Palast der Knochen

 

 

 

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Band 28

 

Palast der Knochen

 

von Catalina Corvo und Christian Montillon

nach einer Story von Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2014

© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

Lektorat: Dario Vandis

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur

 

http://www.zaubermond.de

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

 

 

Was bisher geschah:

 

Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.

Asmodi, der Fürst der Finsternis, und Graf Nocturno, der Anführer der Oppositionsdämonen, schließen einen Pakt: die Charta Daemonica. Damit ist Asmodi einmal mehr der unumstrittene Herrscher über die Schwarze Familie. Der geheimnisumwitterte Nocturno bedingt sich allein drei winzige Gebiete aus – und Coco Zamis als seine Begleiterin.

Damit er sich Cocos Begleitung auch sicher sein kann, verwandelt er ihren Vater in einen krötenartigen Freak.

Nocturno entführt Coco ins Innere der Erde. Er selbst verschwindet in Richtung centro terrae, der Heimat der geheimnisumwitterten Zentrumsdämonen.

Coco selbst findet sich in Wien wieder. Die Machtverhältnisse sind vakant. Dank Asmodis geschickten Winkelzügen wittern die Gegner der Zamis Morgenluft und dringen auf ihre Chance, ihnen die Führung unter den Wiener Sippen streitig zu machen.

Thekla Zamis hat sich unterdessen mit Asmodi – ihrem Vater – getroffen, um noch Zeit herauszuschlagen. Asmodi hat ihr daraufhin ein »unmoralisches Angebot« unterbreitet.

Die Entscheidung, dieses anzunehmen und damit ihrer Familie zu helfen, oder gegen die anderen Familien in den Kampf zu ziehen, fällt Thekla nicht leicht.

Es sei denn, es gibt noch eine dritte Lösung …

 

 

 

 

Erstes Buch: Nächte Palast der Knochen

 

 

Nächte Palast der Knochen

 

von Catalina Corvo

nach einer Story von Uwe Voehl

 

»Oh! Say! Let us fly, dear

Where, kid? To the sky, dear

Oh you flying machine. Jump in,

Miss Josephine. Ship ahoy!

Oh joy, what a feeling

Where, boy? In the ceiling

Ho, High, Hoopla we fly

To the sky so high.«

(»Come Josephine in my Flying Machine«)

 

1.

 

Wien (Gegenwart)

»Wer tut so was?«

Bezirksinspektor Schiffmann fuhr sich übers Kinn, während Revierinspektor Premhuber Fotos vom Tatort machte. Das ging für den Anfang schneller, als auf die Akte der Spurensicherung zu warten. Die Herren und Damen von der Forensik suchten und sammelten und huschten geschäftig umher wie emsige Bienen. Premhuber hatte bereits mit dem Karussellbesitzer gesprochen und den Platzwart beruhigt.

Langsam trudelten die Schaubudenbesitzer und Karussellhelfer ein. In den frühen Stunden eines diesigen Morgens bekamen die Schaulustigen zum Glück nur noch den Plastiksack zu Gesicht, der gerade in den Leichenwagen geladen wurde.

Ein Vorteil, dass das Opfer noch im Dunkeln gefunden worden war. Penner, die sich widerrechtlich auf den Wurstelprater schlichen, um sich unterm Riesenrad ein Übernachtungsplätzchen zu suchen, hatten auch etwas für sich. Besonders, wenn sie den Anstand besaßen, bei so einem Fund die Polizei zu rufen.

Schiffmann steckte sich eine Zigarette an. Rauchend betrachtete er das Kinderkarussell mit der Biene, dem Auto, dem Raumschiff und dem Flugzeug. »Für einen Sexualmord höchst ungewöhnlich. Und was für ein Aufwand.«

»Habe gerade mit Kerberlein von der Spurensicherung gesprochen.«

»Und?«

»Nach erster Untersuchung deutet noch nichts auf eine Vergewaltigung hin. Vielleicht ein Sektenmord?«

»Ja.« Udo Schiffmann inhalierte tief. »Ich habe auch schon an Stigmata gedacht.«

»Ich verstehe nur nicht, was die drei Löcher im Schädel bedeuten. Durchstoßene Hände und Füße, das ergibt ja noch Sinn. Aber eine winzige Bohrung im Scheitel? Das passt nicht, dann schon eher Schnittwunden in der Stirn, und da war nicht das Geringste, sagt Kerberlein.«

»Außerdem wäre noch zu klären, warum der Mörder sein Opfer nackt in die Gondel eines Kinderkarussells stopft.«

Premhuber zuckte die Achseln. »Vielleicht, damit das Flugzeug es in dem Himmel fliegt.«

»Oder er ist pädophil.« Die Zigarette war aufgeraucht. Schiffmann steckte den Stumpf zu den anderen in die Plastiktüte in seiner Jackentasche. »Aber dafür war sie eigentlich zu alt.«

»Und außergewöhnlich schön.«

»Premhuber, ich sage Ihnen, das ist ein Ritualmord. Ich hab das im Urin.« Der Hauptkommissar seufzte. »Viele Details. Wir werden auf die Akte warten müssen.«

 

Thekla, Knokke (Vergangenheit)

»Carola, Carola, hoch mit dir!«, sangen die Jungs und warfen das kreischende Mädchen in die Höhe, um sie dann unter Gejohle wieder aufzufangen. Carola jauchzte mit. Ihr goldenes Haar wehte und glänzte wie glitzernde Lianen, wenn sie flog. Und ebenso glitzerten die Strasssteinchen auf ihrem hellblauen Badeanzug, den sie in Antwerpen in einem teuren Geschäft gestohlen hatte.

