Die Entdeckungen der von Sigmund Freud begründeten Psychoanalyse haben zu der Annahme einer zentralen psychischen Energie geführt, die Freud als „Libido“ bezeichnete, in der sich der Sexualtrieb äußert und die all jene seelischen Phänomene hervorruft, die wir im täglichen Sprachgebrauch „Liebe“ nennen. Die Libido ist jene Kraft, durch die es dem Individuum gelingt, Liebesobjekte zu entdecken und sich an sie zu binden, aber auch, sich wieder von ihnen zurückzuziehen; beides kann befruchtend oder aber zerstörend wirken – wie Ebbe und Flut.
Das Thema dieses Buchs hat sich gleichsam aus meinem 2006 erschienenen Buch „Die Melodie des Abschieds – Eine psychoanalytische Studie zur Trennungsangst“ herauskristallisiert. Während dort die Trennung mit ihren unzähligen Facetten im Mittelpunkt stand, ist es im Gegensatz dazu in „Ebbe und Flut“ die Bindung. Der Untertitel „Gezeiten des Eros“ spielt auf Freuds resümierendes Konzept vom Lebens- und Todestrieb an: Eros ist in diesem Sinn nicht als mythologische Figur, sondern als eine basale psychische Funktion zu verstehen.
Die antagonistischen seelischen Vorgänge, die den Phänomenen der Liebe zugrunde liegen, sind hochkomplex, laufen unbewusst ab und sind miteinander verknüpft. In der heutigen Psychoanalyse sind die Phasen der Triebentwicklung und die Objektbeziehungen nicht voneinander zu trennen. Die Triebentwicklung beinhaltet auch die Vorstellung der Regression sowie der Reparation nach Fehlentwicklungen und traumatischen Erlebnissen. Der frühere Wettstreit, ob der Trieb oder die Objektbeziehung wichtiger wäre, ist überflüssig geworden aufgrund der Erkenntnis, dass es keinen Trieb ohne Objekt und kein Objekt ohne Trieb gibt und dass die Integration unterschiedlicher Aspekte und Akzentuierungen am weitesten trägt.
Während es aus vielerlei Gründen schwierig ist, die laufenden Arbeiten unserer zeitgenössischen Psychoanalytiker in aller Welt einer entsprechenden endgültigen Würdigung zu unterziehen, sind etwa die Namen von Michael Balint, Wilfried Bion, Melanie Klein, Jacques Lacan und Donald Winnicott schon „Klassiker“ moderner psychoanalytischer Literatur geworden. Verschiedene Konzepte eröffnen unterschiedliche Zugänge zur psychischen Wirklichkeit. Für das theoretische Verständnis und die Weiterentwicklung der Psychoanalyse ist das Durchdenken dieser Konzepte unerlässlich. Es gehört zu der fundierten langjährigen theoretischen und praktischen Ausbildung von Psychoanalytikern1, dass sie möglichst alle wesentlichen bis jetzt erarbeiteten psychoanalytischen Konzepte kennengelernt haben. Einige davon, die ihnen besonders einleuchtend und nützlich erscheinen, werden sie bevorzugt verwenden. Sie bilden ein Netzwerk, das dicht, aber auch luftig genug sein sollte, um die persönlichen Erfahrungen des Analytikers mit den Seilen der Theorie zu verknüpfen. Wenn dieses Netz durch den Analysanden in Schwingung versetzt wird, dient es dem Analytiker für das Abfedern seiner eigenen Einfälle, die – so ist zu hoffen – oft zu hilfreichen Deutungen werden von dem, was gerade im Analysanden vorgeht. (Wenn dieses Bild Assoziationen von Trampolin, Sicherheits-, aber auch Spinnennetz hervorruft, so zeigt das genau die anregenden und fördernden, aber auch die einschränkenden, hemmenden Aspekte einer Theorie.)
Wie alle Hilfsvorstellungen hat auch das triebtheoretische psychoanalytische Modell Grenzen in seiner Anwendbarkeit und es ist wichtig, nicht zu vergessen, dass der Energiebegriff dabei als Metapher und nicht als physikalischer Terminus verwendet wird. In meinen Ausführungen möchte ich jedenfalls – wie ja schon der Buchtitel andeutet – nicht auf diese von Freud eingeführte Energiemetapher verzichten, wie das etwa Müller-Pozzi in seiner „Triebtheorie für unsere Zeit“ (2002, 14) versucht, sondern sie auf phänomenologischer Ebene besonders ausführlich heranziehen und sie neben dem ebenfalls sehr wichtigen Begriff der Besetzung nutzen, der ja ebenfalls die Vorstellung einer wirkenden Kraft beinhaltet. Der Vorteil der Beibehaltung triebtheoretischer Begriffe besteht meines Erachtens darin, dass so die Lebendigkeit, die Spannungen und Bewegungen der seelischen Vorgänge besser veranschaulicht und verstanden werden können.
In diesem Buch wird es nur am Rande um abstrakte Systeme metapsychologischer Gesichtspunkte gehen. Die Theorie soll lediglich dazu dienen, den Blick zu weiten. So ist es beispielsweise leichter zu sehen, dass sowohl die Besetzung eines Liebesobjekts als auch der Abzug der Besetzung gut oder schlecht sein kann; man wäre vielleicht rascher geneigt, Eros als Repräsentanten des Lebenstriebs nur positiv und den Todestrieb mit seinen Manifestationen der Auflösung oder Zerstörung von Bindung nur negativ zu betrachten. Tatsächlich aber gibt es auch Bindungen, die uns schaden, und Lösungen, die uns Weiterentwicklung ermöglichen. So wie eben Ebbe und Flut bergen auch Bindung und Auflösung, das Hinstreben zu einem Objekt ebenso wie das Zurückweichen, sowohl lebensbejahende positive als auch zerstörerische Entwicklungsmöglichkeiten in sich.
Wird der Fluss seelischer Energie blockiert, entstehen mannigfaltige psychische und/oder somatische Krankheitsbilder. In der Psychoanalyse, in der heute mit differenzierteren Diagnosen und Techniken gearbeitet werden kann als zur Zeit ihrer Entstehung vor etwas mehr als hundert Jahren, wird auf spezifische Weise ein Freiraum angeboten, um seelische Entwicklung nachzuholen bzw. verständlich zu machen. Dadurch wird Änderung möglich und der enge, wenn auch meist verdeckte Zusammenhang von Körper und Seele, wird ebenso sichtbar wie die Verflechtung von Gesundem, das im Kranken zu entdecken ist, und Krankem, das im Gesunden stecken kann.
