Einleitung

Wer sich heute auf eine Pädagogik der frühen Kindheit einlässt, ist mit einer Reihe von Fragen befasst, unter denen ich die folgenden hervorheben und ihnen auch besondere Aufmerksamkeit schenken möchte:

In der Art und Weise meiner Formulierungen kommt eine bestimmte Auffassung über Bestimmungsmerkmale pädagogischer Phänomene zum Tragen. Sie besagt, dass es auf die grundlegenden Fragen der Frühpädagogik – und vermutlich gilt dies auch für andere Teildisziplinen bzw. Handlungsfelder der Pädagogik – keine eindeutigen Antworten gibt. Vielmehr verweisen diese Fragen auf Spannungsfelder, die in der sozialen Praxis von Erziehung, Betreuung und Bildung angelegt und, dem zufolge, unvermeidbar sind. Solche Spannungsfelder müssen, wenn eine Ausrichtung an einseitigen Ideologien vermieden werden soll, immer wieder aufs Neue in öffentlichen Diskursen sowie im pädagogischen Alltag bedacht und ausbalanciert werden.

Der Gedankengang des vorliegenden Buches lässt sich wie folgt skizzieren:

Kapitel 1 erläutert die Vorstellung von der spannungsreichen Einheit der gleichermaßen biologisch wie sozial bestimmten Kindheit. Es mündet in den Versuch, das traditionsreiche anthropologische Denken im Lichte von Erkenntnissen der heutigen fächerübergreifenden Entwicklungsforschung zu aktualisieren. Dabei lautet die zentrale These: Die Überzeugung, dass Kindheit von der spannungsreichen Einheit von biologischen Faktoren (z. B. Anlagen) und sozialen Faktoren (z.B. Umweltbedingungen) bestimmt wird, sollte erweitert werden zur Vorstellung von der dreifach – nämlich biologisch, sozial und selbst – bestimmten Kindheit. Das „Selbst“, von dem hier als eine Art dritter Faktor neben der biologischen und der sozialen Bestimmung des Menschen die Rede ist, wird verstanden nicht als eine monadische Einheit, sondern als das unabgeschlossene Ergebnis eines den gesamten Lebenslauf begleitenden Beziehungsgeschehens, an welchem das heranwachsende Individuum aktiv und interaktiv beteiligt ist.

Dieses Beziehungsgeschehen wird in Kapitel 2 im Hinblick auf die (früh-)pädagogischen Grundbegriffe detailliert beschrieben. Die den Gedankengang leitende Idee besagt: Diejenigen Prozesse, welche in der wissenschaftlichen Pädagogik unter Begriffen wie Betreuung, Erziehung, Sozialisation, Bildung, Lernen und Entwicklung thematisiert werden, können nicht verdinglicht, sondern nur in der Perspektive eines zwischen Personen ablaufenden kommunikativen Geschehens angemessen verstanden werden. Entscheidend ist die Vorstellung: Pädagogische Praxis, die wir mit den genannten Begriffen beschreiben, lässt sich nicht jeweils der einen (z.B. der erziehenden) oder der anderen (z. B. der lernenden) Person zuschreiben. Vielmehr nimmt die pädagogische Praxis den Status eines „Zwischen“ ein. Damit ist gemeint, dass pädagogische Praxis hervorgeht aus bzw. ihr Medium findet in den wechselseitigen Beziehungen zwischen Personen (insbesondere zwischen Erwachsenen und Kindern) sowie aus bzw. in deren gemeinsamer Bezugnahme auf Themen und Gegenstände, zum Beispiel auf Aspekte von „Weltwissen“.

