Bereits seit Monaten unterrichtet Schramm nicht mehr; etwas soll vorgefallen sein zwischen ihm und einem Schüler. Die Kollegen haben es schon immer gewusst, hinter seinem Rücken zerrissen sie sich über ihn, der immer korrekt war, die Mäuler. Und in der Tat, Schramm war porös geworden über die Zeit mit dem Jungen, der ihm in seiner Radikalität gegen sich selbst so ähnlich schien, und plötzlich hörte Schramm ein »wir« und war wie verzaubert, vollkommen ungeschützt in einem Moment, und dann –.
Mit unheimlicher Präzision zieht Nina Bußmann uns hinein in ein Indizienspiel von diabolischem Ausmaß: Während wir noch Opfer von Tätern zu unterscheiden suchen, drängt es uns unaufhaltsam zu jenem Moment, in dem zwei Menschen alles auf eine Karte setzen.
Nina Bußmann, geboren 1980 in Frankfurt am Main, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie in Berlin und Warschau. Zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften. Beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2011 erhielt sie für einen Auszug aus ihrem Debütroman Große Ferien den 3sat-Preis.
Nina Bußmann
Große Ferien
Roman
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4524
© Suhrkamp Verlag Berlin 2012
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Große Ferien
Steil geneigte Rampen führten in die Garagen der Siedlung am Hang. Zuvor in je einseitig von einer Mauer, gegenüber von steilen Grasböschungen eingefasste Schächte. Dort blieb es auch hochsommers für die meisten Stunden des Tages dunkel und kühl. Die Steine speicherten die Nässe des Taus und der jüngsten Unwetter. Durchscheinendes Gespinst aus Algen überzog die Pflasterung, aus Pilzen und Flechten. Unter dem Ablassgitter stand das Regenwasser bis knapp an den Rost. Aus den Fugen zwischen den Pflasterplatten trieb vergeiltes Grün. Flach an den Boden gedrückte Grasrosetten, bleiche Pfeilkresse und Beifuß, fiederteilig belaubt, an den Stängeln behaart. Am Rand der Rampe, zur Böschung hin, Trupps von Taubnesseln, Schierling und Persischem Ehrenpreis.
Man sieht nicht, wie das Kraut wächst. Über Nacht ist es da. Einige wehren sich mit Gift gegen den unerwünschten Bewuchs, viele greifen zu Gasbrennern, armschlanken Apparaten; sie töten das Grün eilends ab, ohne dass man sich auch nur bücken muss. Das sieht schön aus, schön und vornehm. Auf Dauer wirksam ist es nicht. Schramm scharrte. Er hieb die Spitzhacke tief in die Ritzen, bis er die Stränge der Wurzeln zu fassen bekam, und lockerte sie in kleinen, wiederholten Bewegungen, einem Rucken und Hebeln. Manche Triebe ließen sich dann sogar schon mit den Fingern herauszupfen, andere durch Ziehen mit verkanteter Klinge heranholen; abschließend schabte er die Reste der Wurzelhärchen aus der Fuge. In hartnäckigen Fällen, bei schon verholztem, fest verhaftetem Wurzelstock, benutzte er zum Lösen ein Fahrtenmesser. Für besonders verengte Partien ein von ihm selbst hergestelltes Werkzeug. Einen etwa ellenlangen, am Ende zum spitzen Widerhaken gebogenen Draht.