Sicher war er für einen amerikanischen Filmstar geschneidert worden. Um sein vornehmes Schicksal betrogen, klebte er nun am halbfraulichen Körper einer Vierzehnjährigen, die sich mit einer Horde Jungs im Sand balgte.

Christine Fodrek verzog die Mundwinkel. Ein bisschen hatte ihre Schwester ja schon das Auftreten einer Diva. Mondän und hübsch. Mit sonnenbrauner Haut und einem affektierten Lachen, das die Jungs verrückt machte, und Brüsten, die seit dem Frühjahr ansehnlich gewachsen waren. Carola hatte Form bekommen.

So ansehnlich, dass die männliche Jugend von Knokke ihr Ballspiel unterbrach, wenn Carola, der Filmstar, an den Strand schwebte. Dann nahmen die Jungs sie auf die Schultern und machten Wettläufe, wer am schnellsten und längsten mit ihr rennen konnte.

Christine wollte keiner auf seinen Schultern tragen. Kein Wunder, sie war ja nur die graue Maus. Brünett und eine Bohnenstange. Ohne Dekolleté zum Angeben. Niemand mochte Brünette. Aber Jungs mochten Brüste. Und wenn eine der Fodrek-Schwestern alles besaß, was die Burschen wollten, die andere gar nichts, dann war klar, wer Aufmerksamkeit bekam und wer der anderen Schatten wurde. Ein ungeliebter Schatten noch dazu. Wann immer sie zum Strand kamen, ignorierte Carola Fodrek ihre Schwester geflissentlich und gründlich.

Christine vertrieb sich die Zeit, indem sie den anderen zusah und zum Üben Zauberformeln in den Sand schrieb. Damit Madame Croon, die alte Schachtel, keinen Grund hatte, sie in der nächsten Unterrichtsstunde zu rügen.

»Wir lernen bei der talentiertesten Hexe von Belgien«, konstatierte Carola oft, nur um dann ihre Hausaufgaben zu vergessen. Sie konnte sich das auch leisten. Madame Croon liebte Carola genauso wie die Jungs. Bei jeder Gelegenheit half sie Carola beim Umziehen, oder strich über ihren Po und Rücken. Die begehrlichen Blicke, die die hässliche alte Gans ihrer Schwester hinterherwarf, bekam nur Christine mit. Vielleicht war das der Grund, warum die Croon sie hasste. Sie wusste zu viel, und obwohl sie sich zurückhielt und nichts sagte, wusste die Croon, dass sie es wusste und so ging das fort. Jedenfalls übte Christine Zauberformeln. Denn eine talentierte Hexe war die Alte tatsächlich. Und Christine wollte lernen. Unabhängig davon, ob die Lehrerin sie nun mochte oder nicht. Sie war ein notwendiges Übel.

Genauso wie Carola und der Strand und die Jungs. Solange sie in dem belgischen Badeort bei der alten Hexe lernte, musste sie das Freizeitprogramm ertragen, genauso wie den Französischunterricht und die Musikstunden. Carolas dumme Streiche, ihre Missgunst und Arroganz hatte sie immerhin ihr ganzes Leben lang ertragen, da war Knokke keine Ausnahme. Und der Sommer währte ja auch nicht ewig. Im Winter würde auch Carola mehr an die Villa der Croon gebunden sein.

Einen Lichtblick gab es immerhin. Er hieß Rodolphe. Er war nicht der kräftigste Junge im Rudel und auch nicht der mit dem schönsten Körper, aber er hatte ein süßes Lächeln und Grübchen. Und er nahm zumindest wahr, dass es Christine gab. Manchmal sah er zu ihr hinüber, und er lachte nicht ganz so laut mit, wenn Carola lachte. Christine mochte das. Er war süß. Und ein Dämon. Das hatte sie schon zu spüren gelernt. Ein hübscher Dämon. Mit besagten Grübchen, kräftigen Augenbrauen und darunter leicht schräg stehenden Augen, die selbst bei Sonnenuntergang ein wenig heller schimmerten, als normal gewesen wäre.

Gelangweilt blätterte Christine in einer Modezeitschrift, während sie darauf wartete, dass Carola an dem Spiel mit den Jungs die Lust verlor. Leider war da kein Ende in Sicht. Carola amüsierte sich prächtig, besonders, als Bernd mit Anselm einen Streit anfing und Anselm ihm Sand in die Augen warf. Bernd torkelte brüllend umher, und Carola kriegte sich nicht wieder ein.