Die vielfältigen Facetten der pädagogisch relevanten Beziehungen werden in Kapitel 3 dargestellt. Bei diesen Beziehungen handelt es sich in erster Linie um Beziehungen zwischen verschiedenen Generationen („Alt“ und „Jung“), und zwar sowohl Familiengenerationen (Kinder und ihre Eltern sowie, durch die demographische Entwicklung begünstigt, ihre Großeltern) als auch Gesellschaftsgenerationen (Fachkräfte und Kinder). Wenn man danach fragt, wie das pädagogische Beziehungsgeschehen gestaltet und erlebt wird, stößt man auch hier – ebenso wie bei den grundlegenden Fragen der Frühpädagogik – auf unvermeidliche Spannungsfelder. Beispielsweise sind die Beziehungen zwischen Eltern (oder auch Fachkräften) und Kindern einerseits auf Wechselseitigkeit angelegt. Damit ist gemeint, dass Kinder vom frühesten Alter an das Beziehungsgeschehen aktiv mitgestalten und dass Einwirkungen in beiden Richtungen – von den Erwachsenen auf die Kinder und von den Kindern auf die Erwachsenen – stattfinden. Andererseits sind die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern – auch unter den heutigen liberalisierten Bedingungen – durch ein Machtgefälle gekennzeichnet: Die Angewiesenheit des kleinen Kindes auf die Pflege und Betreuung, Zuwendung und Anregung seiner erwachsenen Bezugspersonen versetzt das kleine Kind in eine Position der Abhängigkeit, aus der es sich erst allmählich befreien kann. Oder, um ein zweites Beispiel für Spannungsfelder im frühpädagogischen Beziehungsgeschehen anzudeuten: Das Bedürfnis des Kindes nach Verbundenheit mit den ihm nahe stehenden Erwachsenen kann in Konflikt geraten mit seinem Bedürfnis nach Autonomie. Ein produktiver Umgang mit derartigen Spannungsfeldern, die im pädagogischen Beziehungsgeschehen angelegt sind, wird in Kapitel 3 als wichtige Ausgangsbasis für den (lebenslangen) Prozess der Persönlichkeitsentwicklung beschrieben.

Wenn man das pädagogische Beziehungsgeschehen angemessen analysieren will, wird man sich allerdings nicht auf die Dynamik der interpersonellen Beziehungen und die in diesen ablaufenden Prozesse beschränken können. Man muss vielmehr in Rechnung stellen, dass das dialogische Beziehungsgeschehen in struktureller wie auch inhaltlicher Hinsicht durch je spezifische Bedingungen der historischen Zeit, der kulturellen Überzeugungen und Routinen sowie der Gesellschaftsverfassung modifiziert wird. Ein Beispiel dafür bietet die historische sowie die gesellschaftliche bzw. (sub-)kulturelle Vielgestaltigkeit der Eltern-Kind- und, allgemeiner gefasst, der Generationenbeziehungen. Noch innerhalb des Zeitraums der letzten fünfzig Jahre lassen sich Wandlungen in den familialen Beziehungsstrukturen bzw. in deren Wahrnehmung und Regulierung beobachten. Um den genannten Aspekten Rechnung zu tragen, befasst sich ein eigener Abschnitt mit den historisch-gesellschaftlichen und kulturellen Kontextbedingungen für die Wahrnehmung und Gestaltung erzieherischer Beziehungen.

Die Analysen in Kapitel 3 gehen von der Überzeugung aus, dass die pädagogische Praxis, die hier als historisch-gesellschaftliches und kulturell geprägtes Beziehungsgeschehen interpretiert wird, eine unabdingbare Sphäre der menschlichen Gesamtpraxis darstellt; unabdingbar deshalb, weil das pädagogische Beziehungsgeschehen zum einen den Individuen ermöglicht, ihr („transaktionales“) Selbst aufzubauen und die in ihnen angelegten Potentiale zu entwickeln, zum anderen aber die jeweilige Gesellschaft instand setzt, in der Abfolge der Generationen die kulturellen Wissensbestände, Werte und Institutionen weiterzugeben sowie weiter zu entwickeln und zu erneuern. Außerdem: Die zentrale gesellschaftliche Bedeutung des pädagogischen Beziehungsgeschehens wird mit dem Hinweis auf die Tatsache erläutert, dass dieses eine starke und im Verlauf der Kulturgeschichte kontinuierlich zunehmende und sich weltweit verbreitende Institutionalisierung erfahren hat; diese betrifft im historischen Prozess zunächst den schulischen Unterricht und danach, beginnend in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Gründung von Kindergärten durch Friedrich Fröbel, familienergänzende Tageseinrichtungen für Kinder in der Lebensphase bis zur Einschulung.