Mit der Arbeit musste früh begonnen werden, noch im Morgendämmern. Das war die wertvollste Zeit. Solange die Luft in Schwaden über den nassen Gärten stand. Stille herrschte. Das war das Wichtigste. Kein Geräusch bis auf das Kratzen seiner Klinge am Stein. Aus einer Entfernung der Lieferverkehr vom Autobahnzubringer und in halbstündigen Abständen das Surren der Züge von der Bahntrasse im Tal. In der Siedlung schliefen die Hunde, die Rollläden waren herabgelassen. Meist nicht zur Gänze. Es blieb oberhalb der Fensterbrüstung ein Abstand, ein flaches Rechteck. Hinter den Mullvorhängen regte sich nichts, legte Haar sich dünn an faltigem Stoff, und in den Küchen vibrierten die Eisschränke. Und wer schon um diese Zeit keinen Schlaf mehr fand, ging dennoch nicht aus dem Haus. Der lag und horchte und wartete ab, lag und äugte zur Orchideenpflanze auf der Fensterbank, einem unter dem Gewicht der Blütenköpfe gebeugten, von mehreren Haltevorrichtungen gestützten Stamm. Zu oft hatte Schramm so dagelegen, steifkiefrig geharrt, dass der Morgen den Hang hinaufgekrochen käme. Rücklings, die Arme an den Seiten, mit hochgezogenen Schultern hatte er stillgehalten und auf die Laute aus dem Wald gehört. Balgende Katzen und das Schreien des Käuzchens. Neuerdings Schwarzwild. Die Überläufer schlugen sich durch das Gehölz bei den Tennisplätzen und kamen die Schonung hinab. Die Tiere vermehrten sich, da Feinde fehlten, rasch. Er hatte ihr Tappen und Schmatzen gehört, das Knacken junger Äste unter ihren Hufen. Sein Gehör war fein. Allzu fein. Was hatte er davon. Harren und horchen. Als könnte man nicht die wache Zeit nutzen, selbst das Tagwerk zu beginnen: Es fiel jedenfalls hinreichend an.
Viele meinen, das Jäten von Hand sei schädlich für Kreuz und Haltung, doch das trifft nicht zu. Man muss knien, kauern oder hocken, anders geht es nicht. Einseitige Belastung ist zu vermeiden. Schramm achtete auf Pausen, er wusste, er musste vorsichtig sein. Wenn er nur vernünftig blieb und vorsichtig, würde es nicht noch einmal passieren. Wichtig war, nicht in Eile zu geraten. Davon hing fast alles ab. Verblieben in der Tiefe der Fugen Rückstände von Wurzeln, bildeten sich leicht neue Triebe und erneut kam es zu unerwünschtem Bewuchs. Bei manchen Gewächsen war es eine Sache von Tagen. Am Ende der bearbeiteten Fläche angelangt, müsste er in absehbarer Zeit wieder von vorn beginnen, wenn er nicht von Anfang an bei der Sache blieb, wenn er, in der vielleicht kaum bewussten Hoffnung, das Ganze doch etwas abkürzen zu können, hier und da ein Hälmchen oder ganze Pflanzkörper übersah. Hast schadet bloß, aber das sagt sich leicht. Er hatte sich die ganze Auffahrt vorgenommen, spätestens bis zum Wochenende musste er zu einem Abschluss kommen. Die Natur stundet nicht, sie fragt nicht, ob man ihre Forderungen vielleicht lieber morgen erfüllen will! Ein schöner Garten, denken die Vorübergehenden, doch diese Schönheit gibt es nicht ohne Preis, es ist die Schönheit, die beständige Arbeit verlangt, und mit dem täglichen Harken und Scharren, Graben und Jäten ist es nicht getan, die Schönheit des Gartens erfordert beständiges Überlegen und Planen, Rechnen und Ordnen, Entscheidungen, die Wochen im Voraus zu treffen sind. Die Zierpflanze in ihrer Anmut weiß davon nichts und darf es auch nicht, das muss so sein! Die Rosenbeete wollen gekalkt, der Blauregen geschnitten sein, rechtzeitig vor dem Herbst die Dahlienzwiebeln ausgegraben und am trockenen Ort verwahrt. Die Tage flitzen. Je fester man sich dagegen stemmt, desto rascher flitzen sie. Wir ordnens, damits zerfällt, damit wirs wieder ordnen und so fort … Das klingt traurig, doch es ist auch schön, und es darf für niemanden eine Ausrede sein.
Für später war Besuch geplant, für den Nachmittag erwartete er den Bruder. Viktor. Tags zuvor war der Anruf gekommen; beinahe hätte Schramm ihn versäumt. Je nach Windrichtung war das Telefon, selbst wenn er es auf die höchste Lautstärke eingestellt hatte, nicht bis in jeden Winkel des Gartens zu hören. Oft genug war er auf Verdacht ins Wohnzimmer gelaufen, doch wenn er abheben und antworten wollte, rührte sich nichts mehr. Höchstens ein Kind, das sich einen Spaß machte, am Telefon zu schweigen, zu seufzen, zu lachen durch ein um den Hörer gebundenes Tuch. Gelegentlich ein Angestellter einer Firma, der eine Meinung erfragen, ein Kaufangebot unterbreiten wollte. Schramm hatte sich das Antworten längst abgewöhnt. Spätestens seit der Geschichte mit Waidschmidt hatte er damit aufgehört. Drauf und dran war er gewesen, den Anschluss abzumelden, oder besser noch, ohne Abmeldung den Stecker zu ziehen. Den Apparat eng in seine Kabel gewickelt und auf den Speicher damit: das wäre das Beste gewesen. So dass dem Anrufer kein Freizeichen, sondern Pfeifen ins Ohr schallte, wie Schramm es sich gern vorstellte, einen an schmerzhaften Frequenzen entlang vibrierenden, hohen Ton.
