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Erik Neutsch

Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte

ISBN 978-3-86394-783-5 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien 1995 bei Faber & Faber, Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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1. Kapitel

Neulich erfuhr ich von meinem Freund Michael eine Geschichte. Sie war so erstaunlich, dass ich sie zuerst gar nicht glauben wollte. Dann aber fragte ich mich, ob ich sie nicht aufschreiben sollte. Damit auch andere sie zu lesen bekommen. Erwachsene, aber vor allem Kinder.

Dieser Michael, muss ich vorausschicken, ist ein Junge mit dunklem, wuschligem Haar und zwei flinken braunen Augen, die hin und her huschen und sich nicht satt sehen können an der Welt. Manchmal aber verhält er sich auch ganz still. Und besonders, wenn er an Gussi denkt, das Graugänsekind, scheinen seine Augen zu träumen. Sein Blick verliert sich in weite Ferne. Ob er dann wohl mit seinen Gedanken im Süden weilt, in Afrika hinter dem großen Meer, wo viele Vögel den Winter verbringen? Die Nachtigallen und Störche, die Schwalben und die Kraniche, Grasmücken und Laubsänger und auch manche Gänse?

Michael wohnt in einem Dorf zwischen zwei mächtigen Flüssen, in einer Gegend, die man das Luch nennt. Auch ein See liegt in der Nähe. Je nach dem, wie der Himmel sich über ihm ausnimmt, färbt sich sein Wasser. Ziehen finstere Wolken auf, zeigt er sich drohend und beinahe schwarz. Weißlich hingegen, fast silbrig glitzert er, wenn sich die Sonne auf seinen Wellen spiegelt. Himmelblau leuchtet er, wenn auch der Himmel blau ist, feurig rot und orange am Abend, sobald ihn die letzten Strahlen der Sonne treffen.

An diesem See, sagte Michael, ist das alles wirklich geschehen. Als er noch klein war, kleiner als jetzt. Und das war vor einem Jahr, nachdem er gerade in die Schule gekommen war.

Doch wie ich sehe, bin ich schon mitten im Erzählen. So will ich denn fortfahren und mit der Geschichte ganz von vorn beginnen ...

2. Kapitel

Es war einmal ein Gänseelternpaar. Frühling für Frühling kehrte es aus dem fernen Afrika wieder heim ins Luch und baute ein Nest am Schilfufer des Sees, der schwarz oder silbrig aussieht, blau oder feurig rot, je nach dem, welche Farbe der Himmel über ihm trägt.

Wie in jedem Jahr, so geschah es auch diesmal. Die Mutter legte täglich ein Ei, bis sie das Nest mit ihnen gefüllt hatte. Acht waren es an der Zahl, und in jedem sollte ein junges Gänslein heranwachsen, ein Gössel. Pausenlos saß sie darauf und brütete, wärmte die Eier mit ihrem Leib. Nur wenn sie Hunger verspürte, verließ sie kurz das Gelege, um sich zu nähren. Ebenso unablässig, aufrecht und stolz, stand der Vater daneben, der Ganter, reckte den langen, hellbraun und grau gefiederten Hals, drehte den Kopf in alle Richtungen des Windes und hielt Wache.

Ein ganzer Monat mochte auf diese Weise vergangen sein. Mit kaltem Regen, Hagelschauern und wütenden Stürmen, doch immer öfter auch mit Sonnenschein. Der zerteilte die Wolken, und die Erde, den See und die Gänseeltern bei ihrem Nest im Rohr begann er mit seinen Strahlen wie mit zärtlichen Händen zu streicheln. Allem hauchte er Leben ein.

Da endlich war es soweit.

„Wiwiwie, wiwiwie", erscholl unter den Schalen ein Stimmchen nach dem andern, und es klang, als wollte ein jedes sagen: „Ich bin hie, ich bin hie ..."

„Gangganggang, gangganggang“ antwortete die Mutter und erhob sich schnatternd vom Gelege, „nun dauert es nicht mehr lang."

Und auch der Vater rief froh: „Gackgackgaak, gackgackgaak - heut ist ein Freudentag."

Ein Ei nach dem anderen zerplatzte, wurde von innen her von den Jungen mit ihren Schnäbelchen aufgepickt. Gössel um Gössel schlüpfte, und bald waren es ihrer sieben. In ihren oberseits grünlichgrauen und bäuchlings gelben Daunenkleidchen glichen sie Wattebäuschen. Wispernd drückten sie sich aneinander und verkrochen sich in den Schutz der Mutter.

Das achte und letzte Ei aber brach erst am nächsten Tag auf. „Wiwiwie - ich bin hie!", ertönte auch daraus ein Stimmenlaut, doch er wirkte noch recht verschlafen, war leise und schloss mit einem herzhaften Gähnen.

„Gangganggang", entgegnete wieder die Mutter.

„Gackgackgaak", machte der Vater.

Die sieben Gössel jedoch, sämtlich Brüder, schwiegen plötzlich und schauten nur neugierig zu, wie sich nach und nach aus der schmutzigweißen Schale ein wunderschönes Gänsekind pellte.

Seine Daunen waren von solch einem reinen, leuchtenden Gelb, dass es aussah, als trügen sie die Farben der Sonne. Wahrhaftig, das Gänslein schien über und über in Gold gekleidet. Nur seine Augen, die jetzt zum ersten Mal die Welt erblickten und vor Staunen immer größer wurden, nahmen sich darin aus wie zwei kullerrunde schwarze Perlen.

Die sieben Brüder hatten ein Schwesterchen erhalten. Die glücklichen Eltern nannten es Gussi. Und alle fanden es hübsch und überhäuften es fortan mit besonderer Sorge und Liebe.

Gussi spürte es bald, genoss es und ließ sich verwöhnen.

3. Kapitel

Bereits am zweiten Tag nach Gussis Geburt führten die Eltern ihre Kinder aus dem Nest, zunächst ins Wasser und dann auf eine an das Seeufer grenzende Weide. Sofort konnten sie schwimmen und laufen.

Die Mutter watschelte voran, bestimmte den Weg und suchte einen Platz, wo es für sie alle den ganzen Sommer über genügend Nahrung geben würde. Ihr folgten die Kinder, Gussi inmitten ihrer Brüder, mit vieren vor und dreien hinter sich. Den Zug beschloss der Vater, der somit die gesamte Familie vor Augen hatte und jedes seiner Gössel auf Schritt und Tritt beobachten konnte.

Es war ein richtiger Gänsemarsch. Und was für ein Geschnatter klang von ihm auf und schwang sich in die Luft. So, als sängen alle gemeinsam ein fröhliches Lied. Doch wehe, wenn einmal jemand aus der Reihe tanzen wollte! Wie soeben Gussi, als sie auf einer gelben Blüte vom Löwenzahn einen bunten Schmetterling entdeckte und übermütig zu ihm hinlief, um sich die blau und rot schillernden Kringelchen auf seinen Flügeln aus der Nähe zu betrachten.

„Gackgaak! Gackgaak!", hörte sie da die Stimme des Vaters in ihrem Rücken. Er schimpfte und sträubte zornig sein Gefieder.

Die Mutter aber wandte sich daraufhin um und hielt im Weiterschreiten inne. „Ganggang", sagte sie. „Jaja. Unser Töchterchen hat recht. Der Weg ist noch weit. Wir sollten eine Rast einlegen und uns mit Speisen stärken."

Im Nu stürzten sich die Brüder auf die saftigen Blätter des Löwenzahns, der die Wiesen hier bewucherte.