Geschwistern
Ein einsam Leben führt! Ihm zehrt der Gram
Das nächste Glück vor seinen Lippen weg.
Ihm schwärmen abwärts immer die Gedanken
Nach seines Vaters Hallen, wo die Sonne
20
Zuerst den Himmel vor ihm aufschloss, wo
Sich Mitgeborne spielend fest und fester
Mit sanften Banden aneinander knüpften.
Ich rechte mit den Göttern nicht; allein
Der Frauen Zustand ist beklagenswert.
25
Zu Haus und in dem Kriege herrscht der Mann
Und in der Fremde weiß er sich zu helfen.
Ihn freuet der Besitz; ihn krönt der Sieg;
Ein ehrenvoller Tod ist ihm bereitet.
Wie eng-gebunden ist des Weibes Glück!
30
Schon einem rauen Gatten zu gehorchen,
Ist Pflicht und Trost; wie elend, wenn sie gar
Ein feindlich Schicksal in die Ferne treibt!
So hält mich Thoas hier, ein edler Mann,
In ernsten, heil’gen Sklavenbanden fest.
35
O wie beschämt gesteh ich, dass ich dir
Mit stillem Widerwillen diene, Göttin,
Dir meiner Retterin! Mein Leben sollte
Zu freiem Dienste dir gewidmet sein.
Auch hab ich stets auf dich gehofft und hoffe
40
Noch jetzt auf dich Diana, die du mich,
Des größten Königes verstoßne Tochter,
In deinen heil’gen, sanften Arm genommen.
Ja, Tochter Zeus’, wenn du den hohen Mann,
Den du, die Tochter fodernd, ängstigtest;
45
Wenn du den göttergleichen Agamemnon,
Der dir sein Liebstes zum Altare brachte,
Von Trojas umgewandten Mauern rühmlich
Nach seinem Vaterland zurückbegleitet,
Die Gattin ihm, Elektren und den Sohn,
Die schönen Schätze, wohl erhalten hast;
So gib auch mich den Meinen endlich wieder,
Und rette mich, die du vom Tod errettet,
Auch von dem Leben hier, dem zweiten Tode.
IPHIGENIE. ARKAS.
ARKAS. Der König sendet mich hieher und beut
55
Der Priesterin Dianens Gruß und Heil.
Dies ist der Tag, da Tauris seiner Göttin
Für wunderbare neue Siege dankt.
Ich eile vor dem König und dem Heer,
Zu melden, dass er kommt und dass es naht.
60
IPHIGENIE. Wir sind bereit, sie würdig zu empfangen,
Und unsre Göttin sieht willkommnem Opfer
Von Thoas’ Hand mit Gnadenblick entgegen.
ARKAS. O fänd ich auch den Blick der Priesterin,
Der werten, vielgeehrten, deinen Blick
65
O heil’ge Jungfrau, heller, leuchtender,
Uns allen gutes Zeichen! Noch bedeckt
Der Gram geheimnisvoll dein Innerstes;
Vergebens harren wir schon jahrelang
Auf ein vertraulich Wort aus deiner Brust.
70
Solang ich dich an dieser Stätte kenne,
Ist dies der Blick, vor dem ich immer schaudre;
Und wie mit Eisenbanden bleibt die Seele
Ins Innerste des Busens dir geschmiedet.
IPHIGENIE. Wie’s der Vertriebnen, der Verwaisten ziemt.
75
ARKAS. Scheinst du dir hier vertrieben und verwaist?
IPHIGENIE. Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?
ARKAS. Und dir ist fremd das Vaterland geworden.
IPHIGENIE. Das ist’s, warum mein blutend Herz nicht heilt.
In erster Jugend, da sich kaum die Seele
80
An Vater, Mutter und Geschwister band;
Die neuen Schösslinge, gesellt und lieblich,
Vom Fuß der alten Stämme himmelwärts
Zu dringen strebten; leider fasste da
Ein fremder Fluch mich an und trennte mich
85
Von den Geliebten, riss das schöne Band
Mit eh’rner Faust entzwei. Sie war dahin,
Der Jugend beste Freude, das Gedeihn
Der ersten Jahre. Selbst gerettet, war
Ich nur ein Schatten mir, und frische Lust
90
Des Lebens blüht in mir nicht wieder auf.
ARKAS. Wenn du dich so unglücklich nennen willst;
So darf ich dich auch wohl undankbar nennen.
