Jede Eile vermeidend, bricht der große niederländische Erzähler Cees Nooteboom in seinem Reisebuch Der Umweg nach Santiago von Barcelona nach Santiago de Compostela auf. Nicht das Ziel ist für ihn das Ausschlaggebende, sondern der Weg dorthin – der Weg durch ein Land, von dem der Autor sagt: »Ich habe mich nun mal Spanien verschrieben, for better or for worse, da gehöre ich hin.«

»Der Umweg nach Santiago ist kein Reisebericht üblicher Art; es ist eine lange, profunde und gleichzeitig amüsante Meditation über Spanien, über Landschaft, Menschen, Geschichte, Sprache, Kunst und Kultur dieses großen Landes.« Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Ein grandioses Leseerlebnis.« Neue Zürcher Zeitung

Cees Nooteboom, 1933 in Den Haag geboren, lebt als freier Schriftsteller in Amsterdam und auf Menorca. Zuletzt erschienen Briefe an Poseidon (2012), Schiffstagebuch. Ein Buch von fernen Reisen (2011), Berlin 1989/2009 (2009), Nachts kommen die Füchse. Erzählungen (2009) und »Ich hatte tausend Leben und nahm nur eins«. Ein Brevier, herausgegeben von Rüdiger Safranski (2008).

Cees Nooteboom

Der Umweg nach Santiago

Mit Fotos von
Simone Sassen

Aus dem Niederländischen von
Helga van Beuningen

Suhrkamp

Titel der niederländischen Originalausgabe:

De omweg naar Santiago

Die vorliegende Ausgabe wurde vom Autor um die Texte

»Die schönen Tage in Aranjuez« und

»Andalusien« erweitert.

Umschlagabbildung:

Illumination aus der Apokalypse

des Beatus von Liébana

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2012

© Cees Nooteboom 1992

© der Fotos: Simone Sassen 1992

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1992

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-73695-1

www.suhrkamp.de

INHALT

Durch Aragonien nach Soria

Eine Reise durch Namen und Zeiten

Eine Welt von Tod und Geschichte

Verborgene Schätze

Noch immer nicht in Santiago

Eine Königin lacht nicht

Ein Raunen von Gold und Braun und Bleigrau

Auf den Spuren von Don Quijote. Eine Reise auf La Manchas Wegen

Segovia

Die schönen Tage in Aranjuez

Könige und Zwerge

Die schwarze Madonna in ihrer goldenen Grotte

Ein Augenblick im Gedächtnis Gottes

Wintertage in Navarra

Walter Muir Whitehill

Vielleicht weiß es die Taube

Warum kommen die Leute nicht weiter als bis zur Ostküste?

Die Vergangenheit ist immer gegenwärtig und nicht gegenwärtig

Ein Rätsel für Kreon

León

Ich habe mich nun mal Spanien verschrieben

Die Landschaft Machados

Von Lorca nach Úbeda, Träume eines Nachmittags

Andalusien

Abschied von Granada – Der Blinde und die Schrift

Unterwegs zum Ende der Zeiten

Ankunft

für Simone

DURCH ARAGONIEN NACH SORIA

Beweisen läßt es sich nicht, und trotzdem glaube ich daran: An manchen Orten der Erde erhält auf geheimnisvolle Weise die eigene Ankunft oder Abreise durch die Empfindungen all jener eine besondere Intensität, die hier früher einmal angekommen beziehungsweise wieder abgereist sind. Wer eine Seele hat, die leicht genug ist, spürt einen sanften Widerstand in der Luft rund um den Amsterdamer Schreierstoren, der mit dem Ausmaß an Kummer der Abschiednehmenden zusammenhängt, die im 17. Jahrhundert für Jahre nach Niederländisch-Indien auf brachen und möglicherweise nie zurückkehren würden – eine Art von Kummer, die wir nicht mehr kennen. Unsere Reisen dauern nicht mehr Jahre, wir wissen genau, wohin wir fahren, und unsere Chance auf Rückkehr ist um so vieles größer. Am Hauptportal der Kathedrale von Santiago de Compostela steht eine Marmorsäule mit tiefen Fingereindrücken, eine emotionale, expressionistische Klaue, die Millionen Hände, unter anderem auch meine, geschaffen haben. Doch es ist bereits eine leichte Verdrehung, wenn ich sage »unter anderem meine«, denn ich habe meine Hand nie mit solch großer Gefühlsregung am Ende eines Fußmarsches, der über ein Jahr dauerte, an diese Säule gelegt. Ich war kein Mensch des Mittelalters, ich glaubte nicht, und ich war mit dem Auto gekommen. Wenn man sich meine Hand wegdenkt, wenn ich nie dort gewesen bin, ist diese Klaue trotzdem noch immer da, von den Fingern all jener Toten aus dem harten Marmor ausgeschliffen. Und doch war ich, indem ich meine Hand in dieses Handnegativ legte, auf geheimnisvolle Weise an einem kollektiven Kunstwerk beteiligt. Ein Gedanke wird sichtbar in Materie: Das ist immer wundersam. Die Kraft einer Idee trieb Fürsten, Bauern und Mönche dazu, ihre Hand genau an der Stelle an die Säule zu legen, jede einzelne Hand nahm dabei eine verschwindend kleine Menge des harten Marmors mit, wodurch, eben weil dieser Marmor nicht mehr da war, eine Hand sichtbar wurde.

Dies alles geht mir durch den Kopf, während ich langsam, an diesem sehr frühen Julimorgen, mit dem Schiff auf Barcelona zufahre. Dort werde ich ein Auto mieten und quer durch ganz Spanien oder auch mit einem Schlenker zum dritten Mal in meinem Leben nach Santiago de Compostela fahren. Keine Pilgerfahrt zu dem Apostel wie bei den anderen, eher eine Reise in ein schemenhaft gewordenes Ich, die Fortsetzung einer früheren Reise. Auf der Suche wonach? Eines der wenigen konstanten Dinge in meinem Leben ist meine Liebe, einen schwächeren Ausdruck dafür gibt es nicht, zu Spanien. Frauen und Freunde sind aus meinem Leben verschwunden, doch ein Land läuft einem nicht so leicht weg. Als ich 1953 als Zwanzigjähriger zum ersten Mal nach Italien kam, glaubte ich, alles gefunden zu haben, wonach ich, unbewußt, gesucht hatte. Der mediterrane Glanz traf mich wie ein Blitz, das ganze Leben war ein geniales, öffentliches Theater zwischen den achtlos hingestreuten Dekorationsstücken einer vieltausendjährigen großen Kultur. Farben, Speisen, Märkte, Kleidung, Gesten, Sprache, alles schien raffinierter, bunter, lebhafter als in dem flachen nördlichen Delta, aus dem ich komme, und zog mich in seinen Bann. Spanien war danach eine Enttäuschung. Unter derselben mediterranen Sonne schien die Sprache hart, die Landschaft dürr, das Leben derb. Es schien nicht zu fließen, war nicht angenehm, war auf eine widerspenstige Weise alt und unnahbar, mußte erobert werden. Heute habe ich eine ganz andere Einstellung dazu. Italien ist noch immer ein Traum, aber ich habe das Gefühl – es ist kaum möglich, über diese Dinge zu sprechen, ohne in eine fast mystische Sprache zu verfallen –, daß der Charakter Spaniens und die spanische Landschaft dem entsprechen, »was mich ausmacht«, bewußten und unbewußten Dingen in meinem Wesen, dem, der ich bin. Spanien ist brutal, anarchistisch, egozentrisch, grausam, Spanien ist bereit, sich für Unsinn in den Ruin zu stürzen, es ist chaotisch, es träumt, es ist irrational. Es hat die Welt erobert und wußte nichts damit anzufangen, es steckt in seiner mittelalterlichen arabischen, jüdischen und christlichen Vergangenheit fest und liegt mit seinen eigensinnigen Städten, eingebettet in diese endlosen, leeren Landschaften, da wie ein Kontinent, der an Europa hängt und Europa nicht ist. Wer nur die Pflichtrundfahrt gemacht hat, kennt Spanien nicht. Wer nicht versucht hat, sich in der labyrinthischen Vielschichtigkeit seiner Geschichte zu verlieren, weiß nicht, welches Land er bereist. Es ist eine Liebe fürs ganze Leben, das Staunen hört nie auf.