Nach der Geschichte mit Waidschmidt waren die Anrufe natürlich häufiger geworden, hatten sie überhaupt erst angefangen, seit der Geschichte mit Waidschmidt hatte er an manchen Nachmittagen kaum eine halbe Stunde Ruhe. Vor den obszönen Flüstereien und zotigen Scherzen, vor den ernsthaften Aufforderungen, sich zu äußern, weil er sich mit nichts mehr schade als mit seinem Schweigen, mit seinem Schweigen reite er sich immer tiefer hinein.
Schramm hätte sich selbst angezeigt, er hatte jedenfalls alles Nötige getan. Mehr war nicht zu sagen in der Geschichte. Ohnehin hätte Schramm nicht von einer »Geschichte« gesprochen, auch nicht, wie es rasch üblich geworden war, von einer »Angelegenheit«, allerhöchstens von einem Vorkommnis.
Seit die Ferien angefangen hatten, war es ruhig geworden. Freitagnachmittag war der letzte Anruf aus der Schule gekommen, spät am letzten Tag vor den großen Ferien, in der letzten Juliwoche, das wusste Schramm noch, vergesslich war er nicht. Er erinnerte sich daran, wie er jenen Anruf entgegengenommen hatte. Das Hörerkabel um den Zeigefinger geschlungen, hatte er gestanden, neben dem Telefontischchen im Wohnzimmer, beim Fenster zum schattigen Garten, der satt und feucht im seitlich eindämmernden Streulicht lag. An den Scheiben klebte erhitzt geronnener Regen, fahl bestrahlt vom über die Hangwipfel geschwemmten, im Tal gesammelten Sonnenrest. In angrenzenden Gärten wurde gegrillt. Gelächter strich über den Rasen und Rauch, flach über das Gras, als die Rektorin anrief, zu fragen, wie die Dinge stünden. Da war Schramm schon über Wochen fortgeblieben. Am Tag, als es geschehen war, hatte er die Sommerblumen ausgepflanzt, jetzt standen sie schon kniehoch, Levkojen, Zinnien und Azaleen, dicht gruppiert. Noch ist alles offen, sagte die Rektorin, noch nichts eingetütet, es wird sich eine Lösung finden lassen, mit der alle glücklich sind. Schramm schlang das Kabel enger um seinen Finger, so fest, dass es unter der Beere zu pochen begann. Noch nie war der Rasen in einem besseren Zustand gewesen. Die schwellende Grasnarbe, weggewölbt von den getrimmten Rändern, schwarzen Beeten, kroch unter die tief gebreiteten Zweige der Blautannen, die das Anwesen zum Hang hin abschlossen, den Waldschatten der Schonung atmeten, ihre Kühle. Rechter Hand rückte Zwergwacholder aus dem bebuschten Gebiet, an seiner Seite Pfingstrosen, sie wollten nicht zu blühen aufhören. Spät, doch desto heftiger waren sie hervorgebrochen. Im Mai aufgeblüht und noch bis in den Juli hinein quellend, katzenkopfgroß da, glommen sie im Tannenschatten als verschwommene Bälle auf dem nierenförmigen Beet.
Ich komme nicht mehr zurück, sagte Schramm zur Rektorin. Er hielt den Hörer fest und das Kabel, er würde nicht die Geduld verlieren. Wenn man nur einen Entschluss hat, ist es nicht schwierig, und den hatte er, schon in Vorbereitung auf ihr kurzes Gespräch in der zweiten großen Pause hatte er seinen Entschluss gefasst, bevor er in das Rektorinnenzimmer getreten war. Das Kreischen vom Pausenhof schallte herauf wie das Jubeln, das Scheppern, wenn der Fußball mit Wucht gegen das Gitter hinter den Torpfosten prallte, als Schramm sich im Mantel, Koffer vor dem Bauch, vor den Schreibtisch der Rektorin stellte und mitteilte, dass er heute vor der Zeit gehen müsse, weil ihm nicht gut sei.