Die möglichst exakte und anschauliche Beschreibung seelischer Phänomene soll im Mittelpunkt dieser Studie stehen und einen Einblick in den Verlauf von psychoanalytischen Behandlungen ermöglichen. Anhand der Praxis der Psychoanalyse sollen einige wesentliche psychoanalytische Konzepte lebendig und leichter verständlich werden.
Ich beschränke mich im Wesentlichen auf die Autoren, die für mich und meine Arbeit besonders wichtig geworden sind. Ihre Zitate habe ich wegen ihrer sprachlich oft sehr eindrucksvollen Prägnanz an vielen Stellen im Original angeführt; wo es sich um schwierigere oder längere Textstellen handelte, habe ich sie aus dem Englischen übersetzt.
Die ausführlichen Falldarstellungen in diesem Buch zeigen, wie die Psychoanalyse in der Praxis zu einem neuen seelischen Gleichgewicht führen kann. Den Patienten, die mit den unterschiedlichsten klinischen Diagnosen zur Psychoanalyse kamen (Panikattacken, Sexualstörung, Angstneurose, Depression, narzisstische Persönlichkeitsstörung, Borderline etc.) war am Ende einer gelungenen psychoanalytischen Behandlung eines gemeinsam: Sie hatten jemanden oder etwas – wieder oder erstmals – zu lieben begonnen.
In diesem Sinn soll dieses Buch auch Mut machen, sich einer Psychoanalyse zu unterziehen, wenn sie notwendig und möglich ist. Darüber hinaus ist es natürlich auch für Leser gedacht, die primär aus beruflichen Gründen (Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten, Pädagogen, Sozialberufe, Studierende dieser Fachrichtungen) am therapeutischen Potential der modernen Psychoanalyse interessiert sind. Professionalisierung ist oft ein hochinteressanter und lohnender Umweg zu der Erkenntnis, dass man sich aus äußerst persönlichen Gründen für dieses Thema interessiert.
Ich danke meinem Verlag W. Kohlhammer GmbH, insbesondere Dr. Ruprecht Poensgen, meiner Lektorin Ulrike Merkel und allen anderen, die mich zu diesem Buch ermutigt haben.
Mein besonderer Dank gilt Dr. Maisa Khalil, die mich bei der Fertigstellung des Manuskripts in allen EDV-technischen Fragen äußerst kompetent und mit wohltuender und erfrischender Freundlichkeit unterstützt hat.
1 Die Zugehörigkeit eines Psychoanalytikers zur Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV oder englisch IPA) kann potentiellen Patienten oder Ausbildungskandidaten eine gewisse Orientierungshilfe sein und nachweisen, dass es sich nicht um einen der vielen selbsternannten „Analytiker“ handelt, die ihre „Begabung“ als Ersatz für eine solide Ausbildung nehmen, sondern um jemanden, der nach den sorgfältigen Kriterien der IPV ausgebildet wurde. Diese dreiteilige Ausbildung, die aus einer mehrjährigen eigenen Psychoanalyse, aus Theorieseminaren und einer dichten Supervision während der ersten Praxisjahre besteht, ist keine absolute, aber doch eine relativ verlässliche Garantie, dass gute Voraussetzungen für das Gelingen einer Psychoanalyse gegeben sind. Viele Psychoanalytiker führen auf ihrer Visitenkarte den Zusatz IPV oder IPA an.
Basierend auf Sigmund Freuds innovativen und revolutionären Entdeckungen wurden in den letzten hundert Jahren psychoanalytische Konzepte weiterentwickelt. Es sind Hilfsvorstellungen und Modelle, mit denen wir seelische Vorgänge studieren und unser Verständnis erweitern können. Sie werden, wie in jeder lebendigen Wissenschaft, durch neuere nachfolgende Konzepte ergänzt und überprüft, wobei allerdings besonders darauf zu achten ist, dass erobertes Wissen nicht wieder verlorengeht. Das wäre z. B. der Fall, wenn man die wichtigen, durch Beobachtung gewonnenen Forschungsergebnisse der Bindungstheorie nach J. Bowlby (welche die grundlegende Bedeutung des frühesten Mutter-Kind-Dialogs für den Aufbau der inneren Welt des Kindes und seine Affektregulierung nachweist) benutzen würde, um die Triebtheorie mit ihren Kerninhalten (wie die infantilen Sexualität, die libidinösen Besetzungsvorgänge oder die unbewussten Phantasien) fallen zu lassen, weil sie nicht so leicht direkt empirisch zugänglich sind. So verweist z. B. Gertraud Diem-Wille (2009, 160), darauf, dass die Bindungstheorie durch „Weglassung der tiefen Dimensionen der Sexualität und des Todestriebes, der Phantasie und des dynamisch Unbewussten“ besonders leicht rezipiert wurde und große Verbreitung fand. So betrachtet hat diese Theorie nur noch wenig mit Psychoanalyse zu tun. Peter Fonagy und Mary Target versuchten eine Synthese zwischen Bindungstheorie und Objektbeziehungstheorie.
Es führt uns jedenfalls weiter, die unterschiedlichen theoretischen Modelle miteinander in Beziehung zu setzen und sie womöglich zu integrieren, damit sie einander ergänzen und gegebenenfalls korrigieren können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jeder theoretische Standpunkt nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit in den Blick bekommt.
Eine weitere Einschränkung besteht darin, dass unser Wissensdrang immer wieder durch emotionale Faktoren wie Wünsche und Ängste gefährdet ist, die unbewusst zum Übersehen von Wahrnehmbarem oder zur Verleugnung von Wahrgenommenem führen können. „Wir alle heften unsere Überzeugung an Denkinhalte, in denen Wahres und Falsches vereint ist“ (Freud 1907, 108). Oft lassen wir zugunsten einer scheinbar besseren, sichereren oder einfacheren Erklärung unbemerkt ältere Erkenntnisse wieder fallen, wir „vergessen“ sie wieder, und Neugierde wird wieder durch Unwissenheit ersetzt: „There always seem to be two different movements simultaneously taking place within the act of knowing: an unconscious denial of that which has been consciously gained“ (Kohon 1999a, 170). Wir werden bereits hier auf widerstreitende Kräfte aufmerksam. So wie die Gezeiten aus dem Zusammenwirken von Schwer- und Fliehkräften entstehen und den Meeresspiegel ansteigen und absinken lassen, ist auch unser Wissenspegel Einflüssen ausgesetzt, die zu Täuschungen führen können.
