Cover

Karte

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Im Anhang befinden sich zwei exklusive Rezepte.

image

Lust auf mehr? Laden Sie sich die »LChoice«-App runter, scannen Sie den QR-Code und bestellen Sie weitere Bücher direkt in Ihrer Buchhandlung.

© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Die Erstausgabe erschien 2014

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Purple Anvil

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-86358-399-6

Kulinarischer Kriminalroman

Neuausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

 

Für Akka Wolfshohl und Hans-Georg Rabe – danke, dass ihr mir beim Laufenlernen geholfen habt

 

»Es ist mir völlig gleichgültig, wohin das Wasser fließt,
solange es nicht in den Wein läuft.«

Gilbert Keith Chesterton (1874–1936),
englischer Kriminalautor, Erzähler und Essayist

1

Wasser, marsch!

Es war wunderbar, endlich wieder ohne das Geräusch prasselnden Regens aufzuwachen. Julius war es so leid. Vier Tage lang hatte es ohne Unterlass geregnet, und er hatte schon überlegt, ob der Bau einer kleinen Arche sinnvoll sei. Für Anna und ihn, seine zwei Kater sowie sämtliche Lebensmittel aus der »Alten Eiche«.

Also nur das Wichtigste.

Doch obwohl die Regentropfen nun das Hämmern eingestellt hatten, war das Aufwachen nicht vollends positiv. Denn die normalerweise neben ihm schlummernde Anna fehlte, wie auch die meist auf ihm schlummernden Kater.

Die drei schliefen in Heppingen, in seinem schönen, großen Bett mit der Matratze, die sich so perfekt seinem Rücken anpasste. Oder umgekehrt. Julius selbst befand sich in Dernau, im Gästezimmer seiner Cousine Annemarie. Er hörte sie im Nebenzimmer schnarchen. Der komplette Hunsrück hatte über Nacht dran glauben müssen. Das würde er ihr natürlich nicht sagen. Schließlich schnarchten Frauen nicht. Zumindest offiziell. Sie gaben nur süße Grunzgeräusche von sich. Nein, Grunzgeräusche war auch nicht das richtige Wort, es konnte ihn den Kopf kosten. Sägegeräusche? Nein. Brummeln? Auch nicht. Schnorcheln vielleicht? Klang nach Tauchurlaub. Sie gaben sanfte Schlafgeräusche von sich? Das war es! Ganz unspezifisch, da konnte nix schiefgehen!

Es war das erste Mal, dass er Annemaries Gästezimmer in Anspruch nahm. Eine Kammer, die eigentlich ihrer Nähmaschine als Heimstatt diente, aber auch mit einer hellbraunen Schlafcouch versehen war, welche die Festigkeit eines Mürbeteilchens aufwies. Gestern Abend hatte Großtante Edeltraud ihren siebenundneunzigsten Geburtstag in der Dernauer Winzergenossenschaft gefeiert. Sie feierte ihren Geburtstag jedes Jahr groß, denn es konnte ja ihr letzter sein. Und jedes Jahr kamen alle Mann, denn es konnte ja ihr letzter sein. Und jedes Jahr blieb man bis zum Schluss, denn es konnte ja ihr letzter sein. Dabei würde die Frau sicher Jopi Heesters überrunden, und wenn auch nur, um der Familie eins auszuwischen. Julius hatte Anna früher freigegeben und selbst die Stellung gehalten. Halbes Leid war besser als geteiltes Leid. In Fällen wie diesen.

Mit einem missmutigen Brummen drehte Julius sich noch einmal auf die Seite. Doch Annemaries Schlafgeräusche hätten ein Camp kanadischer Holzfäller in pure Versagensängste versetzt, und er konnte nicht ins Land der Träume zurückfinden. Also raus aus der Koje und Frühstück zubereiten.

Während der Chefkoch und Besitzer des Heppinger Sternerestaurants »Zur alten Eiche« die Treppe im gestreiften Pyjama heruntertaperte, strich er sich über die müden Augen. Weswegen er nicht sah, was vor ihm lag. Plötzlich wurden seine Füße feucht, und er stand im Wasser. Genauer gesagt in einer schlammigen braunen Brühe. Wasserrohrbruch, na wunderbar! Dabei war Annemarie erst vor Kurzem in ihr neues Domizil eingezogen.

Das Wasser musste raus, je schneller, desto besser. Deshalb stakste Julius durch die kalte Suppe zur im Hochparterre liegenden Haustür und öffnete sie.

Das Wasser floss allerdings nicht ab.

Ganz im Gegenteil. Es floss herein. Julius beobachtete, wie der Wind es in kleinen Wellen in Annemaries Haus trieb.

Vor ihm lag eine große Wasserfläche.

Keine Straße mehr zu sehen, kein Bürgersteig, nur noch die Dächer der parkenden Autos und braunes Wasser.

Das Ahrtal war zum Meer geworden.

Es wirkte fast idyllisch. Eine Entenfamilie schwamm schnatternd vorbei. Fehlte nur noch eine Insel. Julius liebte Inseln. Und wünschte sich oft auf eine. Warum gab es keine um die Ecke? Aus vielen Fenstern blickten Nachbarn, der von gegenüber winkte ihm sogar fröhlich zu.

»Nicht zu fassen, was? Da rutscht gestern Abend was vom Berg bei Marienthal runter, und wir hier in Dernau kriegen nasse Füße! Das hat die ganze Ahr gestaut, und die Regenfälle über Nacht haben den Rest erledigt. Hoffentlich ist die Annemarie gut versichert.«

Julius nickte. »Besser als die Königin von England.« Dabei hatte er keine Ahnung, wie gut Annemarie versichert war. Normalerweise gab sie ihr Geld nur für Dinge aus, die andere sehen konnten. Die drei großen Ks in ihrem Leben: Kleider, Klunker, Kürschnerwaren. Könnte man Versicherungen um den Hals tragen, hätte sie sicher welche mit einhundert Karat.

Einige Nachbarn hatten ihre Hauseingänge bereits verbarrikadiert und schippten jetzt Wasser in Eimern zu den Fenstern hinaus. Ein junger Mann hatte ein rotes Gummiboot aufgeblasen und paddelte Richtung Mayschoss – vielleicht war dort bereits ein Hafen errichtet worden.

Julius zwickte sich innerlich. Doch es war kein Traum. Dies war eine Welt, die er in- und auswendig kannte und die mit einem Mal doch völlig anders war. Die Skyline Dernaus – sofern man bei einem Zweitausend-Seelen-Ort von so etwas sprechen konnte – war dieselbe. Auch die steilen, jetzt im Herbst mit prallen Reben vollhängenden Weinberge ringsum waren unverändert. Nur die untere Hälfte des Bildes war falsch, weil komplett voll Wasser gelaufen.

Der Wind frischte auf, die Wellen wurden größer und klatschten an Annemaries Hauswände, als wären sie ein Damm. Stöcke trieben mit einem Mal herein, Blätter, ein Falschparker-Knöllchen und auch etwas bedeutend Größeres. Es trieb auf den Eingang des Hauses zu, und Julius war so perplex, dass er automatisch zurückwich und den Platz freimachte, damit es hereinkommen konnte.