Ausgewählte Aspekte dieser Institutionalisierung werden in Kapitel 4 behandelt. Den Ausgangspunkt bildet die These, die – insbesondere am Fortschritt von Wissenschaft und Technik ablesbare – „kulturelle Evolution“ wäre nicht möglich gewesen ohne die Institutionalisierung kulturellen Lernens im Erziehungssystem der Gesellschaft. Die weltweit in jedem Nationalstaat vollzogene Etablierung eines Erziehungssystems hat zur Verlängerung der Kindheitsperiode und zur Definition der Kindheit als Erziehungs- bzw. Bildungskindheit geführt; sie lässt kulturelles Lernen zu einem wesentlichen Faktor in den Lebensläufen aller Mitglieder der nachwachsenden Generation werden. Das Erziehungssystem stellt denjenigen sozialen Ort dar, an welchem die Weitergabe bzw. Weiterentwicklung des kulturellen Erbes in der Abfolge der Generationen auf Dauer gestellt wird.

Die allgemeinen Grundlagen der Kultur- und Handlungsfähigkeit erwerben Kinder in der Regel nach wie vor durch die Erfahrung von Bindung und Anregung in „proximalen“ Generationenbeziehungen in der Lebenswelt der Familie. Unbeschadet dieser Tatsache sind alle uns bekannten Gesellschaften dazu übergegangen, dem Zweck der Erziehung (insbesondere in Gestalt von schulischem Unterricht) der nachwachsenden Generation gewidmete Institutionen zu schaffen und deren Besuch verpflichtend zu machen. Es gehört zu diesem Institutionalisierungsprozess, dass zur effektiven Wahrnehmung der von Staat und Gesellschaft definierten Erziehungsaufgaben pädagogische Berufe etabliert werden – Lehrer/innen für die Schulen und Erzieher/innen für die Tageseinrichtungen für Kinder im Vorschulalter.

In evolutionstheoretischer Perspektive argumentiere ich: Die Institutionalisierung und Professionalisierung des pädagogischen Beziehungsgeschehens haben sich im historischen Prozess deshalb herausgebildet, erhalten und weltweit verbreitet, weil sich gezeigt hat, dass auf diesen Wegen die Anpassung der Gesellschaften und der Individuen an die komplexen und sich verändernden, zunehmend vom Menschen selber geschaffenen Umweltbedingungen effektiver gelingt.

In Kapitel 4 werden Aspekte der Institutionalisierung von Betreuung und Erziehung nicht allein am Beispiel der Tageseinrichtungen für Kinder erörtert, sondern auch am Beispiel der Familie. Darin liegt auf den ersten Blick ein Widerspruch, zumal im Verlauf des Kapitels auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen sowie die Konfiguration von „familialer“ und „institutioneller“ Erziehung behandelt werden. Dieser vermeintliche Widerspruch löst sich weitgehend auf, wenn man die evolutionstheoretische Betrachtungsweise in Rechnung stellt, welche in allen Kapiteln dieses Buches herangezogen wird. In dieser Perspektive stellt Familie – in einer großen Vielfalt sozialer Gestalten von der Mutter-Kind-Beziehung bis hin zu größeren Verbänden wie z. B. dem Stamm – die phylogenetisch älteste und die verbreitetste Form der Institutionalisierung von Pflege-, Betreuungs- und Erziehungsaufgaben dar; besonders deutlich wird dies bei der Organisation der Brutpflege bei vielen Tierarten. Familie kann insofern als ein Musterbeispiel für die „Koevolution von menschlicher Biologie und Kultur“ gelten.

Wenn man pädagogische Praxis als Lebenslauf begleitendes Beziehungsgeschehen begreift, wie dies im vorliegenden Buch geschieht, dann lässt sich das pädagogische Denken und Handeln als „Beziehungspädagogik“ kennzeichnen.

Im abschließenden Kapitel 5 werden zwei Beispiele für Ansätze einer solchen Beziehungspädagogik in früher Kindheit skizziert.

Das vorliegende Buch ist teilweise aus einem Text hervorgegangen, den ich unter dem Titel „Kind und Kindheit“ in einem Gemeinschaftswerk zur Pädagogik der frühen Kindheit veröffentlicht habe (Fried u. a.) 2012). Für kritische Kommentare und hilfreiche Anregungen danke ich insbesondere meiner Frau Adelindis Liegle, meinen Freunden Kurt Lüscher und Hans-Ulrich Schnitzler sowie Renate Thiersch.