Die Psychoanalyse geht aufgrund ihrer Erkenntnisse davon aus und weist nach, dass wir „nicht einmal Herr im eigenen Hause (sind), sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen“ (Freud 1917, 295) bleiben, was in uns unbewusst – gewissermaßen in unterirdischen, schwer zugänglichen, abgeschlossenen Räumen unseres Seelenlebens – vorgeht. So wie Ebbe und Flut lassen sich auch die gegensätzlichen Kräfte, die in uns wirken, nicht von uns steuern. Dennoch sind wir aber gleichsam nicht ohne „Paddel“, mit dem wir uns auch – manchmal – von unwegsamen Ufern abstoßen oder unserem Treiben eine neue Wendung geben können, wenn wir Gefahren oder anziehende Ziele erkennen. Und wir sind auch in der Lage, Dämme und Kanäle zu bauen, um uns vor Überflutung, aber auch vor Austrocknung zu schützen.
Die zentrale psychische Energie wird in der Psychoanalyse als Libido bezeichnet. Sie äußert sich im Sexualtrieb und umfasst in einem erweiterten Sinn all jene seelischen Phänomene, die wir mit „Liebe“ bezeichnen. Die Libido kann man sich als eine Kraft vorstellen, die sich entfalten, mit Liebesobjekten verbinden und sie umfassen, aber auch sich wieder von ihnen zurückziehen, sie aufgeben und gleichsam „austrocknen“ lassen kann. Denn der Libido wirken Kräfte entgegen, die auf ihre Eindämmung oder Vernichtung zielen, ob sie nun in Form von zerstörerischer Aggression oder stiller Auflösung und Zersetzung wirksam werden. Diese hochkomplexen Vorgänge sind häufig aus psychodynamischen und konflikthaften Gründen aus dem Bewusstsein verdrängt worden.
Freud hat seine Trieblehre mehrfach überarbeitet und dabei unterschiedliche Triebbegriffe verwendet; so spricht er von Lebenstrieb(en), Eros und Liebestrieb einerseits und Todestrieb(en), Destruktions- und Aggressionstrieb andererseits.
Im „Abriß der Psychoanalyse“ fasst Freud seine theoretischen Annahmen zusammen und führt die vielfachen Triebe auf zwei Grundtriebe zurück, die er Eros und Destruktionstrieb nennt. Das Ziel von Eros ist demnach Bindung, während sein Antagonist Entbindung (Auflösung und Zerstörung) anstrebt. Diese beiden Grundtriebe wirken meist miteinander und gegeneinander, sie vermischen sich und erzeugen so die „Buntheit der Lebenserscheinungen“ (Freud 1938, 71). So kann man etwa in den biologischen Funktionen das Zusammenwirken beider beobachten, da z.B. der Akt des Essens eine Zerstörung der Nahrung durch Zerbeißen zum Zweck der Einverleibung bedeutet, oder der Sexualakt in einem Eindringen besteht, das innigste Verbindung anstrebt. Freud verweist auf die Analogie zu diesen Grundtrieben im Anorganischen, wo Anziehung und Abstoßung als entgegengesetzte Kräfte herrschen. Entscheidend ist das Mischungsverhältnis von Eros und Destruktionstrieb: „Ein stärkerer Zusatz zur sexuellen Aggression führt vom Liebhaber zum Lustmörder, eine starke Herabsetzung des aggressiven Faktors macht ihn scheu und impotent“ (Freud 1940, 71).
Es fällt vielleicht sogar in dieser kurzen Zusammenfassung auf, dass hier Aggression und Destruktion nicht von einander unterschieden werden; dieses Problem wurde zum Gegenstand späterer theoretischer Überarbeitungen und wird auch in unseren Überlegungen zu einem Versuch führen, zwischen Aggression und Destruktion zu differenzieren.
Auch dass Freud in dieser Arbeit festhält, dass die Energie des Eros als Libido zu bezeichnen ist, aber für die Energie des Destruktionstriebes eine entsprechende Bezeichnung fehlt, hat spätere Analytikergenerationen beschäftigt. Am umfassendsten ist wohl die Neuformulierung des Triebmodells von Schmidt-Hellerau (1995). Ich greife hier einige ihrer Gedanken auf, die zum Verständnis meiner Fallgeschichten hilfreich sein können. Schmid-Hellerau schlägt in ihrem formalisierten konsistenten Modell der psychoanalytischen Trieb- und Strukturtheorie „Lebenstrieb & Todestrieb – Libido & Lethe“ vor, sich von Freuds Ansicht zu trennen, dass die Aggression ein Charakteristikum des Todestriebs sei, und stattdessen unser Hauptaugenmerk auf die ebenfalls von Freud beschriebenen geräuschlosen, stummen, auf die Ruhe eines Nirwana ausgerichteten Strebungen zu richten. Der Libido des Lebenstriebes stellt sie den Begriff „Lethe“ als Energiebegriff des Todestriebes gegenüber. Lethe bedeutet „Vergessen“ und enthält – wie der gleichnamige Fluss, der in der Mythologie die Welt der Lebenden von der der Toten trennt – „im Bild eines Stromes die Idee eines durch den Trieb gerichteten Energieflusses“ (Schmid-Hellerau 1995, 316). Sprachlich kann uns der Begriff vertraut klingen, wenn wir z. B. an Lethargie oder ein lethargisches Verhalten denken. Im Gegenzug zur libidinösen Besetzung (ein wichtiger Begriff, auf den ich gleich noch näher eingehe) könne man auch „von einer lethischen Besetzung […] oder einer lethischen Tendenz sprechen.“ Letzteren Ausdruck würde ich eindeutig vorziehen, weil „Tendenz“ als ein Streben nach Ruhe und Auflösung stimmiger ist als „Besetzung“, wodurch wieder das gegenläufige Streben nach Bindung und Festhalten ausgedrückt würde. „Lethische Tendenz“ erinnert auch an Freuds Satz: „Das Nirwanaprinzip drückt die Tendenz des Todestriebes aus, das Lustprinzip vertritt den Anspruch der Libido“ (Freud 1924, 373). Der Todestrieb leistet „stumm und unauffällig und in verdrängender Funktion zum lauten Drängen des Lebenstriebs […] seinen Beitrag zum inneren Gleichgewicht des Organismus. So wie der Todestrieb dafür sorgt, dass der Lebenstrieb sich nicht in der unendlichen Weite der Außenwelt erschöpft, sorgt umgekehrt der Lebenstrieb dafür, dass der Todestrieb sich nicht in den stillen Innenwelten eines Nirwana verliert“ (Schmid-Hellerau 1995, 314).