Was da mehr unter als über Wasser trieb, hatte Arme und Beine, die allerdings schlaff im Wasser wogten. Es war ein Mann mit streichholzkurzem blondem Haar, ehemals weißen Jeans und einem ehemals weißen Muscle-Shirt. Im Nacken befand sich ein Totenkopf-Tattoo nach Seemannsart. Julius ging nach dem ersten Schock in die Knie und wuchtete den Körper herum, damit der Mann wieder Luft bekam. Doch als er in dessen Gesicht sah, aufgedunsen vom Wasser, darin matte Augen, in denen kein Funken Leben mehr glomm, wusste er, dass es zu spät war. Wie grelle Brandmale befanden sich Lippenstiftspuren über und über auf dem fahlen Gesicht, die von einem wild küssenden Mund stammen mussten.

Julius’ Herz pumpte wie verrückt, und sein Atem stolperte. Er hatte bereits mehr Leichen gesehen, als ihm lieb war, doch jedes Mal jagte ihr Anblick eiskalte Nadeln durch seinen Körper. Jedes Mal tat es ihm so unglaublich leid für das Leben, das geendet hatte. Ob er den Toten kannte oder nicht.

Diesen kannte er.

Martin Schenk. Winzerssohn aus Dernau.

Einst war er Praktikant bei ihm gewesen. Seine Eltern, die Julius schon seit Jahren kannte, hatten darum gebeten. Julius hatte ihn richtig ins Herz geschlossen. Der Junge wollte etwas werden im Leben, wollte etwas bewegen. Wollte hoch hinaus – nun war er tief gesunken.

»Herr im Himmel«, entfuhr es Julius. Viel lauter als gedacht. So laut, dass plötzlich Annemarie an der Treppe erschien. In fleischfarbener Unterwäsche. Es war Stoff gewordene Verhütung. Hundertprozentig sicher.

»Wie siehst du denn aus?«, fragte Julius, dessen Augen nicht wegschauen konnten, wie bei einem Autounfall. Annemaries Anblick riss ihn aus seiner Fassungslosigkeit. »Ziehst du dir bitte was über?«

»Nu stell dich mal nicht so an. Wir sind doch Verwandtschaft. Hast du Armer etwa noch nie eine Frau in Dessous gesehen?«

»Wenn das Dessous sind, dann ist der Altkleidersack die neue Lagerfeld-Kollektion.«

Annemarie warf ihm einen grimmigen Blick zu und zeigte dann auf die Leiche. »Was will der denn hier?«

»Nichts. Er kam nur zufällig vorbei.«

»Der soll ein andermal wiederkommen.«

»Annemarie, er ist tot!«

»Um die Uhrzeit?«

»Ihm wäre es später sicher auch lieber gewesen.« Julius hätte sich am liebsten die Haare gerauft, aber dafür besaß er zu wenige.

»Schieb ihn bitte wieder raus.«

»Meinst du, er macht dir den Teppich dreckig? Oder er könnte dich in … Dessous sehen? Ziehst du dich jetzt endlich an? Oder muss erst der olle Peters von nebenan reinrudern?«

»Schieb den da erst mal wieder in die Strömung. Der soll abtreiben, drei Häuser weiter. Da wohnt die bekloppte Triblewska. Die könnte mal wieder Herrenbesuch vertragen. Hier gehört der nicht hin. Er will doch sicher nicht im Haus einer verwitweten Frau gefunden werden. Wie schnell gibt es da Gerede!«

»Annemarie, du bist über siebzig!«

»Ich bin einundsiebzig. Na und? Musst nicht meinen, mir würde das Mannsvolk nach dem Gottesdienst nicht hinterherschauen. Weißt du, wie viele sich jetzt im Herbst auf dem Friedhof wieder anbieten, mit mir meinen seligen Gatten winterfest zu machen? Glaubst du, die wollen alle nur das Schäufelchen halten?«

Gegen das Ahrtal waren Sodom und Gomorrha wie Kindergärten mit U3-Betreuung.

»Ich werde ihn nicht wieder hinausschieben, sondern rufe jetzt die Polizei.«

»Wer ist es denn überhaupt? Lass mich mal gucken.« Annemarie kam die Treppe herunter. »Das ist doch der Schenk-Junge! Du weißt schon, der diese Ballermann-Partys im Kurpark veranstaltet. Erst vor drei Tagen war da doch so eine. Die Nacht, wo es so doll gewittert hat – fast so schlimm wie letzte Nacht. Der Erhard Schenk ist dem sein Vater, dem das Weingut an der Burgunderstraße gehört. Das ist der große Hagere, weißte bestimmt. Die Frau von dem, die Josephine, die ist ja ganz anders, zentnerschwer. Ich sag immer: Die sieht aus wie Reiner Calmund. Nur mit Locken. Die kann essen, also so was habe ich noch nicht gesehen. Da sollte man lieber die Kinder von der Straße holen, wenn die vorbeikommt. Die zwei haben nur ein Kind, den Martin, also … hatten nur ein Kind. Hat ihnen viel Kummer gemacht. Na ja, jetzt ist er tot. Weißt du jetzt, wen ich meine?«

»Annemarie, ich weiß schon die ganze Zeit, wen du meinst.«

»Warum sagst du denn dann nix?«

»Weil ich fassungslos bin, dass du mich beim Anblick eines Toten über die Essgewohnheiten seiner Eltern aufklärst. Und jetzt rufe ich endlich die Polizei an.« Julius stieg die Treppe wieder hinauf. Als er ein verdächtiges Plätschern hörte und kurz zurückblickte, sah er, dass Annemarie die Leiche mit dem Fuß in Richtung Haustür stupste.

»Annemarie!«

»Was denn? Wollte nur testen, ob er wirklich tot ist.«

»Er liegt die ganze Zeit mit dem Kopf im Wasser.«

»Als ich jung war, konnte ich minutenlang die Luft anhalten. Sie haben mich die Nixe genannt.« Annemarie blickte zur Tür hinaus. »Ach, guck. Die Özdemirs pumpen das Wasser schon raus.« Sie winkte ihnen zu. »Jetzt schießen sie Fotos mit ihren Telefonen. Heutzutage schießt man ja von allem Fotos. Also die Uschi, du weißt schon, dieses Flittchen aus Sinzig, die hat mir Sachen gezeigt, da würde sogar Boris Becker rot werden.«

Julius stellte die Telefonsuche kurz ein.

»Annemarie?«

»Ja?«

»Weißt du, was die Özdemirs gerade fotografiert haben?«

»Na, was für eine blöde Frage. Das Wasser natürlich!«

»Nein. Sondern das neue Pin-up der Seniorenresidenz Waldesruh: die halb nackte Annemarie von gegenüber. Herzlichen Glückwunsch, Sie sind ein Pornostar!«

Es dauerte eine Dreiviertelstunde, bis die Polizei eintraf. Julius nutzte sie, um sich anzuziehen – Annemarie erfreulicherweise auch. Dann wartete er in der geöffneten Haustür. Schließlich ertönte das Röhren von gleich drei motorisierten Schlauchbooten des Katastrophenschutzes, die kurz danach auch zu sehen waren. Sie fuhren langsam, um keine großen Wellen zu verursachen. Seine Frau Anna, Kommissarin bei der Kripo Koblenz, saß im Heck des ersten Bootes und steuerte es, die beiden anderen waren mit jeweils drei Beamten besetzt. Auf dem letzten befand sich eine Bahre mit Anschnallriemen. Anna hatte am Telefon darauf bestanden, zu kommen, obwohl nichts auf einen Mordfall hindeutete. Doch wenn Julius eine Leiche fand, konnte es sich ihrer Ansicht nach nur um Mord handeln.