Die Modezeitschrift war langweilig und die Sonne eigentlich auch viel zu hell zum Lesen. Plötzlich fiel ein Schatten über Christine.

Sie sah hoch. Neben ihr stand Rodolphe, und er hielt ihr einen aufgespannten Schirm aus Papier hin, wie ihn die vornehmen Damen benutzten, um mit ihren Hunden und ihren Galanen auf der Promenade zu flanieren.

»Tag auch.« Rodolphe lächelte sein hübsches Grübchenlächeln. Der Schirm drehte sich unter Rodolphes Fingern, als wolle er jeden Moment losfliegen.

Christine wurde rot.

 

Coco, Wien (Gegenwart)

»Up she goes, up she goes …«

Auf und ab perlten auch die Töne. Ein heller Bariton geleitete mich hinunter ins Erdgeschoss, lotste mich zur Küche. Dort deckte Georg den Tisch. Halb sang, halb summte er dabei ein altes Lied vor sich hin. Irgendetwas an der Art, wie die Töne seiner Kehle entsprangen, ließ mich stutzen.

»Balance yourself like a bird on a beam. In the air she goes! There she goes!«

Vielleicht lag es daran, dass mein Bruder nie sang. Noch weniger mit einem adretten britischen Akzent. Mit Musik hatte er für gewöhnlich wenig am Hut.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich vorsichtig, eingedenk der seltsamen Art mit der er mich vor wenigen Minuten geweckt hatte. Sein irritierendes Verhalten setzte sich hier in der Küche fort.

Als ich ihn jedoch ansprach, unterbrach er sich. »Ja natürlich, wieso nicht?«

»Du singst?«

Georg zuckte die Achseln und zwinkerte. »Ist das so schlimm?«

»Nein«, gab ich zurück. »Aber du tust das doch sonst nie.«

»Und da tut er auch gut dran«, brummte Adalmars dumpfer Bass in meinem Rücken. Sein Gehstock schob mich dezent beiseite. Ich wich aus und machte meinem mürrischen Bruder Platz.

Je älter er wurde, desto mehr glich er Vater. Der grimmige Blick, die Art wie er Georg und mich ignorierte, während er sich, wie so oft in seine dunkle Alchemistenrobe gehüllt, an den gedeckten Tisch setzte. Ich fragte mich, warum er nicht gleich Vaters Stuhl für sich in Anspruch nahm. Aber den ließ er frei, nahm rechts daneben Platz.

Ich setzte mich vorsorglich ans andere Ende Tisches. Adalmar hatte mich noch nie gemocht oder in seiner Nähe haben wollen. Und ich wollte ihn nicht provozieren, solange ich nicht wusste, worum es bei dem angekündigten Familiengespräch überhaupt ging. Außerdem klebte an seinem Gewand noch ein leichter, aber penetranter Geruch von Blut und Weihrauch.

Georg hingegen ließ sich sofort neben ihm nieder, schenkte Kaffee aus und war überhaupt ungewöhnlich aufmerksam und gut gelaunt. Er lächelte sogar Lydia an, als diese kaum, dass ich mich gesetzt hatte, ins Zimmer tippelte. Sie trug eines ihrer üblichen, eng anliegenden Minikleider und hochhackige, kniehohe Stiefel, die dem Parkett sicher nichts Gutes taten.

»Na, du hässliche Gans«, begrüßte sie mich mit der familienüblichen Liebenswürdigkeit. »Wenn du schon nicht weißt, was eine Grundierung ist, dann benutz doch wenigstens einen Zauber, um deine schrecklichen Augenringe zu verdecken. Kein Wunder, dass du immer nur Verlierer abkriegst.«

Ich sparte mir eine Erwiderung, die an Lydia genauso verschwendet war wie damals an Vera, und zum Glück bewahrte mich Mutters Ankunft vor weiteren Sticheleien.

Ein Blick brachte meine Schwester zum Schweigen und gefror Georgs Grinsen. Mutter war es auch, die auf Vaters Stuhl Platz nahm. Und außer mir schien das niemand ungewöhnlich zu finden. Ich war wohl länger im centro terrae gewesen, als das Datum des Wandkalenders vermuten ließ. Auch in Wien musste einiges passiert sein.