Während es also in der Theorie für die Kraft, die sich in der Liebe äußert und die Vereinigung mit dem Liebesobjekt anstrebt, einen klar definierten Begriff, nämlich „Libido“ gibt, findet man für ihre Gegenspieler auf unterschiedlichen theoretischen Ebenen mehrere Bezeichnungen: Lethe, Indifferenz und Gleichgültigkeit weisen auf die fehlende Besetzung hin, Hass, Aggression und Destruktion auf die zerstörerische Tendenz.
Zunächst taucht im allgemeinen Sprachgebrauch als Gegensatz zu Liebe meist Hass auf.
Hass bindet nicht weniger an ein Objekt als Liebe, und gerade darin liegt manchmal der unbewusste Trick: Wenn man ein vorher geliebtes Objekt aus äußeren oder inneren Gründen nicht (mehr) lieben kann, ist es oft leichter, es zu hassen als es aufzugeben; so kann man es zumindest weiter festhalten, wenn auch mit feindseligen Gefühlen und Phantasien, Nähe ist es immerhin. Ein typisches Beispiel wäre ein „Rosenkrieg“ zwischen Partnern, die sich nicht trennen können.
Aggression fokussiert die Annäherung an ein Objekt; man will es ergreifen und sich seiner bemächtigen, manchmal auch aufgrund der Frustration, dass anders keine Nähe zu ihm zu erwarten wäre. Die Nähe der Aggression zum Hass ist offensichtlich, was tatsächlich zur Zerstörung führen kann. Während „Hass“ stärker die feindselige Haltung ausdrückt, ist bei „Aggression“ der Drang zur Tat deutlicher. Hinter manchen aggressiven Handlungen können sich auch libidinöse Wünsche gut verbergen, denn Aggression sucht – wie Hass – die Nähe des Objekts.
Destruktion will das Objekt vernichten. Selbst wenn die Vorstellung vielleicht nicht so weit gediehen ist, dass die tatsächliche Vernichtung samt ihrer Konsequenz realisiert wird, nämlich dass das Objekt dann nicht mehr da wäre, so sind doch alle Intentionen auf die Auslöschung des Objekts gerichtet. Besonders starr ist die destruktive Zielsetzung dann, wenn das Objekt bewusst oder unbewusst als Bedrohung für das eigene Überleben empfunden wird.
Bei Gleichgültigkeit fehlt die affektive Besetzung des Objekts, es wird weder geliebt noch gehasst. Dem ist entweder nie ein affektiver Bezug zu dem Objekt vorausgegangen, oder es ist aus irgendwelchen Gründen eine Abwendung von ihm erfolgt. Letztere wäre dem von Schmidt-Hellerau eingeführten Begriff Lethe zuzuordnen, der das „Vergessen“ eines Objekts ausdrückt.
Freud stellt in „Triebe und Triebschicksale“ (1915) der Liebe drei Gegenpole gegenüber: Neben dem Hass und der Gleichgültigkeit (Indifferenz) führt er als dritten Gegensatz geliebt zu werden an. Freud weist darauf hin, dass das seelische Leben überhaupt von drei Polaritäten beherrscht wird:
Geliebt zu werden statt zu lieben, also Passivität statt Aktivität, ist demnach auch als Gegensatz zum Lieben zu sehen. Das Ich verhält sich dabei passiv gegenüber dem Objekt und lässt keine Reaktion erkennen. Es ist selbst zum Objekt der Liebe, zum Liebesobjekt, gemacht worden, dessen Subjektivität (ob es die Liebe erwidert, ignoriert oder ablehnt) zunächst nicht erkennbar oder zumindest nicht deklariert ist.
Sowohl bei der Liebe als auch bei der Aggression ebenso wie bei den ihr verwandten Formen Hass und Zerstörung wird das Objekt vom Subjekt stark affektiv besetzt, beim Geliebtwerden ist das handelnde Subjekt (der/die Liebende) ausgeblendet.
Wir haben bereits gesehen, wie fließend die Übergänge sein können und wie sich diese seelischen Phänomene vermischen können. Ein Liebesakt beinhaltet ein kraftvolles Herangehen an das Liebesobjekt, wütende Äußerungen können Liebeswünsche verbergen, Liebe kann in Hass oder Gleichgültigkeit umkippen usw. So unsicher also zunächst die vorherrschende Absicht ist, so eindeutig ist bei der Aggression der Akzent auf der Annäherung. Aggression kommt von aggredi, das heißt im Lateinischen herangehen. Diese Annäherung an ein Objekt kann in feindlicher, aber manchmal auch in begehrlicher Absicht geschehen. Destruere hingegen heißt zerstören und lässt keinen Zweifel an der dominierenden vernichtenden Absicht. Wieder einmal verrät uns die Sprache selbst so viel, bzw. genauer gesagt: Wir haben oft mit unseren Wortschöpfungen bereits einmal ein Wissen fixiert, das wiederum zur Ahnung verblassen oder durch Bedeutungsverschiebungen sogar ganz entschwinden kann; gelegentlich finden wir es dann in der Sprache wieder als etwas, was uns manchmal wie eine von außen kommende Eingebung erscheinen mag.
Wenn das liebende Subjekt und das geliebte Objekt identisch ist, also jemand sich selbst liebt, spricht man von Selbstliebe oder von Narzissmus – nach der mythologischen Gestalt des Narziss, der sich in sein Spiegelbild verliebte und auf den ich später im Kapitel über „My Fair Lady“ und Prof. Higgins noch ausführlich eingehen werde. Auch Selbstliebe steht im Gegensatz zu jener Liebe, die sich auf ein Liebesobjekt richtet.