1

Kindheit zwischen biologischer und kultureller Evolution: Die „kulturelle Natur“ der menschlichen Entwicklung

Wir alle sind Kinder gewesen und können über unsere Kindheit nachdenken und erzählen. Kinder und Kindheiten erscheinen deshalb zunächst einmal als selbstverständliche Gegebenheiten. Spätestens dann jedoch, wenn beispielsweise Großeltern oder ausländische Gäste von ihrer Kindheit erzählen, werden wir gewahr: Zwar waren alle Erwachsene zunächst einmal Kinder, aber ihre Kindheiten weisen unter einander sowie im Vergleich zu unserer Kindheit viele Unterschiede auf. Für das Nachdenken über die eigene Kindheit ergibt sich daraus die Einsicht: Wären wir in einem anderen Land oder in einer anderen Geschichtsepoche geboren worden und aufgewachsen, so hätten wir eine andere Kindheit erfahren und hätten uns beispielsweise eine andere Muttersprache angeeignet; wir wären zu anderen Kindern und zu anderen erwachsenen Personen geworden; wir würden unsere Kindheit „anders“ wahrnehmen und – als Eltern ebenso wie als Kindheitspädagogen – die Beziehungen zu Kindern anders gestalten.

In seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ hat Goethe die genannte Einsicht in dem Satz zusammengefasst: „Ein jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.“

Ein Kind sollte demnach nicht nur als eine Person in einer biologisch bestimmten Lebensphase, sondern immer auch als ein Kind seiner Zeit sowie einer bestimmten gesellschaftlich-kulturellen Umwelt verstanden werden. In dieser historisch-kulturellen Perspektive erscheint, wie der Satz von Goethe zeigt, auch die „eigene Bildung“ einer Person – ihre Individualität, ihre Identität, ihr „Selbst“ – nicht etwa nur als Ausdruck biologisch bestimmter Anlagen und Reifungsprozesse, sondern auch als das (vorläufige) Ergebnis eines Beziehungsgeschehens, das den gesamten Lebenslauf begleitet. Dieses soziale Geschehen werden wir in Kapitel 2 im Lichte der (früh-)pädagogischen Grundbegriffe genauer beschreiben. Dabei wird deutlich werden: Die Erfahrung und Gestaltung von sozialen Beziehungen tragen entscheidend dazu bei, dass und wie wir die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Anlage und Umwelt, Natur und Kultur sowie Individuum und Gesellschaft in unseren Lebenslauf und in unsere Persönlichkeitsentwicklung integrieren können.

1.1 Kindheit – ein Ergebnis der biologischen Evolution

Im Prozess der biologischen Evolution ist es bei den hoch entwickelten Säugetieren bzw. Nesthockern zur Ausbildung einer nachgeburtlichen Lebens- und Lernphase unterschiedlicher Dauer gekommen; deren Funktion liegt darin, den Nachwuchs vermittels verschiedener Formen der Tätigkeit und Erfahrung (z. B. Nachahmung, Spielen, Üben) zu jener Handlungsfähigkeit gelangen zu lassen, die zum Überleben in der je spezifischen Umwelt erforderlich ist. Allgemein kann man sagen: Je weniger angeborene Eigenschaften und Verhaltensweisen ausreichen, um Anpassung an und Handlungsfähigkeit in der jeweiligen Umwelt zu gewährleisten, und je komplexer diese Umwelt organisiert ist, desto mehr nimmt die Bedeutung einer nachgeburtlichen Lernphase zu. Beim Menschen vollzieht sich die Entwicklung seines komplexen Gehirns, wie die einschlägige Forschung belegt, nicht nur als ein Reifungsprozess, sondern auch in Abhängigkeit von sozialen (bzw. transaktionalen) Erfahrungen. Ein gutes Beispiel dafür bietet der Spracherwerb: Jedes Kind ist gattungsgeschichtlich dazu befähigt, Sprache zu entwickeln; diese Entwicklung kommt aber nur unter der Voraussetzung zustande, dass das Kind in einer sprachlich geprägten Umwelt aufwächst. Allgemeiner gesagt: In der menschlichen Entwicklung (ansatzweise gilt das für alle Primaten) wirken immer zwei Prozesse zusammen: Prozesse des Erbens (Weitergabe von Genen von Generation zu Generation) und Prozesse des Erwerbens (kulturelle Weitergabe vermittels von Lernprozessen). Deshalb ist es gerechtfertigt, von der „kulturellen Natur“ der menschlichen Entwicklung zu sprechen (Rogoff 2003). Erst intensive und auf Dauer angelegte Lernprozesse machen es möglich, dass, wie beim Menschen, Fähigkeiten und Wissen von Generation zu Generation weitergegeben werden können und im Rahmen dieser Weitergabe auch Neues im Sinne eines „kulturellen Wagenhebereffekts“ (Tomasello 2002, 49ff.) entstehen kann. Beim Menschen hat die Lebensphase Kindheit demzufolge sowohl einen biologischen als auch einen kulturellen Aspekt: „Ebenso wie sie Gene erben, die sich in der Vergangenheit angepasst haben, erben Individuen auf kulturellem Wege Artefakte und Vorgehensweisen, die die gesammelte Weisheit ihrer Vorfahren beinhalten“ (Tomasello 2010, S. 10).