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Die Kathedrale von Santiago de Compostela

Von der Reling des Schiffes aus sehe ich es über der Insel dunkel werden, auf der ich den Sommer verbracht habe. Die hereinbrechende Nacht legt sich über die Hügel, alles verdüstert sich, eine nach der anderen gehen die hohen Neonlampen an und bescheinen den Kai mit der toten weißen Glut, die zur mediterranen Nacht gehört wie der Mond. Ankunft und Abschied, schon jahrelang ziehe ich zwischen dem spanischen Festland und den Inseln hin und her. Die weißen Schiffe sind etwas größer geworden, doch das Ritual ist das gleiche geblieben. Der Kai voller weißer Matrosen, Abschiednehmender und Verlobter, das Deck voll abreisender Urlauber, Soldaten, Kinder, Großmütter. Die Gangway ist bereits an Bord gehievt, die Schiffssirene wird noch einmal einen langen Abschiedsschrei über den Hafen ertönen lassen, und die Stadt wird ihn als Echo zurückwerfen, den gleichen Schrei, nur schwächer. Zwischen Oben und Unten noch eine letzte Verbindung – Toilettenpapierrollen. Unten das Ende. Oben an der Reling die Rolle selbst, die langsam, während das Schiff sich vom Kai entfernt, abgerollt werden wird, bis auch die allerletzte Verbindung zu den Zurückbleibenden, die so lange es geht neben dem Schiff herlaufen, abreißt und die dünnen, durchsichtigen Papiergirlanden im schwarzen Wasser ertrinken.

Manche rufen noch etwas, Rufe wehen zurück, doch schon ist nicht mehr auszumachen, wer was ruft und was diese Botschaft bedeutet. Wir fahren aus dem langen, schmalen Hafen hinaus, vorbei am Leuchtturm, an der letzten Boje – und dann wird die Insel zum düsteren Schemen in dem Schemen, der die Nacht selber ist. Jetzt ist es unwiderruflich, wir gehören zum Schiff. Auf dem Achterdeck Gitarrenklänge und Händeklatschen, es wird gesungen, getrunken, die Deckpassagiere in ihren Holzliegestühlen bereiten sich auf eine lange Nacht vor, die Glocke zum Essen ertönt. Im altertümlichen Speisesaal eilen Kellner in weißen Fräcken unter dem ernsten Porträt des spanischen Königs hin und her. Im Gesellschaftsraum strahlt der Fernseher halb unsichtbare, schattenhafte Bilder von der wirklichen Welt aus, aber fast niemand schaut hin. Man schiebt den Schlaf noch hinaus, schlendert auf den Decks umher, trinkt, bis die Bars schließen. Dann verstummt auch der letzte rebellische Gesang, und nichts ist mehr zu hören außer den Wellen, die an die Schiffswand klatschen. Der einsame Passagier sucht seine Kabine auf und legt sich auf das kleine eiserne Bett. Nachts wacht er ein paarmal auf und schaut durch das Bullauge hinaus. Die weite Fläche des Wassers bewegt sich in einem langsamen, glänzenden Tanz, es wirkt geheimnisvoll und ein wenig gefährlich, so still und mächtig, wie sie da liegt mit nichts als dieser trägen, ziehenden Bewegung, unter der sich so viel verbirgt. Der weiße Chip, der Mond, taucht auf und taucht unter in den satinglänzenden Wellen, wollüstig und angsteinflößend zugleich. Der Passagier ist ein Stadtbewohner und weiß nicht, was er mit diesem großen, stillen Element anfangen soll, aus dem seine Welt jetzt auf einmal besteht. Er zieht den dürftigen kleinen Vorhang vor das runde Fenster und knipst eine Kinderlampe neben dem Bett an. Ein Schrank, ein Stuhl, ein Tisch. Eine Wasserkaraffe in einer Nickelhalterung an der eisernen Wand, darübergestülpt ein Glas. Ein Handtuch der Compañía Mediterránea, das er morgen ebenso wie das Glas mit der Flagge der Reederei mitnehmen wird. Er besitzt schon viele solcher Handtücher und Gläser, denn er hat bereits viele solcher Reisen gemacht.

Langsam überläßt er sich dem Wiegen des Schiffs, ein großer Muttertanz, und er weiß, wie es weitergehen wird. Im Laufe der Nacht wird er endlich einschlafen, dann wird das erste Licht durch den nutzlosen Vorhang fallen, er wird an Deck gehen zwischen den anderen Passagieren mit den unausgeschlafenen Gesichtern und die Stadt langsam näherrücken sehen – schöner, als sie ist, durch das erste Sonnenlicht, das dem Horror der Gastanks und des Smogs eine Wendung ins Helle, Goldene, Impressionistische geben wird, so daß es für einen Augenblick aussehen wird, als wiege sich da ein diesiges, goldenes Paradies und nicht der unbarmherzige Prellbock der industriellen Millionenstadt.

Ganz still gleitet das Schiff jetzt zwischen den steinernen Armen in den Hafen. Es ist klein geworden unter den hohen Kränen. Die schwelgende Bewegung des Wassers hat aufgehört, es gehört nicht mehr zum Meer, und auch an Bord ist die Gemeinsamkeit beendet, die Passagiere gehören nicht mehr zusammen. Jeder ist in Gedanken bei seinem eigenen Ziel, bereits in Erwartung des nächsten. In den Kabinen ziehen die Stewards die Betten ab und zählen die verschwundenen Handtücher. Auf dem Kai ist es schon warm.