Zwei bereits verwendete Begriffe verlangen nun genauere Beachtung: Besetzung und Innenwelt; sie hängen eng miteinander zusammen. Die innere Welt wird vom Kind allmählich aufgebaut aufgrund der Erfahrungen, die es mit seinen frühen, engsten Bezugspersonen macht. Mit ihnen erlebt es immer wieder die Befriedigung seiner Bedürfnisse, die wahrgenommen und anerkannt werden. Aber vor allem an seinem begehrtesten „Triebobjekt“, der Mutter, erlebt es auch notwendigerweise immer wieder dessen Abwesenheit, und gerade diese Abwesenheit hat zur Folge, dass das Kind ein inneres Bild, eine innere Repräsentanz des äußeren Objekts errichtet. Durch diesen Vorgang wird die Beziehung zwischen Kind und Mutter verinnerlicht und weniger abhängig von ihrer unmittelbaren Präsenz. Man nennt diesen Prozess Verinnerlichung. „Das verinnerlichte Objekt gewinnt über die momentane Befriedigung hinaus, die es gewährt oder versagt, mehr und mehr Konstanz und wird geliebt […]. Das leitende oder, vielleicht angemessener, das begleitende Gefühl der Verinnerlichung ist die Liebe“ (Müller-Pozzi 2002, 98f.). Die Verinnerlichung kommt durch die libidinöse (oder aggressive) Besetzung des Objekts zustande. Es ist, als ob sich das Kind unmittelbar nach der Befriedigung eines starken, drängenden Bedürfnisses, des Hungers, vornehmen würde: „Das merke ich mir“, schließlich ist es die Quelle der Erfahrung, dass aus dem unangenehmen Gefühl des Hungers das angenehme der Sättigung geworden ist. Zu einem solchen Vorsatz könnte freilich auch eine negative Erfahrung führen, etwa wenn sich ein eifersüchtiges Geschwisterchen dem Baby oft nähert, um es heimlich zu zwicken, dann ist es gut, wenn das Baby das feindlich gesinnte Objekt, das sich nähert, in „Er-innerung“ der erlebten Feindseligkeit rasch wiedererkennt und rechtzeitig zu schreien beginnt.
Wir sehen hier, welche wichtige Konsequenz und Funktion die Trennung und Abwesenheit eines Objekts hat. Was mit dem Merken der Mutter bzw. zunächst nur ihres die Befriedigung spendenden Körperteils, der Brust, beginnt, führt allmählich zum Aufbau einer ganzen inneren Welt von libidinös besetzten Objekten. „Die Vorstellung des Objekts bildet sich in dessen Abwesenheit, der Quelle allen Denkens“ (Green 1990, 189).
Aber nicht nur die Objekte der Außenwelt, auch das eigene Ich wird später in dieser inneren Welt repräsentiert und libidinös besetzt, wie Freud in „Zur Einführung des Narzissmus“ 1914 ausführte. Damit begegnen wir einem weiteren Dualismus, dem von Ich- und Objektlibido, der als Gegensatz erscheint, aber auch wechselseitige Beeinflussung ausübt.
Freud veranschaulichte mehrmals die Besetzungsvorgänge der Libido mit einem Protoplasmatierchen, so z. B. in den „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“: „Denken Sie an jene einfachsten Lebewesen, die aus einem wenig differenzierten Klümpchen protoplasmischer Substanz bestehen. Sie strecken Fortsätze aus, Pseudopodien genannt, in welche sie ihre Leibsubstanz hinüber fließen lassen. Sie können diese Fortsätze aber auch wieder einziehen und sich zum Klumpen ballen. Das Ausstrecken der Fortsätze vergleichen wir nun der Aussendung von Libido auf ihre Objekte, während die Hauptmenge der Libido im Ich verbleiben kann, und wir nehmen an, dass unter normalen Verhältnissen Ichlibido ungehindert in Objektlibido umgesetzt und diese wieder ins Ich aufgenommen werden kann“ (Freud 1916–1917, 431f.). Mit Hilfe dieser Vorstellungen beschrieb Freud seine Libidotheorie, die auch Zustände des normalen Lebens (wie z.B. unseren Rückzug bei organischen Krankheiten oder im Schlaf) aber auch solche Ausnahmezustände wie Verliebtheit erklärt.
Auch der normale Prozess des Trauerns beim Verlust einer geliebten Person lässt sich anhand dieses Gleichnisses gut verstehen: Zunächst wird versucht, das verlorene Objekt, das nicht mehr wie bisher in der Außenwelt existiert, zu retten, indem seine verinnerlichte Repräsentanz überbesetzt wird. Aber damit das Subjekt überleben kann, wird es allmählich die schmerzliche Realität akzeptieren und einsehen, dass es plötzlich kein Pendant mehr in der äußeren Realität für das verinnerlichte Liebesobjekt gibt, und zumindest ein großer Teil der Libido wird wieder ins Ich zurückfließen, um sich womöglich später, wenn der Trauerprozess abgeschlossen ist, nach einem neuen Objekt auszustrecken.
Hauptsächlich stand nun die libidinöse Besetzung im Vordergrund, aber ein Objekt kann auch mit aggressiver Energie besetzt werden, dann ist unter Umständen das gesamte Denken und Fühlen hasserfüllt auf das negativ besetzte Objekt gerichtet. Meist geht es dabei um ein Gefühl der extremen Bedrohung für die eigene Person oder deren Bedürfnisse. Doch es ist auch nicht zu übersehen, dass das Ausleben von Aggression sowohl in der Phantasie als auch in der Realität lustvoll sein kann. Das zuzugeben fällt uns vielleicht nur auf einer sublimierten Ebene leicht, wenn wir uns z. B. die brillante Rede eines Staatsanwaltes vorstellen, der einen Verbrecher zur Strecke bringen will. Die elegante Rhetorik und der „gute Zweck“ sowie die eindeutige Unterscheidung von gut und böse erlaubt es uns dann, die aggressive Schärfe der intellektuellen Glanzleistung zu genießen. Die aggressiven Phantasien oder Handlungen vermitteln oft zumindest vordergründig eine Empfindung von Stärke, sodass Ängste abgeschwächt werden. Ob die Aggression tatsächlich darauf ausgerichtet ist, das Objekt unschädlich zu machen und womöglich zu vernichten, ob es sich also um destruktive Absichten handelt, ist nicht immer leicht zu erkennen. Wir haben schon im Abschnitt über die Liebe und ihre Gegenspieler gesehen, dass Aggression auch dem Festhalten eines Objekts dienen kann.
D. W. Winnicott (1983, 91ff.) hat betont, dass am Beginn des Lebens Aggressivität und Aktivität gleichzusetzen ist. Das kann man leicht verstehen, wenn man an das intrauterine Strampeln des Embryos denkt oder daran, wie das Baby die Mutter in die Brustwarze beißt. Ein gewisser Anteil von Aggressivität bleibt auch im späteren Liebesleben in primitiven Liebesimpulsen erhalten, wie sie z. B. im scherzhaften Beißen oder Herumbalgen beim Vorspiel des Liebesaktes vorkommen. Aktivität kann, muss aber nicht zerstörerisch wirken. Erinnern wir uns an Freuds bekannten Satz, dass ein Zuviel an Aggressivität einen Mann zum Lustmörder, ein Zuwenig ihn impotent machen kann (Freud 1940, 71).
Neben der Frage des Mischungsverhältnisses von Aggression und Liebe ist auch im Hinblick auf die Folgen entscheidend, ob die Aggression bewusst ist. 1950 stellte Winnicott in einem Beitrag zu einem Symposium mit Freuds Tochter Anna Freud seinen Hauptgedanken vor: „Wenn die Gesellschaft in Gefahr ist, liegt das nicht an der Aggressivität des Menschen, sondern an der Verdrängung der persönlichen Aggressivität bei jedem einzelnen“ (Winnicott 1983, 91).