1.2 Von der biologischen zur kulturellen Evolution: Institutionalisierung der Erziehung

Wenn Kindheit einerseits in biologischer Betrachtung als Ergebnis der biologischen Evolution beschrieben werden kann, so ist andererseits zu fragen, ob sich auch der kulturelle Aspekt der Kindheit in der Perspektive eines evolutionären Prozesses beschreiben lässt. Dies würde bedeuten, die bislang vorgetragene Argumentation weiterzuführen und zuzuspitzen: Kindheit würde damit gekennzeichnet als Ergebnis nicht nur der biologischen, sondern auch der kulturellen Evolution. Damit käme der ursprünglich von Darwin geprägte, biologische Evolutionsbegriff in einem übertragenen Sinn zur Anwendung. Mit dem Begriff der kulturellen Evolution würde man – parallel zum Darwinschen Konzept der biologischen Evolution – die langfristige Entwicklung von Kulturen darauf hin untersuchen, welche durchgängigen Mechanismen, Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten sich in diesem kulturellen Evolutionsprozess ausmachen lassen; Mechanismen der Variation und Selektion beispielsweise, deren Wirksamkeit Darwin in Prozess der biologischen Evolution entdeckt hat.

In der Tat werden in verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen Konzepte der kulturellen Evolution erprobt. So hat der amerikanische Soziologe T. Parsons die Etablierung staatlicher Pflichtschulsysteme als „evolutionäre Universalie“ bezeichnet (Parsons 1964/1970). Das hinter dieser These stehende Argument könnte man wie folgt wiedergeben: Pflichtschulsysteme sind soziale Institutionen, die sich im Durchgang durch Variation und Selektion in der Abfolge von Generationen in komplexen Gesellschaften entwickelt, bewährt und erhalten und sodann, im Verlaufe der Zeit, eine immer stärkere, tendenziell weltweite („universale“) Verbreitung gefunden haben; und dies aufgrund der Erfahrung, dass Gesellschaften, welche Pflichtschulsysteme eingeführt haben, in ihrer Anpassung an komplexe Umwelten besser abschneiden als Gesellschaften, welche diese soziale Institution nicht geschaffen haben. Ein vergleichbarer Ansatz ist aus der Politikwissenschaft hervorgegangen: Der „Neoinstitutionalismus“ untersucht Gesetzmäßigkeiten in der Herausbildung eines „Weltsystems“ von Formen der Institutionalisierung in modernen Gesellschaften, und zwar insbesondere an den Beispielen des Nationalstaatsprinzips und der Pflichtschulsysteme (Krücken/Drori 2009). Aufgrund von Vergleichsstudien über die frühen nachgeburtlichen Entwicklungspfade von Menschen- und Schimpansenkindern im Rahmen der „evolutionären Anthropologie“ geht Tomasello noch einen Schritt weiter, indem er von einem wechselseitigen Zusammenhang zwischen biologischer und kultureller Evolution ausgeht. Dieser innovative Forschungsansatz führt zu dem Konzept der „Koevolution von menschlicher Biologie und Kultur“ (Tomasello 2010, S. 45). Auch bei Tomasello wird, wie bei den zuvor genannten Ansätzen, die Schaffung sozialer Institutionen als eine Besonderheit der menschlichen Kultur beschrieben; eine Besonderheit, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, auch zur Kennzeichnung kultureller Entwicklungsprozesse den Evolutionsbegriff zu verwenden.