Anna trug eine Art olivgrüne Anglerhose und darüber einen Bundeswehrparka. Sie warf Julius ein Tau zu und ließ sich die letzten Meter mit ausgeschaltetem Motor zur Haustür ziehen, wo er ihr dabei half, vom Boot zu kommen. Zuerst gab es einen Kuss, der nach frisch gebrühtem Kaffee schmeckte, dann verknotete sie das Tau an der Türklinke. Julius merkte erst jetzt, wie sehr sie ihm beim Aufwachen gefehlt hatte. Es war einfach nicht das Gleiche, wenn er nicht sehen konnte, wie sie sich nochmals brabbelnd umdrehte – und ihm dabei die Decke wegzog.

»Vor dir steht die Futterkellnerin von zwei ausgesprochen unglücklichen und unfassbar hungrigen Katern.«

»Hast du ihnen etwa noch keine Dose aufgemacht?«

»Wann denn? Mein Göttergatte hat mich eben aus dem Bett geklingelt, und dann musste es ratzfatz gehen.«

»Für Frühstück sollte immer Zeit sein. Ob bei Mensch oder Katze! Toter als tot wird die Leiche hier bestimmt nicht. Aber wenn wir Pech haben, gibt es gleich beim Nachhausekommen nur noch eine Katze. Eine doppelt so dicke.«

Anna beugte sich hinunter zur Leiche und fühlte den Puls.

Julius konnte es nicht fassen. »Du kannst mir schon glauben, wenn ich sage, dass er tot ist. Die Leichenstarre ist bereits eingetreten, und blauviolette Totenflecken haben eine Menge Schlusspunkte unter dieses Leben gesetzt. Weißt du, nach all den Jahren mit Mordopfern ist das ein oder andere tatsächlich in meiner dicken Rübe hängen geblieben.« Man konnte sich manchmal nicht aussuchen, was einen das Leben lehrte.

»Er ist dem ersten Eindruck nach ertrunken«, sagte Anna. »Ich sehe zumindest keine Zeichen für Gewalteinwirkung, keine Einstiche, Einschusslöcher, Male von Strangulation. Hast du ihn schon von hinten gesehen?«

»Da war nichts.«

Anna nickte und winkte die anderen Boote herbei. »Ich werde es gleich den Hinterbliebenen mitteilen. Weißt du, wo Martin Schenk gelebt hat?«

»Bei seinen Eltern hier im Ort. Sie haben für ihn das Souterrain ausgebaut. Das wird jetzt natürlich komplett geflutet sein.«

Anna stand wieder auf. »Tauchparadies Dernau.« Sie lächelte gequält. »Egal, ich fahr da jetzt hin, und du, mein dicker Seebär, gehst am besten schnell zurück nach Hause und fütterst unsere beiden Raubtiere. Ich setz dich im Trockenen ab. Mach schon mal das Tau los.« Sie winkte das zweite Boot zu sich. »Ihr könnt den Leichnam jetzt abtransportieren.«

»Dein dicker Seebär kommt mit zu den Schenks.«

Anna schüttelte entschieden den Kopf. »Du weißt, was wir bei unserer Hochzeit vereinbart haben: keine kriminalistische Arbeit mehr! Das ist mein Job. Deiner ist die Küche.«

»Ist ja gar keine kriminalistische Arbeit. Ich führe dich hin. Oder weißt du etwa, wo die Schenks wohnen und wie du mit deinem Bötchen hinkommst?«

Anna blickte ihn lange an, dann knuffte sie ihn in die Seite. »Aber ich sitze am Ruder.«

»Natürlich.« Genau wie zu Hause, dachte Julius.

»Hast du was gesagt?«

»Nee, nix.« Konnte sie jetzt schon seine Gedanken lesen? Gehörte das etwa zur Ehe dazu? Warum hatte ihm das niemand gesagt? Verdammt, er hätte wirklich das Kleingedruckte lesen sollen!

Julius war überrascht, wie sehr das Boot nachgab, als er einstieg, und wie routiniert Anna es steuerte. Fehlte nur noch die Kapitänsmütze.

»Wohin, Maat Eichendorff?«

»Smutje, bitte schön! Erst mal Richtung Pfarrkirche.«

Mit leisem Tuckern steuerte Anna die gut sichtbare Kirchturmspitze an. »Du kanntest ihn gut, den Toten?«

Julius versuchte, genau in der Mitte des Boots zu sitzen, um es mit seinem in harter Arbeit erfutterten Gewicht nicht zum Kentern zu bringen. »Er hat mal bei mir gearbeitet. Und das Tal ist so klein, dass man sich immer wieder über den Weg läuft. Was Vor- und Nachteile hat – je nachdem, wen du wiedertriffst. Ich weiß noch, wie Martin und ich letztes Jahr auf dem Dernauer Weinfest nebeneinandergestanden haben. Es waren noch ein paar andere Leute dabei, und wir haben rumgesponnen, was Martin mit seinem Leben anfangen könnte. Antoine schlug vor, er solle eine Nobel-Currywurst-Bude aufmachen und sie ›Br-Ahr-twurst‹ nennen, FX war für einen Cocktailschuppen, der ›Barb-Ahr-ossa‹ heißt, und ich schlug ›Ball-Ahr-mann-Nächte‹ im Kurpark vor. Allesamt Schnapsideen – im wahrsten Sinne des Wortes.«

Anna wandte sich zu ihm. »Und keiner ist auf die Idee eines Ladens mit allerlei Schaltern namens ›Schaltj-Ahr‹ gekommen?« Sie grinste.

»Nein.« Julius grinste nicht.

»Oder eine Kneipe mit dem Namen ›Absturzgef-Ahr‹?« Anna grinste breiter.

»Auch nicht. Nein.« Julius grinste noch weniger.

»Ihr seid echt Luschen.«

»Ich wusste, dass du das sagst. Mehr Steuerbord. Das ist rechts.«

»Weiß ich doch.«

»Und warum fährst du dann links?«

»Ich fahre eine Schleife. Das ist hübscher so.«

»Da spricht der erfahrene Traumschiff-Kapitän.«

Sie zwickte ihn in seinen körpereigenen Rettungsring. »Kritik am Kapitän ist verboten, sonst Mann über Bord.«

Anna hielt sich in der Mitte der neu entstandenen Dernauer Grachten und streifte weder parkende Autos noch Häuserwände.