Schon 1939, am Beginn des zweiten Weltkrieges, hatte Winnicott vor Lehrern einen Vortrag über Aggression gehalten (Abram 2007, 18f.). Er zeigte, wie sich früheste Aggression in den Beziehungen zeigt und wie sich gleichzeitig in der inneren Welt des Kindes Aggression in der Phantasie zu manifestieren beginnt. Am Anfang kann man noch nicht von Aggression im eigentlichen Sinn sprechen, selbst wenn das Baby so wild nach der Brustwarze sucht, dass die Mutter blutet und entsetzt ist über das kleine wilde Tier („little beast“), das sie verletzt. Das Baby hat noch keine Intention zu verletzen, die Mutter muss erst langsam zum Objekt, zum Gegenstand seiner Liebe und auch seines Hasses werden. Dann erst kann Aggression integriert werden als nützliche Energie, vorausgesetzt die Umgebung geht „gut genug“ mit den aggressiven Impulsen des Kindes um. „Good enough“ bezieht Winnicott auf die Anpassung der Mutter an die Bedürfnisse des kleinen Kindes: Er betont, dass es keine perfekte Mutter geben kann, nur eine, die entweder eine „good-enough-mother“ oder eine „not-good-enough-mother“ ist; dabei weitet sich allmählich das Spektrum von dem, was genug ist, durch die wachsende Fähigkeit des Kindes, mit Fehlern, Missverständnissen und Frustrationen umzugehen. Winnicott relativiert damit die Begriffe der guten und der bösen Mutter, die Melanie Klein in ihren Konzepten verwendete und die sich auf verinnerlichte Objekte beziehen und nichts mit den realen Müttern zu tun haben: „Nothing to do with real women“ (Winnicott, zit. nach Abram 2007, 221). Dieses Auseinanderhalten der inneren und der äußeren Realität ist und bleibt das ganze Leben von entscheidender Bedeutung. Die Mutter erlebt zwar subjektiv das Baby, das ihr nach all den Belastungen, Ängsten und Schmerzen der Geburt so weh tut, als aggressives, böses „little beast“, aber es ist in Wirklichkeit nicht aggressiv, wozu ja nach unserem üblichen Sprachgebrauch eine feindselige Absicht gehört. Wenn das Baby vielleicht einmal die hungerstillende Brustwarze nicht gleich findet, kann es ebenfalls die unauffindbare Brust bzw. die Mutter als böse erleben, sobald sich allmählich das Gegenüber zum Objekt geformt hat. Und doch ist die Mutter keineswegs böse, nur betroffen und erschrocken, sowohl über die wilde Gier des kleinen Lebewesens als auch über ihren eigenen Hass, der sich unweigerlich manchmal regen wird, auch wenn sie die Zähne zusammenbeißt, um still zu halten und eine „gute Mutter“ zu sein. Was die Mutter unweigerlich als Aggression empfinden muss, ist für den Säugling Zufall und nicht beabsichtigt. Wie die Mutter reagiert, wenn sie sich von ihrem Baby feindselig angegriffen statt geliebt fühlt, hängt natürlich unter anderem stark damit zusammen, wie sie die Schwangerschaft und die Geburt erlebt hat. „Die Geburt selbst ist für die Mutter ein überwältigendes Geschehen, das von ihr verlangt, sich ihrem eigenen Körper in einer Weise anzuvertrauen, die unvergleichlich zu allen sonstigen Körpererfahrungen ist. Das subjektive Erleben dieser Verselbstständigung des Körpers, verbunden mit der schweren Arbeit und den Schmerzen, reicht von einem beglückenden Gefühl der Erfülltheit bis zu traumatischen Reaktionen“ (Krejci 1999, 29)2. Diese Verselbstständigung des eigenen Körpers beschreibt Inge Merkel in ihrem Roman „Eine ganz gewöhnliche Ehe“ aufs eindrucksvollste, wobei sie es mit der Ahnung der Gebärenden verbindet, dass man auch beim Sterben so allein sein wird mit sich, „eingefangen in das Geschehen, das ohne ihr Zutun vorging in ihrem Körper. Sie war allein mit ihrem Fleisch, […] trotz allen Gewaltes und Geweses um einen herum, […]. Im Banne gespannten Schreckens horchte sie in sich hinein auf den Kampf des würgenden Gefäßes, das sie selbst war, und gleichzeitig auf die Erstickungsnot des kämpfenden Lebens in ihr, das auch noch sie war und doch nicht mehr ganz sie selbst“ (Merkel 1994, 48f.).
Die meisten Mütter wollen eine gute Mutter sein, so sie nicht selbst zu schwer geschädigt worden sind, und sie sollen es auch in ausreichendem Maß sein, damit sich beim Kind die notwendige Illusion einer guten Brust, einer guten Mutter ausbilden kann. „The best a real woman can do with an infant is to be sensitively good enough at the beginning so that illusion is made possible to the infant at the start that this good-enough mother is ‚the good breast‘“ (Winnicott, zit. nach Abram 2007, 221). Abram verweist darauf, dass Winnicott an anderer Stelle die Notwendigkeit dieser Illusion erklärt: Sie gibt dem Baby ein Gefühl von Omnipotenz, es ist fähig, sich das Objekt zu schaffen, das es braucht. Wir werden im Kapitel von Pygmalion („My Fair Lady“) darauf zurückkommen.
Eine ausreichend den Bedürfnissen angepasste Umwelt kann also in der Entwicklung des Kindes dazu führen, dass es seine aggressiven Regungen nützt, um etwas Konstruktives zu schaffen. Auf diesen Aspekt konzentriert sich Thomashoff (2009) in seiner „Versuchung des Bösen“, indem er zeigt, dass das Umsetzenkönnen von Aggression in „Wirkmächtigkeit“ ermöglicht, der Aggressionsspirale zu entkommen.
Was aber, wenn die Umwelt nicht in der Lage ist, sich gut genug an die Bedürfnisse des Kindes anzupassen? Dann reagiert sie entweder gar nicht, was die Aggressivität des Kindes verstärken muss, oder sie unterdrückt und bestraft die aggressiven Impulse und zwingt damit das Kind, diese zu verleugnen und zu verbergen, sie „abzuspalten“ und so zu tun, als würden sie nicht zu ihm gehören. Aber ins Unbewusste verdrängte Regungen sind nicht weg, sie kehren später wieder in Form von Gewalt, Destruktivität und antisozialen Tendenzen.