Es war klar gewesen von Anfang an, und klar und fest hatte er zu ihr gesprochen, durch nichts beirrt. Nicht durch den Wind, von dem damals einige redeten, der seit ihrem Amtsantritt in der Anstalt wehte, wie gesagt wurde, immer vor ihr weg wehte, wenn sie in ihren flatternden Gewändern die Gänge des Schulhauses abschritt, mit im Rhythmus ihrer Schritte wogendem Lockenhaar. An jenem Tag noch hatte er begonnen, die Sommerblumen auszupflanzen. Damit durfte nicht mehr gewartet werden. Die Setzlinge hatte er bereits angezüchtet, Levkojen und Zinnien, sie mussten ins Freie. Lange harkte er den Beetstreifen. Es waren diese Vorarbeiten, die am meisten Zeit in Anspruch nahmen, die ihm dennoch lieber waren als die eigentliche, die Hauptarbeit. Wenn er gründlich war, verschwand er in seinen Handgriffen und um ihn die Welt. Am nächsten Morgen hatte er sein Schreiben aufgesetzt.
Er hatte sich nicht vom Amtsarzt untersuchen lassen, auch nicht auf mehrfache Aufforderung hin. Ich bin ja nicht krank, sagte Schramm. Sein Kopf war klar. Die Schreiben des Amtes sammelte er, in der engen Stelle auf der Küchenfensterbank, eingeklemmt zwischen dem Transistor und dem Steinmörser, den er benutzte, um ausgekochte Eierschalen zu zerstoßen. Das Pulver setzte er mit Wasser an zur Herstellung von düngendem Sud. Es war das erste Mal, dass er einer doch aus guten Gründen eingerichteten Regelung nicht folgte. Man tauschte sich aus über ihn, das wusste Schramm. Gut genug kannte er das Lehrerzimmer, bis in den gekachelten Winkel hinein kannte er es, wo dicht am Spülstein ein Plastikpott Brühkaffee in die angesprungenen Tassen der Lehrer spuckte, wenn sie mit der Hand auf den Deckel patschten. Einfach, hieß es, sei es mit ihm niemals gewesen, keine Frau, kein Kind, und nicht einmal ein Hund. Dazu brauchte es nicht viel, sich vorzustellen, wie geschwatzt wurde über die Mutter und ihn, über Waidschmidt und ihn. Leicht, sich herzuleiten, welche Schlüsse gezogen, welche Mutmaßungen aufgestellt wurden, sie lagen nahe. Etwas zu nahe. So, wie die Geschichte und in der Geschichte er gesehen wurde, wusste er jedenfalls, war es nicht gewesen: Wem bereitet solches Wissen nicht Vergnügen, einen stillen Triumph. Vor wenigen Tagen erst war ihm mitgeteilt worden, dass sein Krankenstand sich nicht mehr verlängern ließe, fortan nur noch Versorgungsbezüge gezahlt würden, doch hatte er keine Einwendungen erhoben.
Gestern hatte Viktor seinen Besuch angekündigt. Als das Telefon zum wiederholten Mal nicht aufhören wollte zu läuten, da schon hatte Schramm es gewusst, noch bevor er endlich doch seine Arbeit abgebrochen hatte, ins Haus gelaufen, zuletzt gerannt war, hatte er es gewusst. Niemand sonst, nur der Bruder, meldete sich mit einer solchen Hartnäckigkeit. Kaum zu verstehen war Viktor. Ob alles in Ordnung sei, fragte er. Ob er störe. Er wusste die Antwort sehr gut! Vom fahrenden Auto aus telefonierte er; mehrfach brach die ohnehin schlechte Verbindung ganz ab. Rauschen tönte im Hintergrund und zusätzlich Musik. Musik, wie der Bruder sie bevorzugte. Eine heisere Frauenstimme über klappernden Synkopen. Wie irr hämmerte jemand ein auf das Marimbaphon. Auf Spanisch sang die Frau, man verstand das eigene Wort nicht mehr. Mehrmals musste nachgefragt werden. Auf der Durchreise sei Viktor, so viel konnte Schramm den zu ihm dringenden Bruchstücken entnehmen. Keine verlässliche Aussage ließ sich daraus zusammensetzen, nicht ein einziger vollständiger Satz. Es half nichts, dass der Bruder in Rufen und schließlich in Schreien verfiel, es verschlimmerte sich dadurch nur. Schramm musste, weil der andere immer lauter wurde, den Hörer in einem Abstand zu seinem Ohr halten und so noch mehr von dem Gesagten versäumen, doch anders wären die Nebengeräusche nicht zu ertragen gewesen, dieses anhaltende Knacken und Brausen.