»Smutje an Kapitän, Smutje an Kapitän. Die Nächste rechts und dann nur noch geradeaus, das Fachwerkhaus am Ende ist es.« Julius’ Stimme wurde ernst. »Ich kenne Martins Eltern schon sehr lange, soll ich es ihnen lieber sagen?«

»Nein, lass mich mal machen. Es gibt Regeln dafür, wie für praktisch alles im Polizeidienst. Aber danke, dass du es übernehmen wolltest. Und danke, dass du während der Fahrt keine Seemannslieder singst.«

»Ich hatte zuerst an ›Junge, komm bald wieder‹ gedacht – aber das ist im Moment doch ein wenig unpassend. Deswegen nehme ich ›Käpt’n Bay-Bay aus Shanghai‹.«

»Genau so was in der Art hatte ich befürchtet.« Julius gab seine beste Hans-Albers-Interpretation inklusive rollendem »R«:

»Käpt’n Bay-Bay aus Shanghai war ein Rabenvieh,

und hatte er Weiber geladen

nach dem zehnten, zwölften Glas schlug er sich aufs Knie

und brüllte nach ihren Waden!«

Anna schüttelte lachend den Kopf. »Heute singst du Shantys, früher hast du deinen Vorfahren zitiert. Ändert sich noch irgendetwas durch die Ehe? Sag’s mir lieber jetzt.«

Julius warf sich in die Brust. »Ich kann beides! Durch die Ehe werden nämlich lauter neue Applikationen freigeschaltet. Und wer Eichendorff will, der bekommt auch weiterhin Eichendorff:

Die Fisch und Musikanten

Die trinken beide frisch

Die Wein die andern Wasser

Drum hat der dumme Fisch

Statt Flügel Flederwische

Und liegt elend im See

Doch wir sind keine Fische

Das geht gleich in die Höh.«

Dafür bekam er einen Kuss. »Aber jetzt Ruhe, mein Dichterfürstennachfahre.« Sie näherten sich dem Haus der Schenks. Vom Tuckern des Außenbordmotors angelockt, erschienen die Bewohner der nahen Häuser an den Fenstern. Auch bei Nummer vierundfünfzig. Josephine Schenk war eine großformatige Erscheinung, der jedoch jede Lebensfreude abging. Julius hatte gehört, bei den Schenks hinge in jedem Zimmer ein Bild des Gekreuzigten – auch über dem Ehebett. Dort hatte dieser sich angeblich freiwillig kreuzigen lassen.

Anna wandte sich der skeptisch blickenden Frau zu, die aus dem größten Fensterrahmen der ersten Etage blickte, die Arme auf ein Kissen gebettet. »Mein Name ist Anna Eichendorff, Polizei Koblenz, sind Sie Josephine Schenk?«

»Ja.«

»Frau Schenk, es geht um Ihren Sohn Martin.«

»Der ist nicht hier. Den habe ich seit drei Tagen nicht mehr gesehen, seit er zu seiner Ballermann-Party losgefahren ist. Will gar nicht wissen, wo der sich wieder rumtreibt.«

»Ich muss Ihnen eine schlimme Nachricht überbringen. Darf ich reinkommen?«, fragte Anna, obwohl Julius nicht wusste, wie dies möglich wäre. Der Hauseingang lag zu einem guten Drittel unter Wasser. Sie müsste durch ein Fenster steigen.

»Was für eine schlimme Nachricht denn? Schlimmer als das ganze Wasser?« Josephine Schenk lachte trocken. »Was es auch ist, raus damit.«

»Ich möchte das ungern hier draußen machen, vor allen Nachbarn.«

»Ich habe keine Zeit für solche Mätzchen.« Josephine Schenk drehte sich um.

Anna atmete tief ein. »Ihr Sohn wurde tot im Wasser aufgefunden. Noch wissen wir nicht, wie lange er darin gelegen hat, also wann sein Tod eingetreten ist. Auch nicht, wo er gestorben ist oder woran. Das wird die Obduktion ergeben. Sind Sie allein, Frau Schenk?«

Julius wusste von Anna, dass man den Empfänger einer solchen Nachricht möglichst nicht allein lassen sollte. Doch Josephine Schenk gab keine Antwort.

»Ist Ihr Mann bei Ihnen?«

Sie nickte.

Der Blick der alten Frau war trübe geworden, sie blickte aufs Hochwasser, doch eigentlich ganz woandershin.

»Frau Schenk?«

»Ja?«

»Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen? Die Antworten können uns vielleicht helfen, die Todesumstände Ihres Sohnes zu klären.«

»Ja, ja, natürlich.« Josephine Schenks Stimme war dünn wie ein durchgelaufener Teppich.

»Wann haben Sie Ihren Sohn das letzte Mal gesehen und wann das letzte Mal gesprochen?«

Die Antwort kam stockend, doch Josephine Schenk riss sich merklich zusammen. Vielleicht auch, weil mittlerweile einige Nachbarn hinter ihren Gardinen zuschauten. »Auf seiner Party am Donnerstag, also vor drei Tagen. Er war so glücklich, dass viele Leute da waren, so gelöst habe ich ihn lange nicht mehr gesehen.« Durch den Wind drehte sich das Boot leicht, und jetzt erst bemerkte Josephine Schenk den durch Anna zuvor verdeckten Julius.

Plötzlich war das Gesicht der alten Frau so rot, als habe jemand einen Farbeimer darauf entleert, sie riss die Fäuste empor und brüllte in Julius’ Richtung.

»Du! Du hast ihn auf die Idee mit diesen Partys gebracht. Nur Geld verloren hat er damit, nur Unglück hat es ihm gebracht. Und jetzt ist er tot nach einer dieser saudummen Ballermann-Nächte. Warum hast du nicht deinen Mund halten können, Julius? Du weißt doch, wie die jungen Leute zu dir aufschauen. Aber nein, du hast ihm ja diese Flausen in den Kopf setzen müssen. Statt ihn in deinem Betrieb zu übernehmen!«

Julius stand schwankend auf. »Martin passte einfach nicht in die Küche. Ich hab es doch versucht! Und das mit der Ballermann-Nacht war ein Scherz, Josephine, nichts als ein Scherz. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er die Idee ernst nimmt. Niemand hat sie ernst genommen.«

Die Antwort ließ Josephine Schenk nur noch wütender werden. »Martin war also niemand, ja? Was bist du nur für ein Mensch, Julius Eichendorff? Du hättest ihn davon abbringen müssen. Dann wäre er heute nicht tot. Auf dich hätte er gehört. Aber du interessierst dich ja nur für dein Restaurant. Ob es anderen gut geht, ist dir völlig egal, du bist ja ein Spitzenkoch und hast deine Schäfchen im Trockenen. Schämen solltest du dich!«

Anna startete den Motor und setzte zurück, diesmal nicht in langsamem Tempo, sondern so schnell es ging. »Wir halten Sie auf dem Laufenden, Frau Schenk«, sagte sie zu der immer noch zeternden Frau.

Julius war ganz still geworden. Anna legte ihm zärtlich eine Hand auf die Schulter. »Du weißt, dass sie unrecht hat, Schatz.«

Langsam blickte Julius auf. Seine Augen waren glasig. »Wir müssen herausfinden, was passiert ist. Ich möchte dabei sein. Kannst du das verstehen?«

Anne sah Julius lange an, dann nickte sie und küsste ihn zärtlich auf die Wange.

Er wusste, dass zu Hause zwei ausgehungerte Stubentiger auf ihn warteten. Zwar waren Herr Bimmel und Felix Freigänger, aber morgens wünschten die Herrschaften, dass ihre Speisen von den Lakaien zubereitet wurden. Vorher musste Julius aber unbedingt noch einen Blick auf den Erdrutsch werfen – und er war bei Weitem nicht der Einzige, dem es so ging. Die Marienthaler Straße war fast bis Walporzheim zugeparkt, rechts und links wand sich ein bunter Lindwurm aus Autokarossen.

Nachdem Julius ein Plätzchen für seinen geliebten alten VW Käfer gefunden hatte, ein 1950er Modell in Grau-Weiß, mit Brezelfenster und Faltdach, schritt er die Straße mit schnell schlagendem Herzen entlang. Wie sich herausstellte, hatte bereits ein Imbisswagen den Weg hergefunden. »Wurst-Willy« verkaufte schwarze Artefakte in Wurstform an die Schaulustigen. Die Ü-Wagen gleich dreier Fernsehteams hatten noch näher am Geschehen einen Platz ergattert.