Schon in der Antike wusste man, dass „die Bösen“ das tun, wovon „die Guten“ nur träumen. Der entscheidende Unterschied besteht darin, ob destruktive Handlungen phantasiert oder ausgeführt werden. Eine Unterdrückung aggressiver Phantasien genügt nicht; das Verbot etwa, sich mit aggressionsgeladenen Filmen oder Spielen zu unterhalten, reicht meistens nicht aus und kann sogar den gegenteiligen Effekt haben und wiederum als feindselige Einschränkung erlebt werden, auf die mit gesteigertem Hass reagiert wird.
Die Regulierung der Aggression muss hauptsächlich von innen, nicht von außen kommen, und das geschieht ja auch in einer normalen Entwicklung, die durch eine ausreichende und liebevolle Anpassung an das, was das Kind braucht, genügend gefördert wird. Denn das Kind entwickelt nicht nur gleichzeitig mit dem Entstehen seiner inneren Welt die Fähigkeit zur Aggression, sondern auch zur Liebe und damit zur Fähigkeit, diejenigen, die es liebt, vor seinen aggressiven Impulsen zu schützen. Lassen wir nochmals Winnicott zu Wort kommen: „If it is true, then, that the infant has a vast capacity for destruction it is also true that he has a vast capacity for protecting what he loves from his own destructiveness, and the main destruction must always exist in his fantasy.“ Und Winnicott hebt hervor, dass die triebhafte Aggressivität zwar bald in den Dienst von Hass tritt („mobilised in the service of hate“), dass sie aber ursprünglich ein Teil von Appetit oder einer anderen Form triebhafter Liebe ist („a part of appetite, or some other form of instinctual love“), deren Befriedigung äußerst lustvoll ist: „The exercise of it is highly pleasurable“ (Winnicott 1939, 87f.). Womit auch wieder geklärt ist, warum es nicht genügt, einem Kind das brutale Videospiel, das ein so lustvolles Ausleben von Aggression ermöglicht, aus der Hand zu nehmen: Lust ist stärker als Verbote.
Was die Differenzierung von Aggression und Destruktion betrifft, so wird nun deutlich: Wenn Aggression nicht von Liebe eingebremst werden kann, dann überwiegt der Wunsch zu zerstören aufgrund feindseliger Gefühle wie Hass oder Rache, Neid oder Eifersucht. Krejci (1999, 57) weist auf den Unterschied zwischen dem primären Neid im ersten Lebensjahr und dem erwachsenen Neid hin. Der primäre Neid spielt in Melanie Kleins Darstellung der kindlichen Entwicklung eine große Rolle, er „muß in dem Spannungsfeld zwischen Narzissmus und Objektbezogenheit gesehen werden“, ist nicht reaktiv, sondern die „ursprüngliche Regung des narzisstischen Selbst gegenüber allem Guten […], das man nicht besitzt, während ein anderer es hat, verbunden mit dem Wunsch, dieses Gute – das gute Objekt, das bewundert und geliebt wird – schlecht zu machen“.
Liebe entsteht durch die Befriedigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse, Hass durch ein Zuviel an Frustrationen und Ängsten. Beim Kind wird die Phase der Erbarmungslosigkeit, in der es rücksichts- und absichtslos die Mutter traktiert, abgelöst von einem Stadium der Besorgnis, in dem es die Mutter als eigenständige Person wahrzunehmen beginnt und ihr nicht weh tun will. Wenn es doch passiert, hat es nun Schuldgefühle und will wieder gut machen, was es getan hat. Aggressive Impulse werden zu sozialen Funktionen, das Geben, Aufbauen und Ausbessern wird bedeutsam. Winnicott weist darauf hin, dass soziale Berufe, für die in dieser frühen Phase ein erster Grundstein gelegt wird, nur dann befriedigend erlebt werden, wenn sie gleichzeitig ein (unbewusstes) Schuldgefühl besänftigen, das mit Aggression zu tun hat. Werden beim Kind allerdings seine Versuche der Wiedergutmachung oder seine Geschenke nicht angenommen, entsteht Hilflosigkeit, und es kann zum Rückfall in Aggression kommen.
Während Melanie Klein diese Phase als „depressive Position“ bezeichnet und damit den Akzent auf die bedrückenden Schuldgefühle wegen destruktiver Phantasien legt, die in erster Linie von Neid verursacht werden, betont Winnicott die Fähigkeit des Kindes zur Besorgnis, die zu versöhnlichen Handlungen drängt.
Demnach fokussiert Klein die innere Welt und beleuchtet vor allem die dort stattfindenden Horrorszenarien, während Winnicott zwar auch auf die innere Welt des Kindes schaut, aber gleichzeitig viel mehr deren Färbung beachtet, die durch die Beziehungen des Kindes zu seiner realen äußeren Umgebung zustandekommt. Eine liebevolle, fördernde Umwelt lässt eine weniger düstere innere Welt entstehen als eine, die sich nicht an das Kind anzupassen vermag.
Immer wieder weist Winnicott auf den ursprünglichen positiven Sinn aggressiven Verhaltens hin, wenn er vom anfänglichen „Appetit“, der Impulsivität oder der Spontaneität mancher Regungen spricht, und er zeigt, dass solche Lebensäußerungen häufig zu Unrecht als Aggression bezeichnet werden. Winnicott schaut immer nach Gesundheit aus, wie sie sich auch im Gegensatz zur Pathologie darstellt, und er kritisiert das Pathologisieren von Normalem. Diese seine Haltung, die dem Natürlichen und Gesunden zumindest ebenso viel Aufmerksamkeit einräumt wie dem Unnatürlichen und Krankhaften, ist für mich von grundlegender Bedeutung.
Abram (2007, 26) fasst in ihrem Buch „The Language of Winnicott“ vier Aufgabenbereiche der frühen Entwicklung des Kindes zusammen, die nach Winnicott mit Aggression in Beziehung stehen:
Die Verschmelzung aggressiver und erotischer Komponenten gehört zur gesunden Entwicklung und gelingt nicht immer. Sie ist eine schwierige Aufgabe, die gewöhnlich nicht vollständig zu lösen ist und oft eine Menge Aggression ungebunden lässt.