Die Zeit schmelzen zu lassen kommt mir typisch spanisch vor, und nirgends ist die Zeit so schön geschmolzen wie auf der sich auflösenden, zu einem schneckenartigen Klumpen gewordenen Uhr von Dalí. Während ich auf mein Auto warte, lese ich im Mundo Diario den Brief des kranken Malers an das Volk, in dem er erklärt, wie krank er nicht ist. Die Unterschrift unter dem maschinegeschriebenen Brief (Kopf: Teatro Museo Dalí) ist zittrig, aber das Bild ist noch immer erkennbar – die Buchstaben des magischen Namens, die in der Zeichnung eines donquijotesken Reiters aufgehen, die Lanze beherzt vorgestreckt, hinein in das leere Briefpapier. Während ich auf diese Unterschrift schaue, denke ich, wie spanisch das Phänomen Dalí ist, wie mühelos das Bild, das er von sich selbst geschaffen hat, neben der Pfannkuchen backenden Teresa von Ávila, den aufgehängten Nonnen des Bürgerkriegs, der Garrotte und dem langsam im Gefängnis seines eigenen Palasts dahinfaulenden Philipp II. Eingang in das nationale Panoptikum finden wird. Mit geschlossenen Augen sehe ich den Maler, die beiden scharf gezwirbelten Antennen seines Schnurrbarts in den Raum gerichtet, um schwache, geheimnisvolle Botschaften aufzufangen, die für alle anderen Schnurrbärte nicht zu verstehen sind. »Verlautbarung des Ehepaars Don Salvador und Doña Gala Dalí« steht in majestätischer Einfachheit über dem Brief, der weiter keinen Anfang hat. »Es konveniert uns, jedermann zur Kenntnis zu bringen ...« – »Hofft der unterzeichnende Künstler ...« – und weitere solcher prachtvollen Wendungen verleihen dem Schreiben das Gepräge eines ärztlichen Bulletins, wie es an Palasttoren herausgegeben wird, wenn jeder weiß, daß der König im Sterben liegt. Bitterer Ernst oder makabrer Humor, schwer zu entscheiden, aber jedenfalls läßt »der unterzeichnende Künstler« das Volk wissen, er habe bereits wieder die ersten Pinselstriche getan. Wenn das Bild fertig ist, bekommt seine Frau es, und die gibt es an das Museum weiter. Im Innern der Zeitung ist die Unterschrift noch einmal zu sehen, stark vergrößert. Die Redaktion hat sie Professor Lester vorgelegt. Wer das ist, wird nicht erläutert, aber wenn jemand keinen spanischen Nachnamen hat und nicht einmal einen Vornamen, dann will das hierzulande sagen, daß man der betreffenden Person nicht zu trauen braucht. Dem Professor zufolge muß Dalí zwischen dem vierten und dem neunzehnten November schwer aufpassen, denn dann steigen der Planet Pluto und der Stern Lilith – der schwarze Mond – gemeinsam auf und stehen in Quadratur zum Krebs, und dann ist die Hölle los über Cadaqués, wo der Maler wohnt. Er kann dem Unheil durch eine Reise nach Griechenland entrinnen, wo es dann für Stiere weniger gefährlich ist.

Meine Fahrt geht nach Soria, nach Altkastilien, Castilla la Vieja. Von Barcelona führt eine leere Autobahn nach Zaragoza. Ich sehe die Stadt in der Ferne daliegen wie eine Vision, in der Hitze flimmernd. Jetzt beginnt das wahre Spanien, die Meseta, das Tafelgebirge, die Hochebene von Kastilien, leer, trocken, so groß wie ein Meer. Hier kann sich nicht viel verändert haben seit dem dreizehnten Jahrhundert, als die großen Schafzüchter sich zusammenschlossen, um den Durchzug ihrer Herden von den vertrockneten Prärien der Estremadura zu den grünen Hängen der nördlichen Gebirgsketten zu sichern. Soria pura, cabeza de Extremadura steht im Wappen von Soria. Dies war die Nahtstelle, an der die Königreiche von Kastilien und Aragonien an den islamischen Süden grenzten. Überall in diesem Gebiet, das der Duero wie eine Wasserverteidigungslinie durchzieht, stehen die Ruinen mächtiger Festungen, die mit ihren plumpen Formen die Landschaft beherrschen. Berlanga, Gormaz, Peñaranda, Peñafiel, in der Farbe der trockenen Erde liegen sie dort noch immer breit und drohend auf den niedrigen Hügeln, die die Landschaft wellenartig durchziehen. Ausgeschlachtete leere Hülsen, mächtige Knochengerüste ausgestorbener Tiere, so herrschen sie über das kahle Land und die niedrigen unscheinbaren Dörfer, in denen Kirchen und Klöster die Erinnerung an einstige Größe bewahren. Mit der gemeißelten Kalligraphie ihres Baustils beschwören sie die Erinnerung an verschwundene arabische Herrscher herauf. Hier ist die Zeit wirklich geschmolzen und danach für immer erstarrt. Der Reisende sieht die weißen Flecken auf der Landkarte immer größer werden, hierüber gibt es nichts zu berichten, er fühlt sich verloren in einem jahrhundertetiefen Abgrund, drohend umstellt von Ruinen. Der heiße Wind rollt mit ihm über die Ebene, und er wird nur wenigen Menschen begegnen. Soria ist die verlassenste Provinz Spaniens, die Leute ziehen von hier fort, hier ist nichts zu verdienen.

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Die Festung in Alt-Kastilien