Anhand zahlreicher Untersuchungen zur Geschichte der Erziehung und der Kindheit lassen sich Belege für die Fruchtbarkeit des Konzepts der kulturellen Evolution finden. So hat z. B. Aries (1975), die „Entdeckung“ und „Verschulung“ (scolarization) der Kindheit als Begleiterscheinungen der Entwicklung „moderner“ Gesellschaften beschrieben. In der Perspektive des Konzepts der kulturellen Evolution kann man die Befunde von Aries wie folgt interpretieren: Durch die Institutionalisierung der Erziehung unterstützt und nutzt der moderne Nationalstaat die allgemeine Lernfähigkeit und Bildsamkeit des menschlichen Nachwuchses mit dem Ziel, gesellschaftlich nützliches Wissen und Können vermittels organisierter Lernprozesse in der Generationenfolge zu bewahren bzw. zu vermehren. Die Institutionalisierung der Erziehung setzt in einer Phase der kulturellen Evolution ein, die durch immer komplexere Formen der Arbeitsteilung in der Gesellschaft sowie durch die Erfindung neuer Medien der Weitergabe von Kultur (z. B. Buchdruck) gekennzeichnet ist (Treml 2000). Die Institutionalisierung der Erziehung befördert die Anpassungsfähigkeit von Gesellschaften an komplexe Umweltbedingungen; diese Erfahrung hat die modernen Nationalstaaten dazu veranlasst, Institutionen der Erziehung zu schaffen.

Die Institutionalisierung der Erziehung in Gestalt von Pflichtschulsystemen hat seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in engem Zusammenhang mit Prozessen der Industrialisierung und der Nationalstaatenbildung weltweite Verbreitung gefunden. So konnte beispielsweise Adick (1992) ihre These von der „Universalisierung“ der Schule auch am Beispiel westafrikanischer Gesellschaften belegen, die im 19. Jahrhundert – ohne unmittelbaren Druck von Kolonialmächten – Pflichtschulsysteme eingeführt haben.

Die weltweite Institutionalisierung der Erziehung kommt zunächst in der Pflichtschule zum Ausdruck, im bzw. seit dem 20. Jahrhundert betrifft sie auch die vorschulischen Erziehungsinstitutionen, allerdings nur in den hoch entwickelten Gesellschaften (vgl. UNESCO 2007).

Die vor Beginn der Schulpflicht angesiedelte Bildungsstufe trägt unterschiedliche Bezeichnungen. In Deutschland hat sich die 1970 vom Deutschen Bildungsrat in seinem „Strukturplan“ vorgeschlagene Bezeichnung Elementarbereich durchgesetzt. Die zum Elementarbereich gehörenden Bildungseinrichtungen heißen Tageseinrichtungen für Kinder; unter diesen Sammelbegriff werden diejenigen Einrichtungen subsumiert, welche unter 3-jährige Kinder (Kinderkrippen), 3–6-jährige Kinder (Kindergärten) sowie Kinder in der Altersspanne 0–10 oder 0–12 (Kinderhäuser) erfassen.

1.3 Innere Widersprüche der Institutionalisierung der Erziehung: Entdeckung und Kolonialisierung der Kindheit

Die Institutionalisierung der Erziehung hat dazu geführt, dass die nachgeburtliche Lernphase des menschlichen Nachwuchses wesentlich länger andauert als bei den übrigen Primaten. Im Vergleich mit früheren Geschichtsepochen hat sie bewirkt, dass Kinder nicht mehr allein in verwandtschaftlichen und lebensweltlichen Beziehungsnetzen, sondern außerdem in systemischen Strukturen aufwachsen. Die Pflichtschule repräsentiert eine soziale Organisation, die auf Zwangsmitgliedschaft aufbaut und durch das Jahrgangsprinzip, das Leistungsprinzip und unpersönliche Beziehungen gekennzeichnet ist. Das Lernen ist auf diesem Wege gleichsam zur Arbeit der Kinder geworden. Und wie die Arbeit der Erwachsenen rational organisiert wird in Fabriken und Büros, so werden Erziehung und Lernen rational organisiert in Schulen. Um diesen, an die kritische Gesellschaftsanalyse von Coleman (1986) anschließenden Gedankengang noch um einen Aspekt zu erweitern: Wie die Kinder in der Arbeitswelt der Erwachsenen nichts verloren haben, haben die Erwachsenen nichts verloren in der Arbeits- sprich: Lernwelt der Kinder, es sei denn sie sind berufliche Erzieher/innen. In dieser Sichtweise hat die lebensalterbezogene Institutionalisierung der Erziehung zur Folge, dass es in der Gesellschaft zu einer Trennung zwischen den Generationen kommt; die einzige Ausnahme von dieser „asymmetrischen“ Struktur der Gesellschaft (Coleman 1986) bildet die Familie, denn sie repräsentiert kein unpersönliches, sondern ein personorientiertes soziales System und führt ihr Leben in einem Generationenverbund (vgl. Kapitel 4.4).