»Ich muss euch gravierende Neuigkeiten mitteilen«, eröffnete Thekla, ohne Georgs gedeckten Tisch auch nur eines Blickes zu würdigen. »Die Lage ist mehr als ernst.«

»Was ist passiert?«, fiel ihr Adalmar ins Wort. »Coco und Georg sind wieder da. Nocturno ist fort. Das ist doch ein Erfolg.«

Aber Mutter schüttelte den Kopf. »Nur teilweise. Nocturno mag ja seinen Teil des Versprechens eingelöst haben, aber Asmodi denkt nicht daran.« Bitternis lag in ihrer Stimme und ihrem verächtlichen Blick. »Im Gegenteil. Er nutzt die Situation gegen uns gnadenlos aus, wiegelt unterschwellig die anderen Familien auf und macht ihnen den Mund wässrig. Sie beanspruchen unsere Macht. Sie glauben, dass wir ohne euren Vater nichts sind, und wollen uns endgültig vernichten. Und ganz falsch liegen sie dabei leider nicht. Toth hat mich über ein Ultimatum informiert. Es fordert von uns, Wien aufzugeben oder unterzugehen.«

Lydia starrte auf ihre Fingernägel. Georg lümmelte sich wie ein müder Pennäler am Tisch, hauchte seinen leeren Teller an und zeichnete kleine Gesichter in die Atemfeuchte auf dem Porzellan. Niemand sprach.

Doch dann sauste jäh Adalmars Faust auf den Tisch nieder. »Papperlapapp!«, ereiferte er sich. »Die Lexas und Nowottnys dieser Stadt können sich mit unserer Macht nicht messen.«

»Aber Asmodi kann es.« Wieder schüttelte Mutter den Kopf. »Wenn er nur neutral bliebe. Aber das tut er nicht. Er forciert die Situation, um mich in eine Zwangslage zu bringen. Für seine Hilfe müsste ich etwas tun, das ich nicht will.«

Georg richtete sich auf. »Was denn, Mutter?«

Sie schwieg einen düsteren Augenblick lang. Dann ließ sie die Bombe platzen. »Er will, dass ich mit ihm ein Kind zeuge. Eine Tochter. Eine zweite Coco, die nur ihm bestimmt ist.«

Schweigen senkte sich über die Küche wie Totenstille vor einem Sturm. Einen Lidschlag später versank der Esstisch im Chaos.

Adalmar erbleichte, Lydia kicherte hysterisch und Georg pfiff den Hochzeitsmarsch aus Carmen. Ich schüttelte energisch den Kopf. »Nein, Mutter. Das können wir nicht tun. Er ist wahnsinnig.«

»Ach ne!« Georg feixte. »Erzähl uns was Neues.«

Anscheinend hatte er durch seine Albernheiten den ohnehin sehr spröden Geduldsfaden seines Bruders überspannt. Adalmar versetzte ihm eine schallende Ohrfeige. Und Lydia gleich mit. »Reißt euch zusammen!«, schnauzte er seine Geschwister an.

Dann wandte er sich mir zu. »Und du bist nicht so vorlaut.« In diesem Augenblick erinnerte er mich mehr denn je an Vater.

Mutter schien von alldem unberührt. Sie saß still auf ihrem Platz, stützte das Kinn in die Hände und betrachtete uns nachdenklich. »Ich werde wohl oder übel darauf eingehen müssen«, erklärte sie mit einer Klarheit der Entscheidung, die mich erschreckte. Mutter war so kalt. So gelassen. Selbst nach den Maßstäben der Dämonen war dieser Vorschlag abartig und inakzeptabel. Welche Frau konnte das ertragen? Ich konnte nicht einmal den Gedanken ertragen und ich war diesmal nicht diejenige, die Asmodi ihren Körper schenken sollte.

»Es muss eine andere Lösung geben!«, begehrte ich auf.

Mutter zuckte die Achseln. »Ja, wir verlassen Wien, lassen deinen Vater im Stich und verlieren alles, was wir jemals aufgebaut haben. Das ist die Alternative.«

Ich wollte gegen diesen Fatalismus aufbegehren, da erhielt ich Hilfe von unerwarteter Seite. Adalmar. »Es kann nicht dein Ernst sein, mit Asmodi, diesem dreimal verfluchten Bastard, einen Klon Cocos zu erzeugen. Eine von der Sorte ist anstrengend genug. Vater hätte sich nicht so einfach ins Bockshorn jagen lassen.«

Mutter verzog keine Miene, aber ihre Augen blitzten. »Dein Vater hat sich bedauerlicherweise ins Bockshorn jagen lassen. Sonst säße er nicht seiner Kräfte und Mannesgaben beraubt im Keller wie ein Haustier. Und um dir und uns allen dieses Schicksal zu ersparen, müssen wir nachgeben.«

»Nein!« Adalmar presste die Lippen zusammen. »Es ist eine Frage der Ehre. Bevor du das tust, bringe ich dich eigenhändig um. Lieber geht die Familie Zamis in Würde unter.«

»Adalmar!« Der entsetzte Ausruf blieb die einzige Reaktion meiner Mutter.

Auch ich war wie gelähmt, denn in den Worten meines Bruders lag tödlicher Ernst. Lydia schnappte nach Luft. Wir schwiegen.

Bis auf Georg, der sich wohl wieder gefangen hatte. »Ich weiß nicht, was ihr alle habt«, erklärte er verwirrt. »Asmodi ist doch eine Sahneschnitte. Und die zweite Coco hat doch dann er am Hals. Also ich würd's machen.«

Adalmars folgenden Wutanfall tat ich mir nicht mehr an. Gemeinsam mit Lydia schlich ich aus der Küche. Durch eine Diskussion war nun nichts mehr zu gewinnen. Man würde einen späteren Zeitpunkt abwarten müssen. Dummerweise lief uns die Zeit davon.