Ein Bruder bleibt ein Bruder, wird gesagt, ein Bruder gehört zu den ersten Menschen, die man kennt im Leben, doch konnte in ihrem Fall nicht von einer besonderen Nähe die Rede sein. Von einem naturgegebenen, durch nichts zu trennenden Band. Wo schon das Wechseln eines Blickes, eine Geste genügt, eine gemeinsame Erinnerung hervorzurufen. Etwas Derartiges hatte sich zwischen Schramm und seinem Bruder niemals eingestellt. Schon als Kinder hatten sie kaum etwas miteinander anzufangen gewusst, und wenn sie doch einmal ganze Nachmittage zusammen verbrachten, ins Spiel vertieft, dann in Ermangelung anderer und passenderer Kameraden. Das kommt vor, sagte Schramm. Regelrecht verteidigen müssen hatte er sich, wo immer das Thema aufgekommen war.
Manchmal brauchen wir uns nur ansehen, meine Schwester und ich, hatte die Referendarin zu ihm gesagt und ihr Haar am Hinterkopf zusammengezurrt, dass es ihr Gesicht straffte, die Brauen in die Höhe zog. Nur ansehen, sagte sie, und wir brechen in Lachen aus. An den Kopierern stand sie, ihr Gesicht gerötet von der Hitze der Apparate. In ihrem Rücken die Kollegen hasteten dem Freitagnachmittag entgegen. Schramm im Mantel, den Koffer in der Hand, stand und hörte der Referendarin zu, die ausgewählte Seiten aus einem schweren Bildatlas kopierte. Zerstreut blätterte sie in dem Buch, presste die Falzwölbung mit der Hand flach, bevor sie den Band auf das Originalglas legte, die Abdeckung zuklappte und fest niedergedrückt hielt. Schön war das natürlich nicht. Grün blitzte der Taststrahl aus dem Spalt unter der Klappe hervor, jagte quer an ihrem Becken entlang, indes sie mit der freien Hand nach dem auf dem Tisch abgelegten Apfel griff und in kleinen Bissen davon aß. Mit den Fingerrücken tupfte sie den Saft aus den Mundwinkeln, blätterte erneut in dem Buch … An all diese Einzelheiten erinnerte er sich, nicht einmal sagen konnte er aber, wie er sich in diese Unterhaltung hatte einfangen lassen, nicht, wie das Gespräch gerade hierhin geraten war: Er jedenfalls hatte nicht damit angefangen.
Als Kinder unzertrennlich seien sie gewesen, Viktor und er, eine Affenliebe, wurde gesagt. So mochte eine Mutter die Sache sehen und ahnte nicht, wie gut der Tiervergleich gewählt war. Kinder werden die Gemeinschaft immer vorziehen, rein aus Instinkt: Von einer Wahl kann nicht die Rede sein, wie viel weniger noch eignet sich das Wort Liebe. Natürlich gab es Fotografien, die ihre Eintracht belegten. Noch immer hing eine von ihnen gerahmt über dem Elternbett. Zwei blonde Buben mit Bürstenschnitt, der Arm des einen um den Hals des anderen geschlungen. Oft genug war der Bruder irrig für den Älteren gehalten worden. In Wirklichkeit war er der Nachgeborene, und es musste leider gesagt werden, dass er in vielen seiner Verhaltensweisen bis heute nicht ganz erwachsen geworden war.