Auch wenn man die hier referierte Sichtweise nicht teilt, machen die damit zusammenhängenden Überlegungen doch deutlich: Die Institutionalisierung der Erziehung sowie die untrennbar damit verbundene Professionalisierung sind zu zentralen Themen der Pädagogik der frühen Kindheit geworden. Und außerdem haben diese Überlegungen etwas bestätigt, was jedem klar ist, der darüber nachgedacht hat, wie er erzogen worden ist und welche Erfahrungen er mit der Erziehung seiner Kinder oder auch mit seiner akademischen Lehrtätigkeit gemacht hat: Die Erziehung und die Formen ihrer Institutionalisierung sind kein eindeutiges und eindeutig bewertbares, sondern ein mehrdeutiges und in sich widerspruchsvolles Phänomen. Dies hat sich bereits an dem Hinweis darauf gezeigt, dass das Pflichtschulsystem davon ausgeht, dass die Kinder in einer bestimmten Lebensphase zur Mitgliedschaft gezwungen sind. Niemand wird bestreiten, dass der (pädagogische) „Sinn“ der Pflichtschule wohl kaum in ihrem Zwangscharakter aufgesucht werden kann. Die Aufklärungspädagogen haben die allgemeine Schulpflicht gefordert in der Erwartung, die schulisch organisierte Erziehung könne dazu beitragen, dass alle Kinder zum Gebrauch der – in ihnen als Potentiale angelegten – Vernunft und Freiheit gelangen. Der Widerspruch zwischen diesen Zielen und dem Zwangscharakter der Pflichtschule begründet, wie die Aufklärungspädagogen wussten, das zentrale Dilemma oder Paradox der Erziehung. Kant hat es in die Frage gekleidet: „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?“.

Die Frage danach, wie die Institutionalisierung der Erziehung zu bewerten sei, kann, wie die vorausgegangenen Überlegungen gezeigt haben, nicht allgemein und abstrakt, sondern nur mit Bezug auf bestimmte Kriterien beantwortet werden. So erscheint einerseits – am Beispiel der Frühpädagogik illustriert – die Institutionalisierung der Erziehung dann, wenn sie den lebensgeschichtlichen Kontext für „spielendes Lernen“ bildet (Largo/Benz 2003, Samuelsson 2004), unter dem Kriterium der optimalen Anpassungsfähigkeit des menschlichen Nachwuchses an komplexe und sich verändernde Umwelten als wichtiges Ergebnis der bio-kulturellen Evolution (vgl. Papousek 2003).

Andererseits illustriert das Beispiel der historischen Kindheitsforschung, dass auch empirische Untersuchungen je nach den gewählten Kriterien zu unterschiedlichen oder sogar gegensätzlichen Bewertungen der untersuchten Wandlungsprozesse gelangen können: Während de Mause (1977) den Wandel der Kindheit als Fortschrittsgeschichte beschreibt, die von einer willkürlichen Behandlung (einschließlich Kindestötung) zu einer immer stärkeren Berücksichtigung von und Einfühlung in die besonderen Bedürfnisse, Interessen und Rechte der Kinder verläuft (zu diesen zählt auch das Recht auf Bildung), beschreibt Aries (1975) eine Zerfallsgeschichte der Kindheit, die von der ursprünglichen Einbindung der Kinder in die Gemeinschaft der Erwachsenen zur Trennung zwischen der Welt der Kindheit und der Erwachsenenwelt geführt hat (vgl. Behnken 2006).

Angesichts der aufgezeigten Bewertungsunterschiede liegt es nahe, die Institutionalisierung der Erziehung als ein Phänomen zu betrachten, in welchem eine innere Widersprüchlichkeit der kulturellen Evolution zur Wirkung gelangt. Dies würde bedeuten, von der Annahme auszugehen, dass in der Institutionalisierung von Erziehung – ähnlich wie in allen Bildungsprozessen (vgl. Heydorn 1989) – eine unauflösbare Bipolarität zwischen Potentialen der Befreiung und Potentialen der Beherrschung und Unterdrückung strukturell angelegt ist.