IPHIGENIE. Dank habt ihr stets.
ARKAS. Doch nicht den reinen Dank,
Um dessentwillen man die Wohltat tut;
95
Den frohen Blick, der ein zufriednes Leben
Und ein geneigtes Herz dem Wirte zeigt.
Als dich ein tief-geheimnisvolles Schicksal
Vor so viel Jahren diesem Tempel brachte,
Kam Thoas, dir als einer Gottgegebnen
100
Mit Ehrfurcht und mit Neigung zu begegnen.
Und dieses Ufer ward dir hold und freundlich,
Das jedem Fremden sonst voll Grausens war,
Weil niemand unser Reich vor dir betrat,
Der an Dianens heil’gen Stufen nicht
105
Nach altem Brauch, ein blut’ges Opfer, fiel.
IPHIGENIE. Frei atmen macht das Leben nicht allein.
Welch Leben ist’s, das an der heil’gen Stätte,
Gleich einem Schatten um sein eigen Grab,
Ich nur vertrauern muss? Und nenn ich das
110
Ein fröhlich selbstbewusstes Leben, wenn
Uns jeder Tag, vergebens hingeträumt,
Zu jenen grauen Tagen vorbereitet,
Die an dem Ufer Lethes, selbstvergessend,
Die Trauerschar der Abgeschiednen feiert?
115
Ein unnütz Leben ist ein früher Tod;
Dies Frauenschicksal ist vor allen meins.
ARKAS. Den edeln Stolz, dass du dir selbst nicht g’nügest,
Verzeih ich dir, so sehr ich dich bedaure:
Er raubet den Genuss des Lebens dir.
120
Du hast hier nichts getan seit deiner Ankunft?
Wer hat des Königs trüben Sinn erheitert?
Wer hat den alten grausamen Gebrauch,
Dass am Altar Dianens jeder Fremde
Sein Leben blutend lässt, von Jahr zu Jahr
125
Mit sanfter Überredung aufgehalten,
Und die Gefangnen vom gewissen Tod
Ins Vaterland so oft zurückgeschickt?
Hat nicht Diane, statt erzürnt zu sein
Dass sie der blut’gen alten Opfer mangelt,
130
Dein sanft Gebet in reichem Maß erhört?
Umschwebt mit frohem Fluge nicht der Sieg
Das Heer? und eilt er nicht sogar voraus?
Und fühlt nicht jeglicher ein besser Los,
Seitdem der König, der uns weis und tapfer
135
So lang geführet, nun sich auch der Milde
In deiner Gegenwart erfreut und uns
Des schweigenden Gehorsams Pflicht erleichtert.
Das nennst du unnütz? wenn von deinem Wesen
Auf Tausende herab ein Balsam träufelt;
140
Wenn du dem Volke, dem ein Gott dich brachte,
Des neuen Glückes ew’ge Quelle wirst,
Und an dem unwirtbaren Todesufer
Dem Fremden Heil und Rückkehr zubereitest?
IPHIGENIE. Das wenige verschwindet leicht dem Blick,
145
Der vorwärts sieht wie viel noch übrig bleibt.
ARKAS. Doch lobst du den, der was er tut nicht schätzt?
IPHIGENIE. Man tadelt den, der seine Taten wägt.
ARKAS. Auch den, der wahren Wert zu stolz nicht achtet,
Wie den, der falschen Wert zu eitel hebt.
150
Glaub mir und hör auf eines Mannes Wort,
Der treu und redlich dir ergeben ist:
Wenn heut der König mit dir redet, so
Erleichtr’ ihm, was er dir zu sagen denkt.
IPHIGENIE. Du ängstest mich mit jedem guten Worte;
155
Oft wich ich seinem Antrag mühsam aus.
ARKAS. Bedenke was du tust und was dir nützt.
Seitdem der König seinen Sohn verloren,
Vertraut er wenigen der Seinen mehr,
Und diesen wenigen nicht mehr wie sonst.
160
Missgünstig sieht er jedes Edeln Sohn
Als seines Reiches Folger an; er fürchtet
Ein einsam hülflos Alter, ja vielleicht
Verwegnen Aufstand und frühzeit’gen Tod.
Der Skythe setzt ins Reden keinen Vorzug,
165
Am wenigsten der König. Er, der nur
Gewohnt ist zu befehlen und zu tun,
Kennt nicht die Kunst, von weitem ein Gespräch
Nach seiner Absicht langsam fein zu lenken.