Ich fliehe vor der Hitze ins Kloster von Veruela. Es ist, als werfe man die Tür der Ebene hinter sich zu und trete in eine andere, kühlere Welt ein. Eichen und Zypressen, leises Wassergluckern, Blättergeraschel, Schatten. Es ist niemand zu sehen, keine Autos anderer Gäste, nichts. In Italien kommt es einem oft vor, als wären alle Schätze übereinandergehäuft, das Auge wird trunken vom Schauen, das große Füllhorn wird ausgeschüttet, geht nie zur Neige. In Spanien, zumal in diesen Regionen, muß man selbst etwas tun. Entfernungen müssen zurückgelegt werden, das Land muß erobert werden. Der spanische Charakter hat etwas Mönchisches, selbst ihre großen Könige haben etwas Einsiedlerisches an sich: Philipp und Karl ließen sich Klöster erbauen und lebten zeitweilig mit dem Rücken zur Welt, die sie regieren sollten. Wer viel durch Spanien gereist ist, ist daran gewöhnt und hofft darauf: mitten im Nichts eine Enklave, eine Oase, ein von Mauern umschlossener, festungsartiger, nach innen gekehrter Ort, an dem die Stille und die Abwesenheit anderer den Seelen schwer zusetzen. Hier ist es nicht anders. Ich bin unter allen Feldern des Wappens von Ferdinand von Aragonien und den einfacheren, mit einer Mitra gekrönten Wappen des Erzbischofs von Zaragoza und des Klosterabts entlanggegangen, stehe auf dem Innenhof und habe geklingelt, aber es rührt sich nichts. Ich gehe zu den Wappen und starre auf sie, doch sie bedeuten nichts mehr. Ich sehe etwas, bin aber blind für das, was ich sehe. Einst müssen Menschen dies »gelesen« haben wie ich ein Verkehrsschild. Ich weiß, daß diese Felder seine Abstammungslinie anzeigen, daß sie von Paarungen in entlegenen spanischen Burgen berichten, die Ritter und adlige Fräulein hervorbrachten, die alle, nach langer Reise auf den Flüssen ihres Blutes, gemeinsam in diesem Ferdinand zusammenflossen. So ähnlich, Symbole der Macht und der Herkunft, die verzweifelt versuchen, mir eine Geschichte in einer Sprache zu erzählen, die ich nicht mehr verstehen kann. Über dem Wappen hängt, von zwei winzigen Engeln gehalten, ohne daß dieser Verstoß gegen die Schwerkraft sie allzuviel Mühe zu kosten scheint, ein Hut mit zwanzig Quasten. Kardinal oder Erzbischof? Ich weiß es nicht mehr. Ich stehe da und schaue und höre dasselbe, was die ersten Bewohner im zwölften Jahrhundert gehört haben. Ich bin – an soviel mehr Lärm gewöhnt, als sie je gehört haben – geneigt, dieses Fehlen von Geräuschen Nichts zu nennen, aber als ich länger lausche, unterscheide ich Nuancen des Nichts, all diese fast nicht existierenden Geräusche, das ferne Summen der Insekten, den trägen Flügelschlag eines Taubenpaars, den Wind in den Pappeln – die zusammen die Stille ausmachen.

Ich klingle noch einmal und höre Schritte ohne Eile. Leder auf Stein. Ein Mönch öffnet. Er reißt eine Eintrittskarte aus einem Buch, das noch voll ist, und deutet mit vager Handbewegung ins Kloster: Dann sieh dich mal um. Er geht nicht mit, er sagt nichts, auf gut Glück wandere ich umher. An der spätromanischen Fassade der Klosterkirche hängen, als reine Zier, ein paar dünne Säulchen ohne Sockel. Sie berühren nichts, sie stützen nichts und zeigen frei nach unten, auf den halbrunden Bogen, durch den ich jetzt eintrete.

Die Kühle des Gartens im Vergleich zur Hitze der Landschaft, die Kühle der Kirche im Vergleich zur Kühle des Gartens: Jetzt ist es schon fast Kälte, in der ich mich bewege. Die Außenmauern einer Kirche stellen sich der Außenluft, der normalen Luft, in den Weg. Plötzlich steht da eine willkürliche Steinform, die die noch eindringende Luft qualitativ verändert. Es ist nicht mehr die Luft zwischen Pappeln und Klee, Luft, die vom Wind hin und her gefächelt wird, es ist Kirchenluft daraus geworden, ebenso unsichtbar wie die draußen, aber doch anders. Kirchenförmige Luft, die den Raum zwischen den massiven Säulen füllt und totenstill, wie etwas, das da ist und nicht da ist, bis zu den Kreuzrippen im rohen, aus großen Quadern gefügten Gewölbe reicht. Die Kirche ist leer, die riesigen Säulen ragen ohne Sockel gerade aus dem gepflasterten Boden auf, die Sonne wirft aus ihrer derzeitigen Position eine seltsame, statische Lichtpfütze durch das Rundfenster irgendwo rechts in der Kirche, ein wenig gespenstisch. Ich höre meine eigenen Schritte. Dieser Raum verformt nicht nur die Luft, sondern auch das Geräusch meiner Schritte – es werden die Schritte eines Menschen, der in einer Kirche umhergeht. Selbst wenn man von diesen Erfahrungen das abzieht, was man selbst nicht glaubt, bleibt immer noch das Unwägbare, das andere Menschen in diesem Raum glauben und vor allem geglaubt haben.

Vorstellungen von architektonischem Purismus, die sich doch als so stark erweisen, wenn jemand ein Bürogebäude neben ein Grachtenhaus setzen will, versagen in dieser Art von Räumen. Von außen ist dieses Gebäude romanisch, die Kreuzgewölbe sind gotisch, die Grablege Don Lupo Marcos ist ein Meisterwerk der Renaissance, die Tür zur Sakristei extrem exaltiertes Barock, aber das Auge revoltiert nicht. All diese närrischen Barockengel, die an den groben, ungleichen Steinen aus dem dreizehnten Jahrhundert wie wildwuchernder Efeu ausfächern, bilden den Durchgang zu einem Kapitelsaal im reinsten Zisterzienserstil: niedrig, hell und still. Weil niemand sonst da ist, probiere ich meine Stimme schnell mal aus, um zu hören, wie die Stimmen der Mönche klingen müssen – die kleine gregorianische Tonfolge, die ich von mir zu geben wage, schwirrt tremolierend zwischen den Wänden herum und kehrt dann über die Abtgräber im Boden unversehrt wieder zu mir zurück. In einer der Mauern befindet sich das Grab des Herrn von Agón, Don Lope Jimenes, aus dem dreizehnten Jahrhundert. Er liegt in der Wand, an der Wand, nicht auf dem Rücken, sondern auf der Seite, ohne daß diese merkwürdige Position etwas am Faltenwurf seines Gewandes veränderte. Das junge, fast feminine Gesicht ruht auf einem Kissen aus Stein, die Linke auf dem Herzen, die Rechte packt den Griff seines großen Schwertes. Zwei greifähnliche Tiere, von denen eines einen kleinen Menschenkopf zwischen den Raubvogelklauen hält, heben die Köpfe, die Schnäbel weit geöffnet, um einen Laut von sich zu geben. Man sieht den Laut, hört ihn nicht, aber weil man ihn sieht, hört man ihn doch. Dieser Effekt stellt sich durch die Öffnung ihrer Schnäbel ein, wegen der Form der Höhlung sieht man den Laut, den sie hervorbringen, ein hohes, schreckliches Heulen. Irgend jemand muß einmal sehr traurig gewesen sein, als dieser Ritter starb. Er ist nicht weniger tot, als wir eines Tages sein werden, doch die Trauer um ihn waltet bereits siebenhundert Jahre am selben Ort, mit derselben in Stein gehauenen Intensität.

Ich versuche mir vorzustellen, wie es ist, wenn der kleine Raum dieses Kapitelsaals von Mönchen bevölkert ist, aber das Wesen des claustrum (lateinisch für: abgeschlossener Raum) besteht ja gerade darin, daß man nicht zugegen sein darf: Ich darf hier nur zu Zeiten herumgehen, zu denen sie sich woanders aufhalten. Überall sind Schilder zu sehen mit »claustrum«, zur Bezeichnung der Bereiche, die sie nicht verlassen dürfen und ich nicht betreten darf. Um dabei zu sein, müßte ich das Gelübde ablegen, für immer hier zu bleiben, und das geht vielleicht doch etwas weit.