Von „Kolonialisierung“ der Kindheit könnte man beispielsweise dann sprechen, wenn Kinder und Kindheiten für Zwecke des Staates oder gesellschaftlicher Interessengruppen instrumentalisiert werden; dann zum Beispiel, wenn sie im gesellschaftlichen Diskurs nur noch in der Perspektive des künftigen „Humankapitals“ der Gesellschaft behandelt werden, oder dann, wenn im Zeichen der „Kommodifizierung“ der Kindheit über Kinder primär als Kunden, Konsumenten und künftige Arbeitskräfte öffentlich geredet wird; oder auch dann, wenn im pädagogischen Beziehungsgeschehen in der frühen Kindheit das „spielende Lernen“ (s. Abschnitt 2.4) durch formalisierte und erwachsenenzentrierte Formen des Lehrens und Lernens verdrängt oder ersetzt werden. Ein letztes Beispiel: Die Jahrestagung 2007 der Sektion Kindheit in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie war dem Thema „Staat, Experten, Privatheit – Kindheit zwischen Fürsorge und Zugriff“ gewidmet; zum Aspekt „Zugriff“, welcher der hier gewählten Kategorie der „Kolonialisierung“ nahe kommt, werden beispielsweise „Bemühungen zur Mehrung von Humankapital wie auch zur Sozialdisziplinierung“ genannt (Deutsches Jugendinstitut 2007, S. 3).

1.4 Innere Widersprüche der Erziehungs- und Betreuungspolitik: Investitionen in das künftige Humanvermögen und/oder Durchsetzung der Rechte der jeweils gegenwärtig lebenden Kinder

Der Ausbau und die qualitative Verbesserung der frühpädagogischen Angebote (insbesondere Tageseinrichtungen für Kinder) sind in Deutschland und weltweit in den letzten Jahrzehnten zu einem Schwerpunkt der (staatlichen) Sozial- und Bildungspolitik erklärt und gemacht worden. Dabei richten sich die Erwartungen einerseits darauf, dass frühpädagogische Einrichtungen Aufgaben der Betreuung der noch nicht schulpflichtigen Kinder übernehmen und es auf diesem Wege den Eltern erleichtern, sich für ein Leben mit Kindern zu entscheiden und eine befriedigende Balance zwischen Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit zu finden (s. auch Kapitel 3.4). Andererseits richten sich die Erwartungen darauf, dass frühpädagogische Einrichtungen Aufgaben der Bildung wahrnehmen und allen Kindern in der Lebensphase der intensivsten Lernprozesse angemessene Unterstützung und Anregung zukommen lassen. In allen hoch entwickelten Ländern sind die frühpädagogischen Einrichtungen zur ersten Stufe des öffentlichen Bildungssystems ausgebaut worden. Auf dieser vor dem Beginn der Schulpflicht angesiedelten Bildungsstufe sind immer wieder Förderprogramme (z. B. das Head Start-Projekt in den USA und das Sure start-Programm in Großbritannien) unter der Zielsetzung aufgelegt worden, die Benachteiligung von Kindern aufzuheben oder wenigstens abzuschwächen, die in Familien aufwachsen, die von wirtschaftlicher und Bildungsarmut geprägt sind. Eine in diesem Sinne „kompensatorische“ Erziehung und Förderung kann, wie die einschlägige Forschung zeigt, ansatzweise Erfolg haben, allerdings nur dann, wenn entwicklungsgemäße Förderprogramme nicht auf die frühpädagogischen Einrichtungen beschränkt bleiben, sondern auf den darauffolgenden Stufen des Bildungssystems eine angemessene Fortsetzung finden, und wenn die Programme/Projekte nicht nur die Kinder, sondern auch deren Eltern einbeziehen und zur Verbesserung der Lebensverhältnisse und des Anregungsmilieus der Familien beitragen (vgl. z. B. Bronfenbrenner 1987; Chazan-Cohen 2007).

Wenn den frühpädagogischen Einrichtungen ein hervorgehobener Stellenwert innerhalb der staatlichen Bildungspolitik zugeschrieben wird, so lassen sich für eine solche Prioritätensetzung unterschiedliche Argumente zur öffentlichen Rechtfertigung der dafür notwendigen Investitionen nachweisen. Dabei treten insbesondere zwei Argumentationsmuster hervor (vgl. Shonkoff/Philipps 2000, S. 3):