Karl May war des jungen Josef Winkler Lektüregott. Älter und selber Autor geworden, las der Büchnerpreisträger »Winnetou« und »Weihnacht« erneut und betrachtete die Bilder Sascha Schneiders. Vier Nacherzählungen entstanden - dazu eine Geschichte, die noch einmal in Winklers Kärntner Indianerkindheit zurückführt.
Als die Karl-May-Filme mit Pierre Brice und Lex Barker Mitte der Sechzigerjahre in die österreichische Provinz kamen, wurden in meinem Heimatdorf Kamering Filmplakate auf unsere marode Heustadelwand geklebt, neben einem üppig Früchte tragenden Marillenbaum, den der Onkel für mich eingepflanzt hatte. Im Nachbardorf Ferndorf, am anderen Ufer der Drau, im Kinosaal des Heraklithwerkes, wurde »Winnetou I« gezeigt. Über eine Stunde lang flehte ich meinen Vater in der ratternden Getreidemühle an, ob ich mit dem Lehrer ins Kino gehen dürfe, das erstemal in meinem Leben, bis er, vollkommen eingestaubt vom frischen Mehl, zustimmend nickte. Danach wollte ich unbedingt die Karl-May-Bücher lesen, wußte aber nicht, wie ich an Geld herankommen sollte, denn die Mutter sagte einmal: »Für Bücher haben wir kein Geld!«
In meiner Verzweiflung begann ich von den Eltern und von der Pfarrerköchin Geld zu stehlen. Mutter und Vater beäugten mich beim Lesen mißtrauisch, denn die Nachbarin sagte zu meiner leichtgläubigen Mutter: »Karl May verdirbt ihn!« Erlöst wurde ich erst vom Tierarzt, der nach getaner Arbeit mit einer Terpentinseife, auf der ein Hirschkopf eingeprägt war, seine Hände wusch und mich dabei fragte, was ich denn da lese, und mich in Anwesenheit meiner Eltern bestärkte: »Sehr gut! Sehr gut!«
Noch im Alter von fünfzehn Jahren, als ich bereits die Handelsschule in Villach besuchte, verlor ich die Karl-May-Bücher nicht aus den Augen, obwohl ich bereits Camus, Hemingway und Sartre las. In einer Buchhandlung entdeckte ich gebundene Ausgaben mit den mich anziehenden mystisch-christlich-homoerotischen Deckblattbildern des Künstlers Sascha Schneider, einem Zeitgenossen und Freund von Karl May. Woche für Woche stahl ich nacheinander diese sündteuren antiquarischen Bücher.
Der älteste Bruder und zukünftige Hoferbe beschwerte sich beim Vater, daß auch er auf dem Hof arbeiten müsse, damit mein Schulgeld für die Handelsschule bezahlt werden könne, während meine anderen Geschwister in einer Handwerkerlehre ihr eigenes Geld verdienten. Die Maschinschreiblehrerin verlangte, daß wir, um das Zehnfingersystem schneller zu erlernen, auch zu Hause üben sollten. Als der Vater einmal mit dem ältesten Bruder aus Villach zurückkam, stellte er grinsend eine Brother de luxe, eine hellblaue Schreibmaschine mit weißen Kunststofftasten auf den Küchentisch unter den Augen des mürrischen zukünftigen Ackermann, der mit dem Vater die Schreibmaschine auch noch aussuchen mußte.
Der Marillenbaum wurde eines Tages vom Vater, der mich bei einem Mittagessen im Beisein meiner Brüder einen »nutzlosen Marmeladefresser« nannte, und vom ältesten Bruder ohne Vorankündigung abgeholzt. Es war wie ein Mordanschlag.
Ich nahm »Winnetou III« mit dem Titelbild von Sascha Schneider zur Hand, auf dem der nackte Winnetou abgebildet war, dem bei der Himmelfahrt die Häuptlingsfeder abhandenkam, und begann die Sterbepassage abzutippen, das Zehnfingersystem am Tod Winnetous zu erlernen. Schritt- und buchstabenweise begann damit Anschlag für Anschlag der Abschied von den Eltern und Geschwistern.
Josef Winkler, geboren 1953 in Kamering (Kärnten), lebt in Klagenfurt.