Es gibt ein Gemälde von Fouquet aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das den heiligen Bernhard von Clairvaux, den Mitbegründer des Zisterzienserordens, in genau so einem Kapitelsaal predigend zeigt, in dem ich jetzt stehe. Helles Licht fällt durch die romanischen Fenster in den strengen Raum, Bernhard steht vor einem einfachen Pult, die Mönche sitzen entlang der Wand auf Steinbänken aufgereiht. Das Erstaunliche ist nicht, daß diese Gebäude bis jetzt stehen, sondern daß eine Lebensweise, die im zwölften Jahrhundert ihre mehr oder weniger endgültige Form erhielt, noch heute intakt ist. Und die Anfänge liegen sogar viel weiter zurück. Bereits vor Christus gab es im Nahen Osten Menschen, die von der Welt abgesondert lebten, Eremiten, Einsiedler, Anachoreten. Das blieb so während der ersten Jahrhunderte des Christentums. Es ist eine Fähigkeit der Seele, eine Möglichkeit für Menschen, sich von der »Welt« abzusondern, die es auch in anderen Kulturen und zu anderen Zeiten gab und noch gibt.

Im Westen geht die Klostertradition auf den heiligen Antonius zurück, der zwischen dem dritten und vierten Jahrhundert Klostergemeinschaften in der ägyptischen Wüste vorstand, und auf die christlichen Platoniker in Alexandrien. An diesem Punkt der Geschichte (ich stehe noch immer in meinem kühlen spanischen Kapitelsaal) ist es erforderlich, die Augen für einen Moment zu schließen und die heutigen christlichen Parteien zu vergessen: Zu der Zeit, von der ich hier spreche, sind die Christen eine feurige, verfolgte Sekte, eine Minderheit. Es ist die Zeit des (oft gesuchten) Märtyrertums, der leidenschaftlichen Bekehrungen, eine Zeit, nach der moderne Christen sich gelegentlich zurücksehnen, weil damals alles viel klarer und einfacher war oder schien. Erst im vierten Jahrhundert wird das Christentum zur »offiziellen« Religion. Menschen der verschiedensten Rassen strömen herbei, es wird nicht nur Mode, sondern auch zweckmäßig, Christ zu sein, Verfall und Laxheit setzen ein, und als Reaktion darauf bilden sich kleine, glühende Gemeinschaften, in denen der inzwischen schon nicht mehr ganz neue Glaube so rein wie möglich gelebt werden konnte. Johannes Cassianus, geboren in der Nähe des Schwarzen Meers, aufgezogen in Syrien und Palästina, ins Kloster eingetreten in Ägypten – all dies ist undenkbar, wenn man sich nicht die damals noch bestehende Struktur des Römischen Reichs vor Augen hält –, gründet eine der ersten Klostergemeinschaften in der Provence, genau in dem Augenblick, als die germanischen Stämme von Norden her ins Römische Reich einfallen. Was er in Syrien und Ägypten gelernt hat, übermittelt er jetzt dem Westen – seine Schriften über das kontemplative Leben werden im Mittelalter in jedem Kloster gelesen, Ideen, die in der strengen Verlassenheit der Wüste entstanden waren, fanden ihren Weg in andere, fruchtbarere Gegenden, und von diesem Wüstenartigen hat sich bis heute etwas erhalten – vielleicht nirgendwo heftiger als in Spanien, das nun einmal nie richtig zu Europa gehört hat.

Basilius, Hieronymus, Augustinus von Hippo – sie alle haben ihren Platz in der Geschichte des Klosterwesens, doch der Mann, der im Prinzip für alle nachfolgenden Jahrhunderte die Regeln festlegte, war Benedikt von Nursia. Das Feuer, das in diesem Leben loderte, ist für einen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts kaum mehr vorstellbar, aber die Geschichte spricht für sich selbst. Benedikt (um 480 - 547) zog als junger Mann in die Bergregion der Abruzzen, wo er in der Nähe der Ruinen von Neros Palast eine Höhle fand, in der er jahrelang lebte, ohne daß irgend jemand, ausgenommen ein Mönch aus einem benachbarten Kloster namens Robertus, der ihm heimlich eine Mönchskutte und Essen gab, davon wußte. Nachdem das Geheimnis später doch herausgekommen war, baten die Mönche des Klosters ihn, ihr Abt zu werden, aber seine Lebensregeln erwiesen sich für sie als zu streng, und sie versuchten, ihn zu vergiften. Er ging wieder in seine Höhle zurück, doch von allen Seiten kamen Schüler zu ihm, und er gründete zwölf Klostergemeinschaften zu je zwölf Mönchen. Seine eigene Abtei war die von Monte Cassino, die heute noch existiert. Benedikt lehnte das extreme, fanatische Asketentum ab, wie es im Nahen Osten praktiziert wurde, er hielt nichts davon, seine Mönche über die Grenze des Möglichen zu treiben. Was übrigblieb, war streng genug: eine Gemeinschaft, in der man nach seinem Eintritt für alle Zeiten blieb, dem Abt absoluten Gehorsam schuldete, sehr früh schlafen ging und sehr früh aufstand und zu allen möglichen Zeiten sowohl bei Tag als auch bei Nacht aufgerufen wurde, sich am Opus divinum, dem »göttlichen Werk«, dem Zelebrieren der Messe und dem Singen der Stundengebete zu beteiligen. Der Rest des Tages wurde mit Arbeiten und Lesen verbracht. Fasten und Enthaltsamkeit waren ein wesentlicher Bestandteil des Klosterlebens: Die späteren Trappisten aßen (essen) nie Fleisch oder Fisch. Gesprochen wurde genausowenig, nur wenn es unbedingt nötig war, oder während der Liturgie, der Predigt oder im Kapitel. Für den täglichen Umgang gab es eine rudimentäre Gebärdensprache. Einen »richtigen« Orden gründete Benedikt nicht, das ist eine spätere Erfindung. Zu seiner Zeit waren die Klöster völlig autonome Gemeinschaften, über die der Abt regierte wie ein absoluter Monarch. Bei wichtigen Entscheidungen zog er zwar die älteren Mönche zu Rate, aber sein Wort war am Schluß Gesetz, und dagegen gab es keine Berufung. Außer in Irland, wo sich aus der keltischen Stammestradition unter Columban ein eigenes Klosterwesen entwickelte, wurden Benedikts Vorstellungen bestimmend für das europäische Klosterleben.