Und alles wegen einem Haufen Dreck. Einem riesigen, lang gestreckten Haufen Dreck, wie Julius nun sehen konnte. Er ging bis auf einige Schritte heran, hielt respektvoll Abstand, denn von der Schüttung ging etwas Gefahrvolles, fast Drohendes aus. Sie maß an ihrer höchsten Stelle dreißig und selbst an ihrer niedrigsten sicher noch zehn Meter und verschloss das an dieser Stelle enge Tal wie ein Damm. Die Erde war dunkel, spitze Steine ragten abwehrend aus ihr hervor, wie bei einem militärischen Wall, einer Verteidigungsanlage. Nur dass dahinter keine Garnison ihr Lager aufgeschlagen hatte, sondern sich unvorstellbare Wassermassen stauten, darauf wartend, durchzubrechen und auch diesen Teil des Tals zu fluten. Sie waren gespeist vom sintflutartigen Regen der Nacht und der Ahr, die immer noch mehr Wasser hineinschwemmte.

Die Sonne beschien die unwirkliche Szenerie mit goldenem Herbstlicht, ließ die Schieferstücke im Geröll funkeln wie Diamanten. Der aufgewühlte Boden roch nach dem langen Regen wie ein Konzentrat aus Wald, Moos und Feuchtigkeit. Das Parfum der Erde.

Es mochten rund hundertfünfzig, vielleicht auch zweihundert Menschen sein, die sich vor dem Wall gesammelt hatten. Viele fotografierten mit ihren Handys die Wand aus Erde – oder sich selbst davorstehend, den Daumen gereckt. Wie ein Bergsteiger vor dem Aufstieg. Das Geräusch eines Hubschraubers war zu hören, der kurz danach über ihnen auftauchte und den Wall abflog. An seinem Rumpf prangten die drei Buchstaben eines Kölner Privatsenders.

Julius hielt sich etwas abseits, zu viele kannten sein Gesicht, und er wollte in diesem Moment mit niemandem reden müssen, wollte etwas Zeit haben, um zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Er ließ seinen Blick schweifen. Ringsum war alles wie immer, die reife rote Trauben tragenden Rebstöcke standen fest verwurzelt in der Erde, unbeeindruckt von dem, was um sie herum passiert war, genauso die hohen Bäume an den Nordhängen, wo sich Weinbau nicht lohnte. Doch dann kam die dunkle braune Erde in sein Sichtfeld, die aussah, als habe ein Riese ins Tal geschissen. Vermutlich strunzbesoffen nach dem Besuch eines Weinfestes.

Tief in Julius’ Eingeweiden breitete sich die unangenehme Erkenntnis aus, dass alles sich ändern konnte, nichts wirklich Bestand hatte, ja, selbst Felsen ein Verfallsdatum aufwiesen.

Auch wenn es bedeutend länger als das von Leberwurst war.

Bei Leberwurst musste er sofort wieder an seine beiden Kater denken. Er musste zurückgehen. Sofort.

Ein Mann mit orangefarbener Warnweste sperrte den Schüttungsbereich nun großräumig ab und verscheuchte die Schaulustigen mit einer Art Gebell. »Zurück, Herrschaften, lassen Sie mich meine Arbeit machen! Ja, noch weiter zurück. Oder wollen Sie unter den Erdmassen da beerdigt werden?« Der Westenträger kam bei Julius an. »Das gilt auch für Sie, Herr Eichendorff!«

Er erntete einen fragenden Blick von Julius. »Kennen wir uns?«

»Habe mal einen Kochkurs bei Ihnen belegt, ist aber schon Jahre her. Mit Selberwursten.«

Jetzt erinnerte Julius sich. Leider. Der Mann hieß Schäng, den Nachnamen hatte er vergessen – oder verdrängt. »Sie haben damals eine Schokoladen-Mettwurst gemacht.«

Der Mann boxte ihn auf die Brust. »Die beiden leckersten Sachen der Welt in einer Pelle vereint!«

Es war die schlimmste Wurst gewesen, die Julius jemals gegessen hatte. Es gab einfach Dinge, die passten nicht zusammen. Der ADAC und Statistiken, Uli Hoeneß und Steuerbescheide, Schokolade und Mett. Der Mann hatte damals alle guten Ratschläge in den Wind geschlagen.

»Sie wollten Ihre ›Schomett‹ doch in Supermärkten verkaufen. Was ist da draus geworden?«

»Die Welt war noch nicht reif dafür.« Julius roch in Schängs Atem Mettwurst mit tüchtig Zwiebeln. »Sie wollen bestimmt wissen, was hier los ist, oder? Hat mit einem Ihrer Detektiv-Fälle zu tun, was?« Er blickte sich um, niemand stand in der Nähe. Sein Kollege fuhr mit einem Metallsuchgerät rund hundert Meter entfernt die Schüttung ab. »Ich sag Ihnen alles, was ich weiß, gegen ein Essen in Ihrem Restaurant. Aber mit allem Pipapo, versteht sich. Deal?«

Julius blickte auf den Erdwall, der aussah wie der billige Special-Effect eines RTL-Movies. Er passte einfach nicht hierhin. Und Julius wollte unbedingt wissen, was es mit ihm auf sich hatte. Natürlich würde er das später auch aus den Nachrichten erfahren, doch er wollte nicht warten, die Neugierde war einfach zu groß.

»Deal«, sagte er. »Ist es eine natürliche Schüttung?«

Schäng grinste und zeigte dabei seine Zahnreihen, in denen noch Mettwurstzitzel hingen. »War mir schon klar, dass Sie direkt an so was denken. Die Frage können wir jetzt allerdings noch nicht beantworten. Wir wissen nicht, ob jemand über Nacht für den Abgang gesorgt hat, der zu dieser Schüttung hier führte. Falls ja, muss der sich aber verdammt gut mit so was auskennen. Unsere Experten kommen erst noch. Geologen und so Leute. Aber solche Schüttungen wie die hier hat es auch früher schon gegeben, natürlich nicht in der Größe. Meiner Meinung nach war es nach dem elendig langen Regen eigentlich nur die Frage, wo was runterrutscht, und nicht, ob überhaupt. Der ganze Kladderadatsch ist gestern Abend um kurz nach elf ab ins Tal. Da war das Gewitter am stärksten, und keine Sau hat gemerkt, dass dieses Rumpeln kein Donner war. Unterwegs war zu dem Zeitpunkt auch keiner, der es hätte melden können.«

»Und ist da auch ganz bestimmt niemand drunter?«, fragte Julius.

