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Karte

Handelnde Personen

Yvolar

ein alter Druide

Alphart

ein Wildfänger

Leffel Gilg

ein Bauer aus dem Unterland

Erwyn

ein Menschenjunge

Urys

ein Zwerg

Mux

ein Kobling

Walkar

ein Bärengänger

Rionna

Prinzessin von Iónador

Galfyn

Häuptling des Falkenclans

Herras

sein Waffenmeister

Alwys

König der Zwerge

Barand

Marschall von Iónador

Salmuz

Anführer der Wilden Männer

Fyrhack

der letzte Feuerdrache

Kaelor

ein Eisriese

Lorga

Anführer der Erle

Klaigon

Fürstregent von Iónador

Éolac

sein Seher

Muortis

Herrscher des Eises

54

Er war allein.

Er war verzweifelt.

Und ein Gefühl drängender Unruhe erfüllte ihn, das Wissen um gefährliche Dinge, die im Land Allagáin vor sich gingen und die es aufzuhalten galt. Gelang dies nicht, würde die Welt in Eis und Finsternis versinken, und die Mächte des Bösen und des Chaos würden triumphieren.

Eilig setzte Yvolar der Druide einen Fuß vor den anderen. Von geheimnisvoller Kraft getragen, berührten seine Stiefel den schneebedeckten Boden kaum, sondern schienen darüber zu schweben, während der weite Umhang die hagere Gestalt des Alten umwehte. Aber obwohl sich Yvolar seiner magischen Fähigkeiten bediente, um möglichst rasch ins Tal des Allair zu gelangen, befürchtete er, dass er zu spät kommen würde.

Zu spät, um die Schlacht zu verhindern.

Zu spät, um zu verhindern, dass Bruder gegen Bruder kämpfte und ein ebenso schrecklicher wie sinnloser Krieg die Sterblichen schwächte und das Land dem Ansturm des Bösen preisgab.

Zu spät, um die Welt zu retten.

Eine neue Eiszeit stand bevor. Sie kündigte sich an, mit jedem Windstoß, der von den Bergen blies, und mit jeder Schneeflocke, die zu dieser frühen Jahreszeit zu Boden fiel.

Natürlich hatte es schon früher Anzeichen gegeben. Kreaturen, die nur aus den dunklen Pfründen Dorgaskols stammen konnten, waren entlang des Wildgebirges gesichtet worden. Enze, Bilwisschnitter und Trolle waren aus ihren finsteren Löchern gekrochen und im Reich der Sterblichen aufgetaucht – und natürlich die Erle, die Diener des Bösen von alters her, die zu Tausenden in den dunklen Pfründen von Düsterfels überdauert hatten. Hinter den Kreaturen Dorgaskols jedoch lauerte jene böse Macht, die vor langer Zeit schon einmal versucht hatte, die Welt mit Kälte und Dunkelheit zu überziehen und alles Leben zu vernichten: Muortis.

Wie alle anderen, die am Ersten Krieg gegen Muortis und sein Heer der Finsternis beteiligt gewesen waren, hatte auch Yvolar den Herrn des Eises besiegt gewähnt; aber dies hatte sich als verhängnisvoller Irrtum erwiesen. Das Wasser des Brunnens Aillagan hatte sich blutrot verfärbt und damit das Unheil angekündigt, und Yvolar hatte seine Zuflucht in den Ruinen von Damasia verlassen, um den Sterblichen beizustehen in diesem letzten, entscheidenden Kampf – von dem die meisten noch nicht einmal etwas ahnten.

Die Menschen waren träge und konzentrierten sich allein auf ihre Alltagsgeschäfte, ohne sich nur einen Deut um das Land zu scheren, auf dem sie lebten und das ihrer aller Heimat war. Und selbst jene, die erkannt hatten, dass die Welt im Umbruch war, wollten die wahre Ursache nicht erkennen. Sie ertränkten die Wahrheit in Krügen voller Bier, lenkten sich ab, indem sie sich die Wänste vollschlugen, und verschlossen ihre Augen vor der Wirklichkeit. Die Zeit der Mythen ging zu Ende, und es gab kaum noch Menschen, die bereit waren, sich ihnen anzuvertrauen.

Jedoch, es gab auch Ausnahmen.

Zwei wackere Gefährten hatte sich Yvolar angeschlossen und ihn auf seinem Weg durch das Wildgebirge und in die Festung der Zwerge begleitet: Zum einen Alphart, ein aufrechter Jägersmann, dessen Bruder von den Erlen ermordet worden war und der ihnen bittere Rache geschworen hatte. Nach außen hin gab er sich wortkarg und abweisend, aber der Druide hatte in sein Inneres geblickt und das wahre Wesen des Wildfängers erkannt; nicht von ungefähr hatte er ihn zu seinem Stellvertreter ernannt, als er den Bund der Gefährten verlassen hatte. Zum anderen Leffel Furr, ein Bauer aus dem Unterland, der seines Ungeschicks und seiner groben Manieren wegen von allen nur der Gilg gerufen wurde; unter seiner Mütze, die er niemals abzunehmen pflegte, arbeitete ein einfacher Verstand – das Herz des Gilg war indes umso größer.