Erschwer’s ihm nicht durch ein rückhaltend Weigern,
170
Durch ein vorsetzlich Missverstehen. Geh
Gefällig ihm den halben Weg entgegen.
IPHIGENIE. Soll ich beschleunigen was mich bedroht?
ARKAS. Willst du sein Werben eine Drohung nennen?
IPHIGENIE. Es ist die schrecklichste von allen mir.
175
ARKAS. Gib ihm für seine Neigung nur Vertraun.
IPHIGENIE. Wenn er von Furcht erst meine Seele löst.
ARKAS. Warum verschweigst du deine Herkunft ihm?
IPHIGENIE. Weil einer Priesterin Geheimnis ziemt.
ARKAS. Dem König sollte nichts Geheimnis sein;
180
Und ob er’s gleich nicht fordert, fühlt er’s doch
Und fühlt es tief in seiner großen Seele,
Dass du sorgfältig dich vor ihm verwahrst.
IPHIGENIE. Nährt er Verdruss und Unmut gegen mich?
ARKAS.
So scheint es fast. Zwar schweigt er auch von dir;
185
Doch haben hingeworfne Worte mich
Belehrt, dass seine Seele fest den Wunsch
Ergriffen hat, dich zu besitzen. Lass,
O überlass ihn nicht sich selbst! damit
In seinem Busen nicht der Unmut reife
190
Und dir Entsetzen bringe, du zu spät
An meinen treuen Rat mit Reue denkest.
IPHIGENIE. Wie? sinnt der König, was kein edler Mann,
Der seinen Namen liebt und dem Verehrung
Der Himmlischen den Busen bändiget,
195
Je denken sollte? Sinnt er vom Altar
Mich in sein Bette mit Gewalt zu ziehn?
So ruf ich alle Götter und vor allen
Dianen die entschlossne Göttin an,
Die ihren Schutz der Priesterin gewiss,
200
Und Jungfrau einer Jungfrau, gern gewährt.
ARKAS. Sei ruhig! Ein gewaltsam neues Blut
Treibt nicht den König, solche Jünglingstat
Verwegen auszuüben. Wie er sinnt,
Befürcht ich andern harten Schluss von ihm,
205
Den unaufhaltbar er vollenden wird:
Denn seine Seel ist fest und unbeweglich.
Drum bitt ich dich, vertrau ihm; sei ihm dankbar,
Wenn du ihm weiter nichts gewähren kannst.
IPHIGENIE. O sage was dir weiter noch bekannt ist.
210
ARKAS. Erfahr’s von ihm. Ich seh den König kommen;
Du ehrst ihn, und dich heißt dein eigen Herz,
Ihm freundlich und vertraulich zu begegnen.
Ein edler Mann wird durch ein gutes Wort
Der Frauen weit geführt.
IPHIGENIE (allein). Zwar seh ich nicht,
215
Wie ich dem Rat des Treuen folgen soll.
Doch folg ich gern der Pflicht, dem Könige
Für seine Wohltat gutes Wort zu geben,
Und wünsche mir, dass ich dem Mächtigen,
Was ihm gefällt, mit Wahrheit sagen möge.
IPHIGENIE. THOAS.
220
IPHIGENIE. Mit königlichen Gütern segne dich
Die Göttin! Sie gewähre Sieg und Ruhm
Und Reichtum und das Wohl der Deinigen
Und jedes frommen Wunsches Fülle dir!
Dass, der du über viele sorgend herrschest,
225
Du auch vor vielen seltnes Glück genießest.
THOAS. Zufrieden wär ich, wenn mein Volk mich rühmte:
Was ich erwarb, genießen andre mehr
Als ich. Der ist am glücklichsten, er sei
Ein König oder ein Geringer, dem
230
In seinem Hause Wohl bereitet ist.
Du nahmest Teil an meinen tiefen Schmerzen,
Als mir das Schwert der Feinde meinen Sohn,
Den letzten, besten, von der Seite riss.
Solang die Rache meinen Geist besaß,
235
Empfand ich nicht die Öde meiner Wohnung;
Doch jetzt, da ich befriedigt wiederkehre,
Ihr Reich zerstört, mein Sohn gerochen ist,
Bleibt mir zu Hause nichts das mich ergetze.