Schäng juckte sich am Ohr – mit der Geschwindigkeit eines Terriers. »Soweit wir wissen, wird niemand vermisst. Manchmal wird so was aber auch erst nach ein paar Tagen gemeldet. Aber vielleicht hat der Erdrutsch einen Fuchs erwischt. Oder eine Eule.« Er ahmte den Ruf einer Eule nach. Es klang wie die Sirene eines Öltankers. »Nachher kommt eine Hundestaffel mit Spürnasen, die für so was top ausgebildet sind.«

»Wie lange wird es dauern, das wegzuräumen?«

»Puh, gute Frage. Wir sind gerade dabei, das zu schätzen. Es kommt natürlich darauf an, ob wir die benötigten Bagger und Kipplaster schnell genug bekommen. Ich schätze, zwei bis vier Wochen brauchen wir schon, bis wir die Straße wieder freihaben. Aber dafür muss auf der anderen Seite vom Damm natürlich auch das Wasser weg sein. – Machen Sie mir eine Schoko-Mettwurst, wenn ich bei Ihnen esse?«

Julius wollte nicht, dass ein solches Wurst-Monster jemals wieder in seiner Küche erschaffen wurde. »Nee, dafür reichen die Infos noch nicht.«

Plötzlich piepste es. Durchdringend. Der Metalldetektor.

»Schaff die Leute weg«, rief der Kollege vom Damm aus. »Sofort!«

»Sie müssen gehen, Meister.«

»Wenn Sie mich anrufen und sagen, was Sie gefunden haben, sind wir im Geschäft.«

Der Kollege Metalldetektor wurde unruhig. »Jetzt mach schon, die schießen schon Fotos!«

Schäng nickte Julius kurz zu, dann lief er zum Kastenwagen des Katastrophenschutzes, um sich ein Megafon zu greifen. Als er es einschaltete, war Julius längst auf dem Weg zu seinen Katern.

Herr Bimmel und Felix warteten im Flur, als Julius die Haustür öffnete. Katzen können anatomisch gesehen nicht vorwurfsvoll gucken – Herr Bimmel und Felix schafften es trotzdem. Sie scherten sich einfach nicht um Anatomie. Herr Bimmel maunzte seinen Verdruss zusätzlich in die grausame Welt hinaus, Felix kratzte an der Wand. Dort befanden sich bereits allerhand Spuren. Es sah aus, als habe er versucht, sich bis zur Küche durchzuarbeiten, vermutlich um das Fach mit dem Katzenfutter von hinten leer zu räumen. Bankräubertaktik.

Ein Futterautomat wäre wohl eine sinnvolle Investition.

Und deutlich günstiger, als das ganze Haus neu zu tapezieren.

Auf dem Weg in die Küche schmiegten sich die beiden Kater so heftig an Julius’ Beine, dass er mehrfach beinah über sie stolperte. Und als er das selbst eingekochte Katzenfutter auf ihre Näpfe verteilte, stießen sie Laute aus, die an verhungernde Vogeljunge erinnerten. Sobald sie ihr Futter vor sich hatten, klangen sie allerdings wie ausgehungerte Löwen.

Es war Zeit, in die »Alte Eiche« zu gehen. Jetzt, um die Mittagszeit, kochte stets sein Sous-Chef, abends versuchte Julius jedoch, immer selbst am Herd zu stehen.

Das Restaurant lag nur einen Steinwurf entfernt, er musste bloß über die Landskroner Straße, und schon stand er vor dem Haupteingang. Doch er ging nicht hinein, sondern außen herum zum Garten des Restaurants. Denn seit Kurzem gab es auch hier Tiere, die seine Aufmerksamkeit erforderten. Sie hießen Goldi, Martha, Lissie, Maggie, Rodi sowie Gerda, hatten Federn und Schnäbel und legten jeden Tag ein Ei und sonntags auch mal zwei. Als sie Julius sahen, stürmten sie zum Zaun und gackerten wild, denn wenn er kam, hatte er meist frische Salatblätter dabei, und das mochten sie noch viel lieber als das Körnerfutter.

»Na, ihr Süßen! Habt ihr fleißig Eier gelegt?«

Sie gackerten.

»Ja, fein. Da freu ich mich aber.«

Sie gackerten wild.

»Und du, Martha? Heute endlich wieder gelegt? Seit zwei Wochen kein Ei mehr. Müssen wir mal zum Onkel Doktor gehen?«

Gackern beendet. Martha pickte einen Wurm und tat, als hätte sie kein Wort gehört.

»Sprichst wieder mit deinen Hühnern, Maestro?«

Hinter Julius tauchte der Maître d’hôtel der »Alten Eiche« auf, Franz-Xaver, genannt FX, ein Mann, der zur Verwunderung vieler stolz auf seine österreichische Herkunft war und seinen Zwirbelbart so trug, als führen immer noch Dampflokomotiven durch das Ahrtal und die Männer gingen nur mit Gehstöcken sowie Hut aus dem Haus.

»Wie schön, dass du dich blicken lässt. Strahlend Licht in unserer Hütten! Und im Garten natürlich auch. Schau, die Hühner sonnen sich gerade drin.«

Julius legte den Arm um FX’ Schultern. Es war gut, den alten Freund zu sehen; es war gut, mit jemandem über alles reden zu können. »Hast du davon gehört? Von der Überschwemmung?«

FX formte mit den Lippen einen Fischmund. »Wir haben deshalb extra a bisserl mehr Fisch auf die Karten gesetzt. Und die Tageskarten steckt in einer leeren Weinflasche. Als Flaschenpost, sozusagen.«

Julius musste lächeln. Das schaffte FX doch immer wieder. Genauso regelmäßig brachte er ihn allerdings auch mit voller Absicht auf die Palme. Heute allerdings nicht. Also erzählte Julius FX vom Leichenfund im Wasser, von den Vorwürfen Josephine Schenks und von seinem Vorhaben, die Umstände von Martins Tod zu klären. Aber er wollte noch mehr, das war ihm auf der Rückfahrt klar geworden: Julius wollte all den Dernauern helfen, deren Häuser nasse Füße bekommen hatten. Schließlich waren sie alle Ahrtaler, und im Ahrtal half man sich gegenseitig.

»Was hältst du von einem großen Benefizessen? Sieben-Gang, mit Weinbegleitung, richtig teure Buddeln, ein stattlicher Preis pro Person, alles geht ohne Abzug an die Dernauer Ortsgemeinschaft. Kannst du das in die Wege leiten? Ganz schnell? Sagen wir: am Mittwoch.«

FX salutierte. »Des mach ich ausnehmend gern. Apropos schnell. Der Verlag hat angerufen. Sollst schnellstens des erste Kapitel für dein Gemüse-Buch abgeben. Sie werden etwas krawällisch. Weißt, was ich mein? Fickrig.«

»Ich hab’s schon beim ersten Mal verstanden. Aber danke für den kleinen Österreichisch-Kurs.«

»Lernst niemals aus im Leben. Selbst so a Wunderwutzi wie du.«

Julius hob die Augenbrauen.

»Alleskönner. Aber Wunderwutzi klingt a bisserl respektvoller.«

»Aber nur in Österreich.«

FX ging zurück ins Restaurant, und Julius folgte ihm, nachdem er der Hühnerschar einen halben Salatkopf zur Verköstigung zerrupft hatte.

Die Küche schnurrte wie sein Käfer, wenn er frisch geölt und der Keilriemen brandneu war. Sein Team grüßte ihn mit freundlichem Kopfnicken.

»Weitermachen«, sagte Julius grinsend. »Wer aufhört, kommt in den großen Bräter! Ungewürzt!«

Unter scherzhaften Buh-Rufen ging er in sein kleines, fensterloses Büro und zog sich die Kochjacke an. Die Begrüßungsrunde im Restaurant stand an. Vor den Salontüren, die in den Gastraum führten, atmete er noch einmal tief durch, dann trat er ein. Dieser Teil der »Alten Eiche« war eine Bühne, und ob Julius es wollte oder nicht, er war darauf die Hauptfigur.