Ein richtiger Orden – und auch das nur als eine lose Föderation autonomer Abteien – werden die Benediktiner erst im Jahr 910 mit der Gründung von Cluny, der Abtei, die in den darauffolgenden Jahrhunderten einen solch gewaltigen politischen und kulturellen Einfluß haben sollte. Mitte des zwölften Jahrhunderts gab es in Europa – bis nach Polen und Schottland hinein – über dreihundert Klöster, die direkt oder indirekt von Cluny beeinflußt waren, und sie alle unterstanden dem Abt von Cluny. Der liturgische Teil des Tages gewann an Bedeutung, das Singen der Chorgebete nahm immer mehr Zeit in Anspruch, die einfache Handarbeit verschwand, die religiöse Verfeinerung, sowohl im Gesang als auch in der Bauweise und der Ausschmückung, nahm zu.

Die Reaktion darauf kam von Bernhard von Clairvaux. Mit etwa dreißig anderen jungen Männern war er in das notleidende Benediktinerkloster Cîteaux eingetreten, von dem sich der Name Zisterzienser herleitet. Was er wollte, war die Rückkehr zur Urregel des Benedikt von Nursia. Der liturgische Teil wurde beschnitten, alle übertriebene Ornamentik abgelehnt, und unter seinem Einfluß entwickelte sich der Zisterzienserstil, roh, robust, einfach, nobel. Wer das Benediktinerkloster im niederländischen Oosterhout und das Trappistenkloster Achelse Kluis bei Valkenswaard besucht, kann den Unterschied deutlich feststellen. Trappisten sind eine spätere, strengere Variante der Zisterzienser, ihr Leben ist bäuerlicher und rauher. Die Benediktiner sind ein aristokratischerer Orden, intellektueller, verfeinerter. Selbst meine ungeübten Ohren hörten den einen Benediktiner, der bei den Trappisten zu Gast war, sofort heraus: Seine Stimme wirkte ein wenig prononcierter, schallender als die der anderen. Er benutzte seine Hände nicht auf dem Feld oder in der Bierbrauerei, sondern um Mitren zu besticken.

Am seltsamsten bei alledem finde ich das Wirken der Zeit: daß die Geschichte, die ich hier in hundert Zeilen erzählt habe, noch immer gültig ist – daß all diese Veränderungen und Varianten, die hier so leichthin aufgezählt werden, in Wirklichkeit Hunderte von Jahren in Anspruch nahmen – und daß die Essenz dieselbe geblieben ist, so daß jetzt wie damals und einst aus der Ferne wieder dieses Geräusch von Leder auf Stein näher kommt, der Gästepater, der mir mitteilt, meine Zeit sei um. Er trägt noch immer das gleiche Gewand, das seine Ordensbrüder vor fast tausend Jahren schon trugen, eine weiße Kutte und darüber ein schwarzes Skapulier. Es gibt die Zeitmaschine wirklich: In einer Kapsel bin ich, gegen Tod und Unheil geschützt, in die Tiefen des für immer entschwundenen Mittelalters hinabgelassen worden. Wo ich jetzt bin, leben sie weiter, wie in Reinkultur existiert diese Lebensform auch in unserem, dem inzwischen zwanzigsten Jahrhundert. Gleich werde ich da wieder ankommen, ein Fremder, der in einem Auto durch das Land Aragonien fährt.

1981

EINE REISE DURCH NAMEN UND ZEITEN

Die Tür des Klosters Veruela ist hinter mir zugefallen. Ich höre es hohl durch die alte Stille hallen, ich bin wieder in der Welt der Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen.

Wohin soll ich fahren? Das weiß ich bereits, ich fahre nach Soria, aber wie soll ich dorthin fahren, welchen Weg soll ich nehmen? Am Ende der dunklen Auffahrt rollt die Hitze der Mittagssonne wie ein Ball über die Landschaft. Ich habe zwei Karten, von Michelin und von Hallwag. Sie beschreiben dasselbe Land und dieselben Straßen, und doch scheint es, als stimme das Hallwagsche Spanien mehr mit der Leere und Stille rundum überein. Die Haut des Landes sieht auf der Hallwag-Karte viel verwitterter aus als auf der Michelin-Karte, die leichten Riffel im Flachland sind mit feinabgestuften Grau-, hellen und noch helleren Grautönen angegeben. Die Michelin-Karte kennt nur eintöniges Weiß und eintöniges Grün, das Rot der großen Straßen ist aggressiver, und so fühlt es sich in Wirklichkeit nicht an, dafür sind sie in dieser Provinz zu verlassen. Auf der Hallwag-Karte sind dieselben Straßen gelb, das macht sie kümmerlicher, verworfener, so wie sie sich auch fühlen. Und, noch schöner: Was auf der Michelin-Karte gelb ist, ist auf der Hallwag-Karte weiß. Für mich haben weiße Straßen etwas Verlockendes, als ob ich erst dann wirklich von allem weg bin, als ob das Land eigentlich nur mit großer Mühe kartiert worden ist.

Niemand hat diese Orte mit den seltsamen Namen je besucht. Wenn ich dort ankomme, stehen die Bewohner mit Brot und Wein an der Dorfgrenze. Während ich auf die Karte starre, lasse ich die spanischen Namen auf der Zunge zergehen ... La Almunia de Doña Godina, Alhama de Aragón, Sistema Ibérico, Laguna Negra de Urbión, wie eine Kette aus Wortjuwelen schlingen sich diese Dörfer, Pässe, Ebenen, Flüsse um den kurzen harten Klang Soria, jeder Name ist irgendwann einmal von irgend jemandem erdacht worden und ist nun ein Ding, das Menschen sich achtlos reichen: Ich fahre heute abend nach Soria, ich komme aus Soria. Es läßt sich nicht messen, was sich alles in Namen ballt, wieviel Tausende oder Millionen von Malen dieses eine Wort, das jetzt nur noch einen Ort bezeichnet, ausgesprochen und aufgeschrieben wurde, in welchen Formen es in Flurbüchern schlummert, auf Briefköpfen, Generalstabskarten herumlungert, in Briefen und Tagebüchern, Schriftstücken und Rechnungen auftaucht, den Mündern von Kindern, Nonnen, Mördern entfleucht: »Ich fahre heute abend nach Soria, ich komme aus Soria.« Es hat Macht, so ein Wort: Es wird sich später, unvorstellbar viel später von unvorstellbaren Mündern aussprechen lassen, die es heute noch nicht gibt. Und denk daran, nie bist du irgendwo nicht in einem Namen, nicht in einer Gegend mit einem Namen, nicht auf einem Berg mit einem Namen, in einem Ort mit einem Namen – stets hältst du dich in irgendeinem Wort auf, das sich andere – nie gesehen, längst vergessen – ausgedacht, irgendwann zum erstenmal aufgeschrieben haben. Wir befinden uns immer in Wörtern.