Der fröhliche Gehorsam, den ich sonst
240
Aus einem jeden Auge blicken sah,
Ist nun von Sorg und Unmut still gedämpft.
Ein jeder sinnt was künftig werden wird,
Und folgt dem Kinderlosen, weil er muss.
Nun komm ich heut in diesen Tempel, den
245
Ich oft betrat um Sieg zu bitten und
Für Sieg zu danken. Einen alten Wunsch
Trag ich im Busen, der auch dir nicht fremd,
Noch unerwartet ist: ich hoffe, dich
Zum Segen meines Volks und mir zum Segen,
250
Als Braut in meine Wohnung einzuführen.
IPHIGENIE. Der Unbekannten bietest du zu viel,
O König, an. Es steht die Flüchtige
Beschämt vor dir, die nichts an diesem Ufer
Als Schutz und Ruhe sucht, die du ihr gabst.
255
THOAS. Dass du in das Geheimnis deiner Abkunft
Vor mir wie vor dem Letzten stets dich hüllest,
Wär unter keinem Volke recht und gut.
Dies Ufer schreckt die Fremden: das Gesetz
Gebietet’s und die Not. Allein von dir,
260
Die jedes frommen Rechts genießt, ein wohl
Von uns empfangner Gast nach eignem Sinn
Und Willen ihres Tages sich erfreut,
Von dir hofft ich Vertrauen, das der Wirt
Für seine Treue wohl erwarten darf.
265
IPHIGENIE. Verbarg ich meiner Eltern Namen und
Mein Haus, o König, war’s Verlegenheit,
Nicht Misstraun. Denn vielleicht, ach wüsstest du,
Wer vor dir steht, und welch verwünschtes Haupt
Du nährst und schützest; ein Entsetzen fasste
270
Dein großes Herz mit seltnem Schauer an,
Und statt die Seite deines Thrones mir
Zu bieten, triebest du mich vor der Zeit
Aus deinem Reiche; stießest mich vielleicht,
Eh zu den Meinen frohe Rückkehr mir
275
Und meiner Wandrung Ende zugedacht ist,
Dem Elend zu, das jeden Schweifenden,
Von seinem Haus Vertriebnen überall
Mit kalter fremder Schreckenshand erwartet.
THOAS. Was auch der Rat der Götter mit dir sei,
280
Und was sie deinem Haus und dir gedenken;
So fehlt es doch, seitdem du bei uns wohnst
Und eines frommen Gastes Recht genießest,
An Segen nicht, der mir von oben kommt.
Ich möchte schwer zu überreden sein,
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Dass ich an dir ein schuldvoll Haupt beschütze.
IPHIGENIE. Dir bringt die Wohltat Segen, nicht der Gast.
THOAS. Was man Verruchten tut, wird nicht gesegnet.
Drum endige dein Schweigen und dein Weigern;
Es fordert dies kein ungerechter Mann.
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Die Göttin übergab dich meinen Händen;
Wie du ihr heilig warst, so warst du’s mir.
Auch sei ihr Wink noch künftig mein Gesetz:
Wenn du nach Hause Rückkehr hoffen kannst,
So sprech ich dich von aller Fordrung los.
295
Doch ist der Weg auf ewig dir versperrt,
Und ist dein Stamm vertrieben, oder durch
Ein ungeheures Unheil ausgelöscht,
So bist du mein durch mehr als Ein Gesetz.
Sprich offen! und du weißt, ich halte Wort.
300
IPHIGENIE. Vom alten Bande löset ungern sich
Die Zunge los, ein langverschwiegenes
Geheimnis endlich zu entdecken. Denn
Einmal vertraut, verlässt es ohne Rückkehr
Des tiefen Herzens sichre Wohnung, schadet,
305
Wie es die Götter wollen, oder nützt.
Vernimm! Ich bin aus Tantalus’ Geschlecht.
THOAS. Du sprichst ein großes Wort gelassen aus.
Nennst du Den deinen Ahnherrn, den die Welt
Als einen ehmals Hochbegnadigten
310
Der Götter kennt? Ist’s jener Tantalus,
Den Jupiter zu Rat und Tafel zog,
An dessen alterfahrnen, vielen Sinn
Verknüpfenden Gesprächen Götter selbst,
Wie an Orakelsprüchen sich ergetzten?