Die Gerichte sahen phantastisch aus und dufteten genau so, wie sie sollten, das merkte er gleich beim Eintreten. Der Duft war Julius stets das Wichtigste. Zwar schrieb er seine Rezepte, ja, er schoss sogar Fotos der Speisen, damit jeder Koch wusste, wie sie angerichtet werden sollten, doch er selbst merkte sie sich eigentlich an ihrem Duft, denn darin lag alles, nicht nur die Aromen der Gewürze, der Kräuter, des Gemüses, von Fleisch oder Fisch, die Röstnoten von Bratkartoffeln oder das herrliche Hartweizengrieß von Pasta. Im Duft lagen auch die unterschiedlichen Temperaturen, trafen sich die kühle Frische des Salates mit der Ofenwärme des Rinderbratens, ja, selbst die Konsistenzen schienen sich einzuweben.

Julius meinte erschnuppern zu können, ob das Lamm auf den Punkt gegart oder der Thunfisch zu trocken war. Wie kleine Schiffe aus Duft lagen die Gerichte im Restaurant vor Anker, und er machte an ihnen fest, wenn er von Tisch zu Tisch ging, um seine Gäste zu begrüßen. Den Duft seiner Lieblingsgerichte hätte Julius sich am liebsten in Flakons füllen lassen. Für ihn gab es nichts, was besser duftete, kein noch so teures Parfum einer Frau hatte ihm je so den Atem geraubt wie ein Risotto mit weißen Alba-Trüffeln oder eine Erbsensuppe mit Speck.

Als er mit seiner Runde fertig war, fühlte Julius sich plötzlich unglaublich müde – dabei war es erst kurz nach ein Uhr mittags. Aber der Schock, auf den toten Martin Schenk zu stoßen, die Vorwürfe von dessen Mutter Josephine, dann die Unfassbarkeit des Erdwalls, all das hatte ihn körperlich angestrengt. Er fühlte sich, als seien seine Kraftreserven verbraucht. Doch er konnte jetzt nicht nach Hause gehen und sich hinlegen, er musste in die Küche.

Also sah er seiner Mannschaft über die Schulter und naschte hier wie da etwas aus den Töpfen und Pfannen. Nicht um seine Köche und Köchinnen zu kontrollieren, sondern um sie zu loben. Das ging im Stress des Alltags manchmal unter. Dabei war Loben so viel schöner als Kritisieren. Sein Chef hatte ihn in der Ausbildung kaum gelobt; seine höchste Auszeichnung hatte so geklungen: »Wenn ich nichts sage, schmeckt’s.« Leider war er nicht der schweigsame Typ gewesen. Stattdessen hatte er immer nur geschrien, in der festen Überzeugung, dass Jähzorn zum Berufsbild des Koches einfach dazugehörte.

Zum Schluss aß Julius einen großen Teller rheinische Bohnensuppe und ließ sein Team machen; auch das war manchmal wichtig, Vertrauen zeigen. Noch bevor er leer gegessen hatte, fiel ihm vor lauter Müdigkeit der Löffel aus der Hand.

Da schickte FX ihn nach Hause. Widerworte zwecklos. Ja, sein österreichischer Maître d’hôtel drohte Julius sogar an, ihn eigenhändig zu entgräten, wenn er vor dem Abendservice wieder den Kopf zur Tür reinstreckte.

Da konnte Julius nicht anders, als sich auf den Weg zum heimischen Bett zu begeben.

Kurze Zeit später stieg er hundemüde die Stufen ins Schlafzimmer empor, fuhr die Rollläden herunter, zog die Schuhe aus und ließ sich auf die Matratze fallen wie ein nasser Seesack. Das Bett knarzte, aber es krachte nicht zusammen. Gutes Bett. Er lag noch keine Minute, da kletterten Herr Bimmel und Felix auf seinen Bauch. Julius kraulte ihre Köpflein, und einer nach dem anderen rollte sich neben ihm wie eine Schnecke zusammen. Ehe Julius es sich versah, legte sich eine warme Decke aus wohligem Schlaf auf seine Welt.

Gefühlte zwei Sekunden später wurde sie wieder fortgezogen.

Die Rollläden gingen in die Höhe, dann wurden die Fenster aufgerissen. Feuchte Lippen gaben ihm einen Kuss auf die Stirn. Leider waren es nicht Annas. Neben ihn hatte sich stattdessen seine Schwiegermutter aufs Bett gesetzt und strich ihm jetzt wie einem Baby über den Haarflaum. Das Letzte, was ein Mann in seinem eigenen Schlafzimmer erleben wollte.

»Julius, wie geht es dir? Bist du krank? Kann die Sybille was für dich tun?«

»Nein«, sagte Julius matt, dem das Sonnenlicht in die Augen stach. »Bin nicht krank.«

»Dann musst du sehr viel gearbeitet haben, dass du nachmittags ein Schläfchen machst. Da wird mir richtig das Herz schwer, weißt du das? Du solltest nicht so viel arbeiten. Ruh dich einfach mal aus.«

Was meinst du, was ich gerade versucht habe, dachte Julius, aber er kam nicht dazu, es zu sagen, denn Sybille sprach bereits weiter.

»Schau, ich hab dir Tee gemacht und auch ein paar Plätzchen gebracht, die ich gestern extra gebacken habe.« Sie hob seinen Kopf sanft, aber bestimmt an und schlug das Kopfkissen auf. »So hast du es gut. Männer müssen auch mal verwöhnt werden.«

Eigentlich kein Satz, bei dem Julius widersprach. Allerdings hätte er gerne ein Mitspracherecht gehabt, wann Verwöhnen angesagt war. Und von wem.

Um seine Schwiegermutter nicht zu enttäuschen, steckte er sich ein Plätzchen in den Mund. Es war so trocken wie der Sandkuchen, den er im Kindesalter an der Nordseeküste fabriziert hatte.

»Superlecker«, sagte er mit vollem Mund.

»Das hör ich gern! Iss nur, iss. Ich mag es, wenn Männer stattlich sind.« Sie kniff prüfend in seinen Arm. Es tat sauweh. »An dir ist richtig was dran, Julius.« Er fühlte sich plötzlich wie Hänsel und Gretel. Wollte sie ihn etwa essen? »Meine Anna hat wirklich großes Glück mit dir.«

Sibylle von Reuschenberg war alter Landadel und hätte jederzeit als properes Model für die »Landlust« posieren können, wobei sie hochgeschlossene Blusen bevorzugte, lange Faltenröcke und Trachtenjanker. Die Haare hatte sie, wie in ihrer süddeutschen Heimat üblich, stets zu einer Art Brezel geflochten. Sibylle war eine Frau, die fast ohne Unterlass sanft lächelte, für alles Verständnis hatte und es gut meinte. Immer. Fatalerweise hatte Anna ihrer Mutter, die während ihres ausgedehnten Besuchs eigentlich in einer Ferienwohnung zwei Straßen weiter wohnte, einen Hausschlüssel gegeben. Sie konnte kommen und gehen, wann es ihr beliebte. Und genau das tat sie auch.

Julius war sehr froh, sich vor dem Schläfchen nicht seiner Hose entledigt zu haben. Er hätte vor Scham die Plätzchen am Stück geschluckt, in der Hoffnung zu ersticken. Nun goss Sibylle ihm Tee ein und führte die Tasse zu seinem Mund. Julius setzte sich schnurgerade im Bett auf, damit er das selbst erledigen konnte.