 

Thekla, Knokke (Vergangenheit)

Wie auf glühenden, weiß geränderten Kohlen hockte Christine auf ihrem unbequemen Holzstuhl hinter der engen Schulbank. Ein verstohlener Blick auf die mit kleinen Drudenfüßen verzierte silberne Damenuhr an ihrem Handgelenk offenbarte ihr, dass der Zeiger sich seit dem letzten Blick kaum gerührt hatte.

Obwohl Christine für gewöhnlich die Stillarbeitsphasen von Madame Croons Unterricht schätzte und gerne ein weiteres Kapitel aus dem Daimonicon Maldigens schmökerte, konnte der Unterricht diesmal nicht schnell genug vorbeigehen. Etwas war anders als sonst.

Und das war ihre Verabredung mit Rodolphe. Das Unfassliche war eingetreten. Sie hatte eine richtige Verabredung mit einem richtigen Jungen. Er gehörte sogar zur Schwarzen Familie. Und ihre Schwester wusste nichts davon. Sie wollte ausnahmsweise zu Hause bleiben, um zu lernen. Sogar Madame Croon konnte die Faulheit ihres Lieblings nicht länger übersehen und hatte Carola ordentliche Hausaufgaben aufgebrummt. Carola dachte natürlich nicht daran, sich anzustrengen. Auch jetzt schlief sie auf ihrem Buch, anstatt darin zu lesen. Sie verließ sich darauf, dass Christine sie wie immer weckte, wenn Madames Schritte über den Flur schlurften, um nach ihren Schülerinnen zu sehen und das Erlernte abzufragen.

Carola, das faule Luder. Wie jedes Mal sonnte sich Christine in dem Gedanken, ihre Schwester einfach schlafen zu lassen, damit die Croon einmal aus nächster Nähe sah, was für ein Balg sie da hätschelte. Doch dann verwarf Christine die Idee wieder wie all die Male zuvor. Carola würde einen Weg finden, am Ende doch noch zu gewinnen. Carola machte das immer so. Egal,wie idiotisch sie sich auch anstellte, es war stets Christine, die alles ausbadete. Und wenn sie petzte, dann fand die Schwester einen Weg, ihr alles doppelt und dreifach heimzuzahlen. Nein, eine rachedurstige Carola an den Hacken zu haben, konnte sie sich nicht leisten. Nicht jetzt, nicht heute.

Am Strand würde er sie abends um acht treffen. Aber bis dahin musste noch viel geschehen. Sie musste sich hübsch machen und aus dem Haus schleichen. Aber davor kamen noch das Abendessen und der Nachmittagsunterricht. Wieder ein Blick auf die Uhr. Sie musste stehen geblieben sein. Wütend schüttelte Christine ihr Handgelenk, dann lauschte sie an der Uhr. Sie tickte leise. Mistding! Es konnten seit dem letzten Mal unmöglich nur zwei Minuten vergangen sein.

Neben ihr kicherte eine helle Stimme. Carola hatte ein Auge geöffnet und sah sie mit dem trägen Blick einer schläfrigen Katze an. »Na, langweilst du dich auch so?« Die Schwester grinste verschwörerisch. »Dann schlaf doch auch. Wir werden schon wach, bevor die Croon kommt.«

Zu ihrem eigenen Erstaunen erwog Christine den Vorschlag tatsächlich. Dann aber schüttelte sie den Kopf und nahm das Daimonicon wieder zur Hand. Heute durfte sie sich keine Verfehlung erlauben, nichts, was den Abend gefährdete.

»Streberin!«, brummte Carola, dann drehte sie den Kopf weg und schlief den Schlaf des Unheiligen. Christine hingegen vertiefte sich in das Buch und lernte für sie beide. Wie immer.

 

»Und wer erschuf den Palast aus Knochen?« Mehr denn je klang die von Alkohol und Ausschweifung zerstörte Stimme der alten Hexe wie das schnarrende Keifen einer Elster. Und einem Vogel gleich plusterte sie sich auch hinter ihrem Lehrerpult auf. Ihre kleinen schwarzen Äuglein huschten hin und her und behielten jede Bewegung im Blick. Sie waren so wachsam, dass selbst Carola die Ohren spitzte und aufmerksam nach vorn schaute.

»Der Magier Bayard«, gab Christine zurück.

»Er erschuf den Palast aus den Knochen von Dämonen«, ergänzte Carola. »Das verleiht ihm besondere Macht.« Überrascht fragte sich Christine, wann die Schwester das entsprechende Kapitel des Daimonicons gelesen hatte. Die zugehörige Arbeitsphase hatte sie schließlich verschlafen.