Bereits vor dem Schulabschluss hatte Viktor das Elternhaus und die Stadt verlassen nach einem anscheinend nicht wieder aufzuhebenden Streit. Für eine gewisse Zeit schrieb er lange Briefe, voller Vorwürfe, von wechselnden Absenderadressen. Von frühester Kindheit an sei er von Eltern und Schule zugrunde gerichtet worden. Nicht im Körperlichen, umso mehr im Geistigen habe man ihn misshandelt und in der Folge zerstört. Von Vater, Mutter, Bruder, von Lehrern und von anderen Kindern, von dem ganzen in seinen Briefen kompakt zu einer angeredeten Einheit zusammengestampften Städtchen, von jedem auf seine Weise zerstört. Dass er nicht nur die Familie und das Städtchen, sondern auch Freunde und Frauen gegen sich aufgebracht hatte, dass er, wo er hinging, früher oder später mit den Menschen aneinandergeriet: Es sei nicht seine Schuld. Als Begründung zog er den Hund heran, die plötzliche Hundekrankheit, und dass der Vater das Tier, anstatt Medikamente zu kaufen, erschossen hatte. Auf dieses frühe Erlebnis führte Viktor vieles zurück. Noch heute kam er darauf zu sprechen. Mit dem Hund losgefahren, mit der Leine zurückgekehrt, erzählte der Bruder und dass er daran schon gelernt habe, wie schnell die Liebe allen Wert verliert. Wie er vom Kleinsten ins ganz Große kam! Da schlug Schramms Widerwille in Bewunderung um, wenn Viktor in langen verwickelten Argumenten nachwies, warum für jegliches Zerwürfnis ausschließlich die anderen Verantwortung trugen, weil ihr Bild von der Welt das falsche war.
Vor allen anderen beschuldigte er den Vater, wie sollte es anders sein, den jähzornigen und in seinem Jähzorn ungerechten, die Menschen in seinem Umfeld mit seinen Launen tyrannisierenden Vater! Natürlich zu Recht. Schramm hätte selbst ein Liedchen singen können. Doch dieser Umstand wurde in den von der Mutter gesammelten, zu Bündeln geschnürten, in Kisten aufbewahrten Bruderbriefen nicht einmal berührt, diese Briefe kreisten ausschließlich um das dem Jüngeren zugefügte Leid. Sie trafen in wachsenden Abständen ein und brachen schließlich ganz ab. Über Jahre von Viktor kein Zeichen. Erst seit kurzem kam er regelmäßig, ja häufig, stets ohne große Absprache zu Besuch: Ich darf die Heimat nicht verlieren, so sagte er. Wahrscheinlicher, dass er eine ganz andere Absicht verfolgte. Doch Schramm konnte es ihm nie abschlagen. Zwingend führte der Weg des Bruders, wenn er vom Urlaub in die Stadt fuhr, hier vorbei, Platz war im Haus hinreichend vorhanden.
Er hatte alles vorbereitet. Das Bett für Gäste bezogen, einen Wein aus dem Keller geholt und Bier, Knabbereien eingekauft zum Wein. Der Bruder war, was man einen Genussmenschen nennt, und fehlen sollte es ihm an nichts. Das große Bett im Mutterschlafzimmer hatte Schramm bezogen, gefaltete Handtücher bereitgelegt für Viktor und eine möglicherweise mit ihm gereiste Frau. Eine neue Bekanntschaft, vielleicht die eine, die schon einmal mit dabei gewesen, oder jene andere, mit der er wieder zusammengekommen war nach scheinbar endgültiger Trennung. Möglich, dass er anstelle der beiden die Tochter brachte, die die Hälfte der Zeit bei ihm, die andere bei ihrer Mutter wohnte. Schramm hatte es aufgegeben, diese Geschichten verfolgen zu wollen. Man wurde davon nur wirr. Noch jenseits der Grenze war der Bruder gewesen bei seinem Anruf. Das Sprechen wird dann teuer für beide Seiten. Gut möglich, dass er schon zur Mittagsstunde ohne weitere Ankündigung vor der Tür stünde, wenn Schramm sich gerade, und sei es für zehn Minuten, in den Keller des Hauses zurückgezogen hätte, auf der Suche nach Kühlung, eventuell einem Imbiss. Er würde die Ankunft Viktors, selbst wenn dieser in den Garten hineinlief und rief, wahrscheinlich nicht hören. Vor verschlossenen Türen, auf der Straße stünde sein Bruder und legte den Kopf in den Nacken. An der Fassade des Hauses empor blickte und zeigte er, äugte und zeigte in die Fenster hinein, auf zugezogene Gardinen, im Küchenfenster ein Herz aus Stroh.