»Hier, iss noch ein Plätzchen.« Sybille schob es ihm zwischen die Lippen. Es hatte überraschenderweise die Konsistenz eines Autoreifens. Was kam wohl als Nächstes? Glibschig wie eine Nacktschnecke?

»Ich weiß natürlich, dass ich nicht so gut koche oder backe wie du, aber ich mache es mit ganz viel Liebe. Ich hoffe, das schmeckt man!«

Julius nickte. Er wollte das in seinem Mund nicht runterschlucken; die Gefahr, den Mageneingang wie mit Zement zu verschließen, war einfach zu groß. Julius blickte sich um. Im Nachttisch lagen noch drei Notfalltrüffel in einer Pralinenschachtel. Wenn er die leer machte, konnte er den Sondermüll in seinem Mund schnell loswerden. Bis sich eine Gelegenheit ergab, musste er ihn nur in der rechten Wange zwischenlagern. So mussten sich die Bewohner von Gorleben fühlen.

Sibylle spuckte in ein Taschentuch. »Du hast da einen Krümel am Mund.« Und ehe Julius sich wehren konnte, wischte sie ihn mit ihrer feuchten, warmen Spucke fort.

Vor lauter Schreck schluckte er das Plätzchen herunter.

Julius sah seinen Magen schon mit einem Anwalt vor sich stehen. Er musste diese Frau loswerden! Sofort! Und wenn er sie mit den Backwaren rausprügeln musste!

Sybille lächelte ihn selig an. »Weißt du was? Wir haben immer viel zu wenig Gelegenheit, um miteinander zu reden. Dabei rede ich so gerne mit dir. Komm, wir nutzen die Chance. Wie war dein Tag? Was hat dich so angestrengt?«

Julius’ Kopf fing an zu pochen. Es schien überall daran zu ziehen. Vermutlich wollte er weg.

»Hast du Kopfschmerzen?«

»Ja, die habe ich tatsächlich.« Wegen dir, Sybille, nur wegen dir!

Verständnisvoll legte sie die Stirn in Falten und nickte. »Weißt du, dass oft eine gestörte Darmflora in Verbindung mit einem überlasteten Verdauungssystem die Ursache ist? Kein Wunder, bei deinem Beruf. Dann häufen sich Gifte an und führen zu Kopfschmerzen. Ein Einlauf wird dir im Handumdrehen Erleichterung schaffen. Ich fahre schnell zur Apotheke und besorge alles Nötige. Bei meinem Mann habe ich das auch immer gemacht.«

Um Gottes willen. Ein Einlauf. Von der Schwiegermutter. Unter keinen Umständen! Warum wurde dieser Tag nur immer noch schlimmer?

»Nein, es ist Migräne, habe ich immer mal wieder.«

»Davon hat mir Anna gar nichts gesagt.«

»Ich rede nicht so gerne darüber. Könntest du die Rollläden wieder …?«

»Sag nichts!«, flüsterte sie. »Ich weiß, was zu tun ist. Dunkelheit und Stille, sollst du haben. Mein armer Schwiegersohn.« Noch ein Kuss, diesmal auf die Wange.

Dann wurde die Tür leise geschlossen. Und Julius lag hellwach im Dunkeln. Dabei musste er langsam mal zurück ins Restaurant. Aber wenn er jetzt versuchte, das Haus zu verlassen, würde Sybille vorsorglich den Notarzt rufen. Er musste also liegen bleiben. Bis sie das Haus verlassen hatte. Oder er verstarb.

Wenigstens würde er um den Einlauf herumkommen.

Julius merkte nicht, wie er wieder einnickte.

Doch er merkte, wie sich plötzlich ein warmer Körper an ihn schmiegte, eine Hand auf seine Brust legte, Lippen auf seinen Hals.

Julius betete, dass es Anna war und nicht Sibylle, die in der Apotheken-Umschau gelesen hatte, dass Kuscheln gegen Migräne half.

»Hallo, kranker Mann.« Anna, Gott sei Dank! Dafür musste er unbedingt eine Kerze in der Rosenkranzkirche aufstellen. »Du hast also Migräne, ja? Und redest nicht gerne darüber? Noch nicht einmal mit deiner Frau?« Ihr Lächeln war deutlich zu hören.

»Ganz genau. Deshalb weißt du auch nichts davon.«

»Dabei wollten wir doch keine Geheimnisse voreinander haben!« Sie zog ihn neckisch am Ohr.

»Ja, das stimmt. Aber im Kleingedruckten stand, dass eingebildete Krankheiten und der genaue Inhalt meines Weinkellers davon ausgenommen sind.«

»Davon wusste ich nichts.«

»Tja, und jetzt ist es zu spät. Nun bist du für alle Ewigkeit an mich gebunden.«

Sie schmiegte sich noch näher an ihn. »Ich kann mir Schlimmeres vorstellen.«

»Aber nicht viel, was?«

Sie legte ihren Kopf auf seine Brust. »Warum habe ich dich bloß geheiratet?«

Julius wollte antworten, weil keine andere verrückt genug war. Aber manche Witze behielt man besser für sich, wenn man es bevorzugte, den Kopf auf dem Hals zu tragen, und weiter gekuschelt werden wollte.

Plötzlich knipste Anna das Licht an und setzte sich im Schneidersitz auf die Matratze. »Die Autopsie von Martin Schenk hat eine Überraschung ergeben.«

Auch Julius setzte sich aufrecht hin. Über den Tod sprach man einfach nicht im Liegen. »Erzähl!«

»Martin Schenk ist tatsächlich ertrunken.«

»Das ist jetzt aber keine wirkliche Überraschung.«

»Er ist ertrunken – aber nicht im Hochwasser der Ahr.«

»Nein? In was denn dann?«

»In …«

»Nun sag schon!«

»Martin Schenk ist in Sangria ertrunken.«

»Bitte?«

»Du hast richtig gehört. Heute hab ich den Bericht der Gerichtsmedizin erhalten. Offenbar hatte Martin Schenk eine Histaminallergie und vertrug keine großen Mengen Alkohol. Am Abend seines Todes aber muss er deutlich zu viel davon erwischt haben und daran erstickt sein.«

Erst jetzt erinnerte sich Julius daran, dass Martin während seines Praktikums in der »Alten Eiche« kaum etwas getrunken hatte. Immer musste er noch fahren, hatte gerade Medikamente genommen oder verzichtete wegen eines Fußballspiels auf Alkohol. »Aber das heißt …«

»Ja, das heißt, Martin Schenk hat sich nicht an Sangria zu Tode gesoffen, sondern wurde eventuell von jemandem ermordet, der von dieser Allergie wusste. Und die Rechtsmedizin sagt, es ist mehr als eventuell, denn sie ermittelte aufgrund von Abschürfungen im Gesicht auch noch, wie er vermutlich starb.«

Anna strich sich die Haare mit beiden Händen zurück, was sie nur tat, wenn sie etwas beunruhigte.

Julius hörte auf, im Raum herumzugehen, und blickte sie fragend an.

Erst nach einem langen Atemzug fuhr Anna fort. »Martin Schenk wurde wahrscheinlich in einem Sangria-Eimer ertränkt.«

2

Gemüsewasser