»Ah«, die faltigen Mundwinkel der Krähe verzogen sich zu einem herablassenden Lächeln. »Wir haben gelernt. Ganz reizend, Carola. So wirst du einmal eine ausgezeichnete Hexe.«

Christine hatte immer gelernt, aber ihr sagte niemand, dass sie mal eine ausgezeichnete Hexe werden würde.

»Dort hat er sich vor seinen Feinden in Sicherheit gebracht«, fuhr Christine fort. So leicht ließ sie sich nicht die Butter vom Brot nehmen. »Der Knochenpalast war seine Zuflucht. Sein Refugium.«

Die Croon nickte.

»Er ist unsichtbar!«, krähte Carola.

»Bayard soll immer noch darin hausen«, schoss Christine zurück.

Ein wütender Blick traf sie. Anscheinend versaute sie dem lieben Schwesterlein gerade seine Glanzstunde.

»Das ist nicht bewiesen!« Mit einer schnippischen Drehung des Kinns warf Carola ihr Haar von einer Schulter zur anderen.

Christine gab sich nicht geschlagen. Sie zischte herablassend. »Genauso wenig wie die Existenz von etwas bewiesen werden kann, das die meiste Zeit unsichtbar ist. Es sind Gerüchte und Legenden. Das steht ohnehin ausdrücklich in dem Buch.«

»Aber er soll schon aufgetaucht sein.« Carola fauchte leise. Ihrem Gesichtsausdruck nach wetzte sie innerlich schon die Krallen. »Tu nicht so, als wüsstest du immer alles. In Antwerpen wurde er 1900 gesehen und in Brügge um 1870.«

»Ja, und unter der Erde wohnen Leute mit Vril-Kraft, weil Bulwer-Lytton so was schreibt.« Christine zog die Mundwinkel herab, damit Carola ihre Verachtung auch deutlich spürte. »Wir leben im Jahr 1933. Werde erwachsen.«

»Unter der Erde sollen wirklich Dämonen hausen«, schnauzte Carola. »Und die sind viel mächtiger, als du je sein wirst, Christine.«

»Wen meinst du?«, schleuderte Christine zurück. »Zwerge? Dunkelalben? Magische Maulwürfe?«

»Genug!«, unterbrach die Croon. Ihre Stimme durchschnitt den Streit, wie ein scharfes Messer Butter zerteilte. »Benehmt euch wie Hexen, nicht wie strohdumme Backfische auf dem Markt. So werdet ihr nie einen mächtigen Hexer von euren Qualitäten als Ehefrauen überzeugen.«

Beide Mädchen senkten den Kopf. Die Croon redete viel von der Heirat mit mächtigen Hexern, an deren Seite man in der Schwarzen Familie nach oben kommen konnte. Christine machte das Angst. Die Croon schien selber wohl nicht verheiratet zu sein. Zumindest sah Christine nie einen Mann in ihrem Haus, nicht mal einen, der als Liebhaber infrage kam. Was wusste also die alte Kuh schon?

Auch Carola gefiel die Aussicht nicht, sich an irgendeinen Dämon zu verschachern. Aber beide Mädchen wussten, dass Widerworte Strafen nach sich zogen, und die Strafen der alten Krähe hatten es in sich.

Wie um sie zu warnen, traktierte die Croon sie noch eine Weile mit Legenden über zeitlose mächtige Dämonen, bis Christine von tausend »Vielleichts« und »Aber-wenn-dochs« der Kopf schwirrte.

»Es gibt mehr in der Welt, als selbst die Schwarze Familie begreift«, schloss die alte Hexe schließlich den Unterricht. »Das werdet ihr noch lernen. Wenn ihr euch anstrengt, zeige ich euch morgen, wie man aus dem Kaffeesatz liest und ihn dabei verhext, sodass eurer Gegenüber euch in brennender Leidenschaft verfällt.«

»Au ja!« Carolas Augen leuchteten. »Dürfen wir das auch praktisch ausprobieren?«

Die Croon schmunzelte. Dass sie gut gelaunt war, kam selten vor. Sie wirkte dann wie eine uralte Eiche, die versuchte, freundlich zu sein. »Ich gebe euch den Pekinesen dieser neureichen Schnösel von gegenüber als Übungssubjekt.«

»Irgs!« Carola verzog das Gesicht. »Dann lieber eine Katze.«

»Dürfen wir den nervigen Wischmob vergiften?«, fragte Christine artig. Sie hasste den sabbernden Kläffer der van der Valks, die die Villa auf der anderen Straßenseite gemietet hatten. Das Vieh war ein Fersenschnapper und Krakeeler.

»Wenn ihr euch in den nächsten Tagen gut macht, dürft ihr aus seinen Eingeweiden lesen.«

»Dufte!«, sagte Carola. Christine kicherte. Zum ersten Mal an diesem Tag waren sich die Schwestern einig.

 

Einig waren sie sich auch, als Christine ein paar Stunden später auf dem Bett ihrer Schwester lag und zerknüllte Spitzentaschentücher neben sich warf.