Das ist das Haus, würde er sagen, zu der Frau: das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Schon konnte Schramm ihn reden hören, ihn stehen sehen, ihn und wieder jene Frau vom vorigen Mal. Eine kleine Frau mit weit auseinandergestellten Füßen unterm Saum ihres bauschigen Zigeunerrocks. Das Haar fiel ihr in Fransen in die Stirn. Und er dachte wieder, was er sich oft sagen musste, dass er bei keiner von Viktors Frauen verstehen, bei keiner sich wenigstens vorstellen konnte, was Viktor an ihr fand.
Allein die Art, dachte Schramm, wie er eine Hand auf ihren Rücken legte, die Stimme senkte, bis er nicht mehr redete, nur noch raunte, gegen den Mittagsschlaf hinter gekippten Fenstern an. Den Arm ausstreckte, die ansteigende Straße empor deutete, wo es zum Sommerbad ging. Vorbei an den längs des Hangs gebauten Doppelhäusern, gekalkter Rauputz in thujeneingefriedeten Grundstücken. Hier sind alle Straßen nach Vögeln benannt, erklärte er ihr, alle Vögel sind schon da, sagte Viktor und deutete auf die an den Dachgauben zur Abschreckung lästiger Tauben angebrachten Rabenvogelattrappen. Und selbst aus seinen harmlosesten Andeutungen und Hinweisen hörte man sein Urteil heraus, selbst, wenn er nur beschrieb und zeigte, dachte Schramm, hörte man ihn darunter immer sagen, dass es hier nicht zum Aushalten sei.
Wiegenden Gangs liefe Viktor in den Vorgarten hinein, von der Kante der Grasböschung blickte er in die Senke hinab. Die Handkante an der Stirn zum Schutz vor dem senkrecht fallenden Mittagslicht, stünde er am Böschungsrand, ein Westernheld vor der Schlucht. Lass dich nicht stören, würde er, an Stelle einer Begrüßung, sagen. Tu, als wäre ich unsichtbar. Als wüsste er nicht selbst, dass das nicht geht. Es ist auch so schon schwer genug, bei der Sache zu bleiben, es ist ein empfindliches Gleichgewicht. Schon die Erwartung einer Störung bringt es ins Schwanken, und alles ist zu Ende. Ja im Grunde genommen ist die Erwartung das Schlimmere, sie richtet mehr an als die Störung selbst. Die Besuche des Bruders gaben das beste Beispiel. Nicht erst mit seinem Eintreffen, schon mit seiner Ankündigung war Viktor lebhaft und unleugbar anwesend. Aber viel mehr als seine bloße Gegenwart störte sein erklärtes Bemühen um Rücksicht. Bevor man sich beschwerte, entschuldigte er sich schon. Wie mit einem Kranken ging der Bruder mit ihm um. Es ist dein Haus so gut wie meins, erwiderte Schramm: Platz sei hinreichend vorhanden, Pläne habe er weiter keine. Sollte Viktor, wenn er wollte, für Tage bleiben, sollte er ohne weitere Ankündigung, ohne einen ordentlichen Abschied in aller Herrgottsfrühe verschwinden, eine kaum leserliche Notiz hinterlassend, er habe fortgemusst. Er konnte für lange Spaziergänge verschwinden oder den ganzen Tag im Haus verbringen, über Stunden schweigend im Ohrensessel, wenn er in eine seiner Stimmungen verfiel. Hätte man einen Abend lang ausgelassen miteinander erzählt, kein Ende gefunden, säße er tags darauf für Stunden reglos in dem Ohrensessel an der Stirnseite des Raums, brütend über einem klebrigen Gedanken. Ein Fehler, den er mit dem Vater teilte. Groß und kernig war der Bruder gewachsen und sank doch, wenn er in besagtem Sessel Platz nahm, zur Haltung des Vaters zusammen, sosehr er ihn abwehrte, ganz der Vater, wie er gleichsam über sich selbst gebeugt saß, dieser kleine, spitzbäuchige, nicht sehr schöne Mensch.
Fortwährend hatten sie mit den drohenden Verstimmungen des Vaters gelebt, unter dem Alpdruck seiner Tobsuchtsanfälle, die immer bei unerheblichsten Anlässen auftraten, wegen eines Paars Stiefel, das er nicht fand, einer Pillendose, die nicht an ihrem Ort stand, wegen eines zur Mittagsruhe eintreffenden Anrufs oder einer Verspätung beim Abendbrot.