Aggressive Impulse auszuleben bringt nur dann Befriedigung, wenn von der Umwelt Opposition kommt. Erst dadurch entsteht das Erleben einer äußeren Realität und eines Ichs, das einem Nicht-Ich, einem Objekt also, gegenübersteht. Diese Bedeutung hat der Begriff „Objekt“ in der psychoanalytischen Terminologie, und vielleicht hilft es dem noch weniger mit dieser Fachsprache vertrauten Leser zu verstehen, dass es keineswegs abwertend ist, einen geliebten Menschen als „Liebesobjekt“, d. h. als „Gegenstand der Liebe“, zu bezeichnen. Auch der etymologische Ursprung von „Objekt“ entspricht diesem Sinn: „Ob-iectum“ ist auf Lateinisch „das Entgegengeworfene, das Gegenüberstehende“.
Die impulsive Handlung wird zur Aggression, sobald sie auf Widerstand stößt. Daraus wird erkennbar, dass ein Kind beide Erfahrungen braucht, sowohl die Befriedigung als auch die Opposition. So lernt es die innere und die äußere Welt zu unterscheiden und miteinander in Beziehung zu setzen, und es erfährt sein eigenes Bedürfnis nach der Anwesenheit eines Objekts, nach der mit ihm erlebten Befriedigung und nach seiner Erhaltung.
Winnicott führt hier einen neuen wichtigen Aspekt ein. Während Freud die Lustsuche des Kindes als Motiv für die Zuwendung zu einem Objekt ansah, weist Winnicott darauf hin, dass die Impulsivität und die daraus resultierende Aggression dazu führt, dass das Kind überhaupt ein Objekt in der äußeren Realität erkennt. Es stößt gleichsam auf das Objekt – nicht nur wenn es ihm Befriedigung verschafft – und kann es außerhalb seines Selbst platzieren. Die Phase, in der es noch keine Rücksicht auf das Objekt nimmt, ist eine Vorbereitung einer späteren Fähigkeit zu konstruktiver Aktivität und Kreativität.
In „Aggression, guilt and reparation“ (1960, 139ff.) betont Winnicott, wie wichtig es für jeden Menschen ist zu verstehen, dass der primitive destruktive Drang zur frühen Liebe gehört. Er weiß, dass diese Idee schwer zu akzeptieren ist und erst angenommen wird, wenn dabei ein konstruktiver Zweck in Sicht ist. Dieser ist ein Aspekt des Schuldgefühls und basiert auf der Akzeptanz der eigenen destruktiven Impulse in der primitiven Liebe. Daraus entwickelt sich die Fähigkeit, sich an Ideen selbst dann zu erfreuen, wenn sie Destruktivität und die damit verbundene Erregung enthalten, und diese Entwicklung ermöglicht das Erleben von Besorgnis, die die Voraussetzung für Konstruktivität ist. Winnicott wörtlich: „This development gives elbow room for the experience of concern, which is the basis for everything constructive“ (Winnicott 1960, 142).
Auf das anfängliche Fehlen der Fähigkeit zur Besorgnis wies Freud bereits 1915 hin. Er sprach in seiner Arbeit „Triebe und Triebschicksale“ davon, dass auf der prägenitalen Stufe „das Streben nach dem Objekt in der Form des Bemächtigungsdranges (auftritt), dem die Schädigung oder Vernichtung des Objekts gleichgültig ist. […] Der Hass ist als Relation zum Objekt älter als die Liebe, er entspringt der uranfänglichen Ablehnung der reizspendenden Außenwelt vonseiten des narzisstischen Ichs“, und er betonte, dass Liebe und Hass uns zwar als Gegensätze erscheinen, aber „doch in keiner einfachen Beziehung zueinander“ stehen (Freud 1915, 230f.).
Halten wir abschließend fest: Aggression ist eine energische Annäherung – nach unserem Sprachgebrauch meist, aber nicht zwingend in drohender, feindseliger Absicht. Destruktivität dagegen ist immer mit einer feindlichen, zerstörerischen Intention verbunden.
„Dieses Konzept Freuds verwende ich nicht“, war die verblüffend einfache Antwort eines prominenten amerikanischen Psychoanalytikers, als er in der Diskussion zu seinem Vortrag bei einem psychoanalytischen Symposion in Delphi gefragt wurde, wie er im Zusammenhang mit seinen Ausführungen die Frage des Todestriebs sehen würde.
Ausklammerung ist jedenfalls einer der Wege, mit dem Thema Tod umzugehen, zu dem uns letztendlich in Wirklichkeit allen jede persönliche Erfahrung fehlt, worauf uns bereits Freud selbst aufmerksam gemacht hat. Und deshalb war ich auch versucht, diesem Kapitel Dantes Satz voranzustellen:
„Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren.“
Und doch ist auch das Faktum eines fehlenden eigenen Erlebens zu relativieren; nicht nur aus unseren Beobachtungen der Todesphase anderer, sondern auch aus unseren Phantasien und Ahnungen lässt sich vielleicht mancher stumme Vorläufer von Erfahrung und manche Wahrheit herausfiltern.
Zweifellos aber werden wir hier noch sicherer als sonst auf mehr Fragen als Antworten stoßen. Unsere Phantasien über den Tod sind mit Ängsten oder manchmal sogar mit Wunschvorstellungen verbunden, wir haben den Tod anderer miterlebt und so eine Ahnung einer unwiderruflichen Trennung; diese versuchen manche aufzuheben oder zu lindern, indem sie an ein Leben nach dem Tod glauben. Auf die Funktion der Religionen, Trennungsangst zu absorbieren, bin ich an anderer Stelle (Zwettler-Otte 2006, 93; 161) eingegangen.
Was aber führt, was „treibt“ unaufhaltsam zum Tod? Wir können wohl von vornherein auf die Frage verzichten, ob es allein der körperliche Verfall wäre oder das Seelenleben eine Rolle dabei spielt. Schon Plato hat festgestellt, dass es der größte Irrtum wäre, „wenn Ärzte bei der Behandlung des menschlichen Körpers die Seele vom Körper trennen“ (Plato, zit. nach Stora 2007, 170)).
Freud hat den Begriff des Todestriebs 1920 in „Jenseits des Lustprinzips“ eingeführt und ihn von da an immer wieder bestätigt. In seinem Aufsatz „Warum Todestrieb?“ bezieht sich Laplanche auf diese Arbeit Freuds und bezeichnet sie als den „faszinierendste(n) und am stärksten vom übrigen Werk abweichende(n) Text“, und er schrieb: „Nie zeigt sich Freud so frei und so kühn wie in diesem großen metapsychologischen, metaphysischen und metabiologischen Fresko“ (Laplanche 1985, 156). Die Rezeption von Freuds Todestrieb-Hypothese beschreibt Laplanche folgendermaßen:
„Die erzwungene, verführerische, aber auch traumatisierende