»Jetzt hör auf zu flennen«, tröstete Carola in ihrer üblichen ruppigen Art. »Das hätte ich dir gleich sagen können, dass der Knabe nur grapschen will. Was glaubst du, warum ich mich immer mit mehreren von den Jungs verabrede. Dann beschäftigen sie sich gegenseitig und es ist viel lustiger, ihnen dabei zuzusehen. Aber du musst ja gleich aufs Ganze gehen, du dummes Huhn.«

»Ich dachte, er mag mich.« Es fiel schwer, das zuzugeben, besonders vor Carola. Aber immerhin hatte die Schwester sie an diesem Abend gerettet, als Rodolphe am Strand zudringlich geworden war. Mit einem Zauber, den Christine nicht kannte, hatte sie dem Jungen sein erregtes Ding schrumpfen lassen. Jaulend war er weggerannt, als seien die himmlischen Heerscharen hinter ihm her. Wenn es um bösartige Kleinigkeiten ging, war Carola eine Expertin.

»Klar mag er dich. Dich und alles andere, was einen Rock trägt«, ereiferte sich Carola. »Wie kann man nur so naiv sein? Dabei ist es doch so leicht, einen Mann zu beeinflussen.«

»Hypnose.« Christine schniefte.

»Papperlapapp! Mit den Waffen einer Frau. Ein Mann, der dich begehrt, wird alles tun, wenn du ihn glauben lässt, dass er haben kann, was er will, wenn er sich nur ein bisschen mehr anstrengt. Und wenn er dann noch Konkurrenz wittert. Peng! Dann hast du ihn. Wetten, dass ich Frieder Krumholz dazu kriege, dass er sich noch vor Ende des Sommers für mich eine Hand abhackt?«

Angesichts dieses Vorschlags hob Christine ihren Kopf aus dem Taschentuchhügel vor ihrer Nase. »Das macht der nicht!«

»Und ob. Wart's nur ab.« Carola lächelte siegessicher und bösartig.

In diesem Augenblick bewunderte Christine ihre schreckliche Schwester sogar. Sie war nicht so dumm, wie sie sich benahm und sie war nicht schwach. Jedenfalls nicht, wenn es um Jungs – Männer – ging.

»Und was Rodolphe anbetrifft«, fuhr Carola fort. »Hör auf mich und lass ihn sausen. Ich will nicht, dass du ihn triffst. Du hast kein Händchen mit den Männern und verstehst davon nichts. Du wirst ihnen immer unterlegen sein und sie werden dich immer ausnutzen. Du bist mehr wie eine Bibliothekarin, die über den Büchern hockt und lernt. Nicht geschaffen für die Bühne. Ich hoffe, das ist dir klar. Ansonsten wirst du noch eine Menge Enttäuschungen erleben.«

Der zaghafte Anflug von Sympathie, den Christine für ihre Schwester empfunden hatte, verflog so schnell, wie er gekommen war. Die Eintracht zwischen ihnen flatterte davon wie ein launischer Nachtfalter. Christines Schmollen quittierte Carola lediglich mit einem Schulterzucken. Dann war die Angelegenheit für sie erledigt.

 

Für Christine jedoch köchelte sie noch tagelang auf kleiner Flamme in ihrem Innern. Als Rodolphe ihr einen Entschuldigungsbrief in den Einkaufskorb schmuggelte und um ein erneutes Treffen bat, indem er ihr alles erklären und etwas Großartiges zeigen wollte, beschloss sie, hinzugehen. Vorbereitet diesmal. Und von Carola ließ sie sich gar nichts sagen. Die blöde Kuh hatte ja keine Ahnung!

 

 

2.

 

Coco, Wien (Gegenwart)

Die nächste Krisensitzung fand im Wohnzimmer statt und umfasste eine weitere Person. Meine Freundin Rebecca. Nachdem sie endlich aufgewacht war, hatten wir zu einem ruhigen Gespräch Gelegenheit gehabt. Endlich verstand ich, dass sie mir in der seltsamen Zwischenwelt des centro terrae geholfen hatte. Genauso wie Georg. Zum Glück war jeder von uns wohlbehalten zurückgekehrt. Ich war Rebecca dankbar, nicht nur für ihre Hilfe bei der Reise in fremde Welten, sondern auch für ihre ganz banale Gegenwart in diesem Augenblick in Wien. Umzingelt von meiner zänkischen Familie war es schön, eine loyale Freundin an meiner Seite zu wissen.

Rebeccas Ruhe, ihre Gelassenheit, färbten nicht nur auf mich ab, sondern verbreiteten allgemein eine positive Atmosphäre, die sogar auf Adalmar zu wirken schien. Mein Bruder benahm sich nicht ganz so finster und zynisch wie sonst, sobald Rebecca dabei war. Mutter wurde ruhiger und auch Georg, der immer noch ziemlich aufgekratzt durchs Haus scharwenzelte, riss sich am Riemen. Lediglich Lydia versprühte Gift, aber das war für mich nichts Neues. Damit konnte ich leben.