Und nicht nur in Wörtern, auch in der Geschichte. Der gegenwärtigen wie der von einst. Als ich in Tarazona halte, sehe ich in einer Kneipe die Vanguardia von vor zwei Tagen. In ihrem unablässigen Eifer, die spanische Demokratie zu vernichten, haben GRAPO oder ETA wieder einen General ermordet. Er ist das achtzigste Terroropfer in diesem Jahr. Dahinter steht der Gedanke, daß die Armee provoziert und getriezt werden müsse, bis sie die Macht ergreift, und dann könne der Krieg richtig beginnen. Auf der Titelseite sind fünf Fotos zu sehen. Das erste zeigt den ermordeten General – Brigadegeneral Don Enrique Briz Armengol, noch lebendig und von der Kamera in dem Augenblick geschluckt, als er eine neue Funktion erhält. Er steht dazu auf einem kleinen Podest mit spitz zulaufenden Pfählen, zwischen denen in Kniehöhe drei Ketten hängen. Die Farbe seiner Schärpe ist auf dem Foto nicht zu erkennen, aber ich weiß aus Erfahrung, daß sie violett ist. Sein Gruß wird durch die Tatsache betont, daß er weiße Handschuhe trägt, und eigentlich sieht er aus wie ein Schauspieler, der einen General spielt. Ein weißes, leicht maskenhaftes Gesicht, schwarze Löcher einer Sonnenbrille, wenig Ritterorden, aber geputzte Schuhe, und absolut kein Grund, ihn totzuschießen. Auf dem leeren Hof, auf dem er, wie es scheint, eine für uns unsichtbare Parade abnimmt, ist noch ein Mann zu sehen, der im selben Augenblick salutiert und, da durch die Entfernung sein Gesicht nicht gut zu erkennen ist, aussieht wie der per fekte Doppelgänger. Die beiden Soldaten, die das Auto fuhren, in dem er ermordet wurde, haben keine weißen Handschuhe, keine Ritterorden, eher fröhliche, noch unbeschriebene spanische Jungengesichter. Neben ihren Köpfen sind kleine Kreuze, man hat sie offenbar aus einem Gruppenfoto herausvergrößert, auf dem es etwas zu lachen gab. Auf dem nächsten Foto sind nur ihre Barette zu sehen. Sie liegen zwischen den Glassplittern auf dem schwarzen, unangenehm glänzenden Kunststoff der Vordersitze. Die Türen des Autos sind geöffnet, bleiernes Tageslicht fällt herein. Dieses Foto schmeckt noch am meisten nach Tod. Auf dem letzten Bild kondoliert der Präsident der Generalitat – der mehr oder weniger unabhängigen katalanischen Regierung – der Witwe. Sie ist ziemlich dick und trägt ein Kleid mit changierendem Vasarélymuster. Der Präsident hält ihre große, kräftige Hand in der seinen und sagt etwas. Auf dem Foto ist noch eine Frau, aber ihr Gesicht kann ich nicht lesen – Trauer, Wut, Rachsucht, Schock: die Gesichter, die in Geschichtsbüchern immer unsichtbar sind. Die vierte Person ist der Kommandeur des Ermordeten, Generalleutnant Pascual Galmes. Er hat ein altes Indianergesicht, die Jacke ausgezogen und schaut düster drein. Es gibt nicht den geringsten Grund, weshalb er nicht der nächste sein sollte.

Armes Spanien, kann man da sagen und ein düsteres Referat über ein Land halten, das mit sich selbst nie einig werden kann, da es nie eine Einheit geworden ist. »Wir hätten Franco behalten sollen«, sagen die Rechten, »da gab’s diese Schweinerei nicht.«

»Wir werden nur als Arbeitskräfte für das reiche Spanien benutzt«, sagen die Andalusier, »wir sind Gastarbeiter im eigenen Land.«

»Wir haben unsere ganzen Dörfer und Landschaften und Strände vom Tourismus verpesten lassen«, sagen die Bewohner der Costa del Sol, »und wo geht das Geld hin?«