315
IPHIGENIE. Er ist es; aber Götter sollten nicht
Mit Menschen, wie mit ihresgleichen, wandeln;
Das sterbliche Geschlecht ist viel zu schwach
In ungewohnter Höhe nicht zu schwindeln.
Unedel war er nicht und kein Verräter;
320
Allein zum Knecht zu groß, und zum Gesellen
Des großen Donnrers nur ein Mensch. So war
Auch sein Vergehen menschlich; ihr Gericht
War streng, und Dichter singen: Übermut
Und Untreu stürzten ihn von Jovis Tisch
325
Zur Schmach des alten Tartarus hinab.
Ach und sein ganz Geschlecht trug ihren Hass!
THOAS. Trug es die Schuld des Ahnherrn oder eigne?
IPHIGENIE. Zwar die gewalt’ge Brust und der Titanen
Kraftvolles Mark war seiner Söhn und Enkel
330
Gewisses Erbteil; doch es schmiedete
Der Gott um ihre Stirn ein ehern Band.
Rat, Mäßigung und Weisheit und Geduld
Verbarg er ihrem scheuen düstern Blick;
Zur Wut ward ihnen jegliche Begier,
335
Und grenzenlos drang ihre Wut umher.
Schon Pelops, der Gewaltig-Wollende,
Des Tantalus geliebter Sohn, erwarb
Sich durch Verrat und Mord das schönste Weib,
Des Önomaus Tochter, Hippodamien.
340
Sie bringt den Wünschen des Gemahls zwei Söhne,
Thyest und Atreus. Neidisch sehen sie
Des Vaters Liebe zu dem ersten Sohn
Aus einem andern Bette wachsend an.
Der Hass verbindet sie, und heimlich wagt
345
Das Paar im Brudermord die erste Tat.
Der Vater wähnet Hippodamien
Die Mörderin, und grimmig fordert er
Von ihr den Sohn zurück, und sie entleibt
Sich selbst –
THOAS. Du schweigest? Fahre fort zu reden!
350
Lass dein Vertraun dich nicht gereuen! Sprich!
IPHIGENIE. Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt,
Der froh von ihren Taten, ihrer Größe,
Den Hörer unterhält und still sich freuend
Ans Ende dieser schönen Reihe sich
355
Geschlossen sieht! Denn es erzeugt nicht gleich
Ein Haus den Halbgott noch das Ungeheuer;
Erst eine Reihe Böser oder Guter
Bringt endlich das Entsetzen, bringt die Freude
Der Welt hervor. – Nach ihres Vaters Tode
360
Gebieten Atreus und Thyest der Stadt,
Gemeinsam-herrschend. Lange konnte nicht
Die Eintracht dauern. Bald entehrt Thyest
Des Bruders Bette. Rächend treibet Atreus
Ihn aus dem Reiche. Tückisch hatte schon
365
Thyest, auf schwere Taten sinnend, lange
Dem Bruder einen Sohn entwandt und heimlich
Ihn als den seinen schmeichelnd auferzogen.
Dem füllet er die Brust mit Wut und Rache
Und sendet ihn zur Königsstadt, dass er
370
Im Oheim seinen eignen Vater morde.
Des Jünglings Vorsatz wird entdeckt; der König
Straft grausam den gesandten Mörder, wähnend
Er töte seines Bruders Sohn. Zu spät
Erfährt er, wer vor seinen trunknen Augen
375
Gemartert stirbt; und die Begier der Rache
Aus seiner Brust zu tilgen, sinnt er still
Auf unerhörte Tat. Er scheint gelassen,
Gleichgültig und versöhnt, und lockt den Bruder
Mit seinen beiden Söhnen in das Reich
380
Zurück, ergreift die Knaben, schlachtet sie
Und setzt die ekle schaudervolle Speise
Dem Vater bei dem ersten Mahle vor.
Und da Thyest an seinem Fleische sich
Gesättigt, eine Wehmut ihn ergreift,
385
Er nach den Kindern fragt, den Tritt, die Stimme
Der Knaben an des Saales Türe schon
Zu hören glaubt, wirft Atreus grinsend
Ihm Haupt und Füße der Erschlagnen hin.
Du wendest schaudernd dein Gesicht, o König:
390
So wendete die Sonn ihr Antlitz weg
Und ihren Wagen aus dem ew’gen Gleise.
Dies sind die Ahnherrn deiner Priesterin;
Und viel unseliges Geschick der Männer,
Viel Taten des verworrnen Sinnes deckt
395