Nur ein einziges Mal besserte sich die Laune meiner Schwester für kurze Zeit. Als Rebecca uns Asyl in London anbot. Aber Mutter winkte ab. »Zu offensichtlich. Die Spatzen pfeifen sicher bereits von den Dächern, dass du bei uns bist. Wenn wir verschwinden, werden sie in London zuerst suchen.«

Niemand konnte sich dieser Logik entziehen. Wir grübelten. Lydia rutschte unruhig auf ihrem Platz hin und her, druckste herum und bot schließlich an, anstelle unserer Mutter Asmodis Bedingungen zu erfüllen.

Erstaunt sah ich meine Schwester an. Ihre Sucht nach Männern kam ihr sicher entgegen, dennoch schien mir der Vorschlag ungewöhnlich selbstlos. Doch wie jede gute Tat blieb er nicht ungestraft. Adalmar wieherte los. »Was sind wir? Ein Hurenhaus? Bordell Zamis?« Er brummte verärgert. »Eher binde ich dir Schlampe die Schenkel aneinander und mache einen Fischschwanz daraus.«

Lydia sah betroffen aus. Im Gegensatz zu sonst begnügte sie sich diesmal damit, die Arme zu verschränken, die Lippen aufeinanderzupressen und zu schweigen. Ich wollte gar nicht wissen, welche Rachepläne sie womöglich schmiedete. Alle produktiven Ideen waren uns jedenfalls ausgegangen.

Georg, der neben mir saß, neigte sich mit verschwörerischem Lächeln zu mir hinüber. »Adilein ist sicher nur sauer, weil sein eigenes Bettchen so kalt ist«, flüsterte er hinter vorgehaltener Hand mir zu. »Meinst du, er würde mal runterkommen, wenn er ein bisschen mehr Spaß …«

»Georg!«, flüsterte ich aufgebracht zurück. »Das ist nun wirklich nicht der Zeitpunkt, sich über so etwas Gedanken zu machen!«

In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Wir alle spürten, selbst durch unsere magischen Fallen und Abschirmungen hindurch, eine unbekannte Präsenz. Gehässig und drohend. Mutter nahm eine Kristallkugel zur Hand und spähte den Vorgarten aus. Dann seufzte sie und nickte unmerklich. »Jemand hat sich einen schlechten Scherz erlaubt«, erklärte sie, »dieser Gast wird unser Haus nicht betreten.«

Sie erhob sich und ging zur Tür. Adalmar folgte ihr. Mit etwas Abstand marschierte auch der Rest von uns hinterdrein. Wir bezogen im Flur Stellung, jedoch so, dass man uns von der Tür aus nicht gleich sehen konnte.

Als Mutter öffnete, zog ein Schwall Verwesung über die Schwelle. Ich spionierte vermittels meiner magischen Sinne und erkannte die Aura eines Zombies.

Mit einer Stimme, die wie trockenes Reisig im Kaminfeuer klang, forderte das Wesen Mutter auf, ihm im Namen des Schiedsrichters der Schwarzen Familie zu folgen. Allein.

Mutter und Adalmar berieten sich flüsternd. Dann verließ Mutter das Haus. Ich konnte nicht fassen, dass sie tatsächlich mitgegangen war. Es konnte doch nur eine Falle sein.

 

Thekla, Wien (Gegenwart)

Mit hochgezogenen Brauen nahm Thekla das Taxi in der Einfahrt zur Kenntnis. Der Zombie hielt ihr die Tür auf, dann setzte er sich ans Steuer.

An den Sitzpolstern klebte der Gestank des Verrottens, er fraß sich in Theklas Nase und durch ihre Kleidung, um sich wie ein Film auf ihre Haut zu legen. So musste sich schimmelndes Obst fühlen.

Der untote Taxifahrer gab Gas und fuhr in der Tat, als habe er nichts mehr zu verlieren. Die überhöhte Geschwindigkeit kam Thekla jedoch zupass. Nicht länger als nötig wollte sie in der Gesellschaft dieses Begleiters sein. Von der Rückbank konnte sie seinen Hinterkopf und seine rechte Schulter sehen. Bohrte sich da soeben eine Made aus dem Schlüsselbein? Auf jeden Fall klatschte irgendetwas mit einem saugenden Geräusch in den Fußraum der Fahrerkabine. Möglicherweise lebte es. Wieder. Und unabhängig von dort, wo es hergekommen war.

Der Taxifahrer wollte schalten, aber Thekla erkannte, dass ihm die Hand fehlte, ein Stück Knochen ragte von geronnenem Blut garniert aus dem Handgelenk.

»Oh.« Der Untote überfuhr eine rote Ampel, denn statt zu bremsen, war er damit beschäftigt, in den Fußraum zu greifen. Diese Tätigkeit schloss jedoch Lenken nicht mit ein. Haarscharf schlitterten sie um eine Kurve, das Heck des Wagens touchierte eine Mülltonne. Polternd fiel der Behälter um und der Inhalt ergoss sich auf Straße und Gehsteig. Dann verschluckte das Dunkel der Nacht die Szenerie.