»Wir in Katalonien verdienen das Geld für ganz Spanien – allein ginge es uns viel besser«, sagen die Katalanen (und die Basken). Und das sind noch längst nicht alle Risse und Gräben. Wer die Geschichte Spaniens kennt, weiß, daß es immer so war, außer wenn eine große nationale Bewegung, ein großes Abenteuer wie die Reconquista – die Rückeroberung Südspaniens von den Mauren – oder die Zeit des Golds und der Entdeckungsreisen ganz »Spanien« erfaßt hatte. Doch nach einem solchen Begeisterungstaumel zerfällt das Land wieder in all seine Eigenheiten und Eigensinnigkeiten. Kelten, Iberer, Goten, Juden, Mauren, Römer, alle haben ihr Blut in den großen Tiegel gegossen, und das Merkwürdigste ist vielleicht sogar, daß es hin und wieder gelang, all diese nationalistischen Regionen mit ihren so gänzlich verschiedenen Klimata, Landschaften, Charakteren und Interessen von jenem einen Punkt in der dürren zentralen Hochebene aus zu regieren: Madrid. Trocken und arm, zehn Prozent des Bodens schieres Gestein, fünfunddreißig Prozent kaum nutzbar, fünfundvierzig Prozent halbwegs fruchtbar, zehn Prozent reich – vom restlichen Europa durch die Berliner Mauer der Pyrenäen getrennt, isoliert, fern und durch die endlose Hochfläche in der Mitte in sich selbst gespalten. Verbindungen schwierig, Charaktere unterschiedlich, die Liebe zum Eigenen, Nahen, der Stadt, der Region, der eigenen Sprache immer größer als die Idee der Gemeinsamkeit. So ist es heute, so war es früher. Einer der Faktoren, die trotz aller Verschiedenartigkeit zur Einheit beigetragen haben, war die Heirat Ferdinands und Isabellas im Jahr 1469. Dazu hätte Verdi natürlich eine Oper komponieren müssen, oder jemand hätte es für die breiteste Breitwand verfilmen müssen, denn die Landschaften, in denen sich diese leidenschaftliche und zugleich eigennützige Geschichte abspielte, sehen noch genauso aus wie damals. Isabella war achtzehn Jahre alt und wurde von ihrem Bruder Heinrich IV. von Kastilien bedroht. Sie war die Erbin des kastilischen Throns, aber ihre große Rivalin war die – möglicherweise uneheliche – Tochter ihres Bruders, Juana la Beltraneja. Isabella war jung, wußte aber genau, was sie wollte – und sie hatte sich auf die Heirat mit Ferdinand, König von Aragonien und Sizilien, versteift. Verglichen mit Kastilien waren dies kleine, arme Gebiete, doch die Vereinigung der beiden Kronen wäre ein erster Schritt zur Einheit Spaniens. Der Erzbischof von Toledo – das waren noch Zeiten – stand auf ihrer Seite und holte sie mit einer kleinen Reiterschar aus ihrem Haus in Madrigal ab und brachte sie nach Valladolid. Für Ferdinand war es noch schwieriger. Er brach mit ein paar Vertrauten in Zaragoza auf und reiste, als Kaufmann verkleidet, durch ebendie Gegend, durch die ich jetzt fahre. In El Burgo de Osma – heute ein ausgestorbener Fleck, in dem eine viel zu große Kathedrale voller Kunstschätze ohnmächtig die Erinnerung an frühere Größe bewahrt – wurde er fast ermordet, aber er schaffte es, vier Tage vor dem vereinbarten Zeitpunkt, an dem sie heiraten wollten, in Valladolid einzutreffen. Die beiden hatten sich noch nie gesehen. Wo ist Verdis Arie und das Duett, das dann unabänderlich darauf hätte folgen müssen? Wo ist die Kamera, die in dem Augenblick, in dem die Achtzehnjährige halb verborgen hinter der Balustrade oben an der Treppe steht, langsam zu dem Kaufmann aus Aragonien hinüberschwenkt? Die beiden waren so arm, daß sie sich überall Geld leihen mußten. Weil sie, wie sich das bei Königshäusern gehört, doch etwas zu nah miteinander verwandt waren, gab es eine päpstliche Dispensbulle, die sich später als unecht erwies, eine saubere Fälschung, fabriziert von Ferdinand selbst, seinem Vater, dem König von Aragonien, und dem Erzbischof von Toledo. Wie der Entschluß zu heiraten eigentlich zustande kam, ist nicht klar – mancherlei Gruppen und Interessen, auch außerhalb Spaniens, waren dabei im Spiel. Der Sohn des französischen Königs bemühte sich ebenfalls um Isabella, was eine französisch-kastilische Allianz bedeutet hätte, der noch nähere und nicht mehr ganz junge König von Portugal hegte die gleichen Absichten, aber auf der anderen Seite gab es eine starke aragonesische Fraktion am kastilischen Hof (prachtvoll für die Chorszenen), und angesehene jüdische Familien in beiden Ländern waren für Ferdinand, weil sie hofften, er, der durch seine Mutter jüdisches Blut hatte, werde ihre Position stärken. Intrigen, Bestechungen, Eifersucht, Berechnung, alles spielte mit, aber Isabella wußte noch immer, was sie wollte, und Ferdinand wurde letzten Endes schlichtweg dazu engagiert, den Interessen Kastiliens zu dienen. Er mußte in Kastilien leben und sollte den zweiten, nicht den ersten Platz einnehmen. Im Dschungel der spanischen Politik – schon lange zuvor hatten sich in Katalonien, Valencia und Aragonien verschiedene demokratische Institutionen entwickelt, die, wie die Justicia, die Cortes, die Diputació und die Generalitat (schon damals!), die Macht der Krone scharf im Auge behielten – war die Wahl Ferdinands eine gute. In Aragonien hatten die Könige konstitutionelle Verpflichtungen, es gab eine recht gute Zusammenarbeit zwischen dem Bürgertum und der Krone. In Kastilien dagegen war das politische Chaos komplett – der Machtkampf spielte sich dort zwischen Krone und Adel ab, dessen Angehörige teilweise so reich waren (wie auch heute noch), daß sie, wie die berühmte Leonor de Albuquerque (la rica hembra, die reiche Frau) von Aragonien nach Portugal durch ganz Kastilien reisen konnte, ohne einmal den Fuß auf fremden Grund und Boden zu setzen. Fragmente, Konflikte, Namen, und das alles wirkt im heutigen Spanien weiter – dieselben Institutionen, wie die Generalitat von Cataluña, gibt es noch immer, verschiedene Gebiete beanspruchen ihre autonomía, der Adel im Süden besitzt noch immer provinzgroße Ländereien. In Spanien braucht die Geschichte sich nicht zu wiederholen, sie kann einfach dieselbe bleiben. Schon lange vor dem unsrigen gab es einen Herzog von Alba1, und den gibt es noch heute.

Manchmal besteht meine Erinnerung aus Ansichtskarten. Wenn mich jemand eines Tages – in zehn Jahren oder in einem anderen Land oder nachts im Traum – fragen sollte: »Tarazona, was war das?«, dann sähe ich eine Vision von hitzegetränktem Ocker vor mir, von sandfarbenem, sonnengeplagtem Backstein. Durst, leere Straßen, Fensterläden, hinter denen Menschen schlafen, das vergebliche Abklappern verschiedener Bars nach Mineralwasser, Karren mit Mauleseln. Erst die beiden auf bewahrten Ansichtskarten bringen die Erinnerung an jene merkwürdige Kathedrale zurück, deren Turm die Stadt minarettartig überragt. Mudejarstil nennt man das, arabische Elemente in christlichen Bauten, geometrische Figuren, die sich in den verschiedensten Varianten überlagern. Auch wieder nichts für Puristen: Komische korinthische Säulen auf idiotisch hohen Sockeln als gemeine Fangfrage für ein Kunstgeschichteexamen an ein romanisches Portal geklebt. Ich will hineingehen, aber selbst Gott schläft in Spanien mittags nach dem Essen, also döse ich noch eine Weile im kühlen Vorhof vor mich hin, Auge in Auge mit den allegorischen Gestalten, die mich nicht sehen.

Graue, braune, purpurne Landschaften, der große Malkasten der Elementarfarben. Gegen Abend erreiche ich Soria. Ich habe ein Zimmer in dem Parador gefunden, der, an die Hügel geschmiegt, auf das Tal des Duero blickt, der später, weiter nach Westen zu, Douro heißen wird. Das matte Tageslicht ist bläulich, und bereits halb verwischt klebt die Landschaft noch an den Scheiben, eine Riesenmotte auf der Suche nach Licht. In diesem Parador war ich ein Jahr zuvor, als der Jahrestag der ersten Menschen auf dem Mond gefeiert wurde, der auch schon wieder zehn Jahre zurückliegt. Auch damals war ich in Spanien, in irgendeiner Kneipe, in der Fischer beim Kartenspiel saßen. Ich war der einzige, der schaute. Diesmal schaute jeder – es war schließlich nicht echt – mit der gleichen Aufmerksamkeit auf die Nescafé-Werbung wie auf Armstrong, der auf dem lunaren Staubfeld sein Ballett aufführte. Unvergeßliche Bilder, aber nun spielte Barockmusik dazu, als hätte man hinter diesen beiden weißen Tänzern mit ihren unirdischen Bewegungen ein Orchester des Herzogs von Weimar plaziert. Die Raumfahrer tanzten, sie waren durchsichtig, ihre Stimmen durch den Raum verändert, sie spiegelten sich im glänzenden Visier des anderen, gehörten dort nicht hin und liefen trotzdem mit ihren übergroßen Eisbärfüßen auf den Körnern, Pusteln und Krankheiten des Monds herum, der in diesem Augenblick aufhörte, eine Göttin zu sein. Ach, könnte ich nur ein einziges Mal die Erde als Vollmond sehen, während ich auf einer Terrasse am leeren Meer der Stille sitze, ein Glas mit plutonischem Champagner vor mir auf meinem Platintischchen, und von einer unmöglichen Reise nach Spanien träume.