Gemeinsam waren sie nach Glondwarac gelangt, der Zwergenfeste, die nur wenige Menschen je zu Gesicht bekommen hatten. Ein Blick in den Zauberspiegel des Zwergenkönigs Alwys hatte Yvolar Gewissheit verschafft über das dunkle Wirken Muortis’ und seiner Helfer. Ein Eisdrache hauste in den Höhlen Urgulroths und verpestete die Tiefen der Welt mit kaltem Atem. Das Grundmeer, die Quelle allen Lebens, war dabei zu erstarren, und die Ferner wuchsen von den Bergen herab und drohten die Täler zu ersticken. Nur der Odem eines Feuerdrachen vermochte dem Eis Einhalt zu gebieten, und so waren die Gefährten aufgebrochen, um die Hilfe des Drachen Fyrhack zu erbitten, des Letzten seiner Art, und den Kampf der Elemente zu entfesseln.

Weitere Gefährten hatten sich ihnen angeschlossen: Urys, ein beherzter Zwergenkämpfer, dessen Tapferkeit seine Körpergröße bei Weitem überragte; Mux, ein Kobling, der in Reimen zu sprechen pflegte und dessen Gespür für Gefahren die Gefährten mehr als einmal gewarnt hatte; Walkar, ein Bärengänger, der die Gestalt des Tiers anzunehmen vermochte, dessen Fell er trug; und schließlich Erwyn, der letzte Spross von Vanis’ Stamm.

Vor langer Zeit hatte Yvolar den Jungen, dessen eigentlicher Name Dochandar lautete – »Träger der Hoffnung« –, nach Glondwarac gebracht. In der Abgeschiedenheit der Zwergenfeste, die der Zeit der Sterblichen entrückt war, war er herangewachsen, behütet von seinem Ziehvater Urys und kindlicher Unwissenheit. Von Herzen hätte Yvolar dem Jungen gegönnt, dass dieser Zustand weiter angehalten hätte, aber die Ereignisse hatten es notwendig gemacht, dass Dochandar von seiner wahren Herkunft erfuhr.

Und von seiner Bestimmung …

Als einzigem Nachkommen Danaóns, der noch auf Erden weilte, als letztem Abkömmling des einst so stolzen Sylfengeschlechts oblag es ihm, den Feuerdrachen aus seinem Schlaf zu wecken und zur letzten Attacke gegen Muortis und seine Eiskreatur zu führen. Widerstrebend und doch voller Mut hatte sich Erwyn dieser Aufgabe gestellt – und war brüsk abgewiesen worden.

Nicht nur, dass Fyrhack ihm seine Hilfe verweigert hatte, der Drache hatte auch die Echtheit des Erben angezweifelt, und so war Yvolar und Erwyn nichts anderes geblieben, als die Höhle des Drachen unverrichteter Dinge wieder zu verlassen. Verzagtheit war über die Gefährten gekommen und hatte ihren Bund zu sprengen gedroht, als in der Stunde der größten Verzweiflung von unerwarteter Seite Hilfe gekommen war: Eine Salige, ein Geistwesen aus grauer Vorzeit, war den Gefährten erschienen, und indem sie vom Horn des Sylfenkönigs erzählte, das die Macht des Eises zu brechen vermochte und in alter Zeit auf dem Gipfel des Korin Nifol zurückgeblieben war, gab sie den Gefährten wenigstens einen Teil ihrer Hoffnung zurück.

Von verzweifeltem Mut getrieben, waren sie aufgebrochen, um Danaóns Horn zu suchen. Aber an den Hängen des Korin Nifol war ihre Gemeinschaft dann doch zerbrochen. Eine Vision von Ereignissen an einem weit entfernten Ort hatte Yvolar klargemacht, dass er dort dringender gebraucht wurde. Eine Katastrophe würde sich ereignen, wenn er nicht eingriff!

In ihrer leichtfertigen Art beschworen die Menschen ihren Untergang herauf und ahnten es noch nicht einmal – und es war die größte Furcht des Druiden, dass er zu spät kommen würde, um dies noch zu verhindern. Im Tal des Allair waren sie aufmarschiert, das vereinte Heer des Waldvolks und die Streitmacht Iónadors, bereit, einander in blutiger Schlacht zu begegnen und das Morden fortzusetzen, das beide Völker schon einmal an den Rand der Vernichtung gebracht hatte.

Damals waren die Krieger des Waldvolks bis vor die Tore Iónadors gezogen, und nur Dóloan, dem ersten Fürstregenten, war es zu verdanken gewesen, dass die Goldene Stadt nicht gefallen war. Ein Waffenstillstand war geschlossen worden zwischen beiden Völkern, der über Generationen Bestand gehabt hatte – bis zu dem Zeitpunkt, da Muortis erneut seine frevlerische Hand nach dem Land Allagáin ausstreckte …

Nun, Yvolar konnte nur vermuten, dass der Herr des Eises hinter dem Krieg steckte, der im Tal des Allair zu entbrennen drohte. Verrat und Intrige, Lüge und Meuchelmord – die Mittel, derer sich Muortis bediente, waren vielfältig und die Menschen leichte Beute.

Nur so konnte der Druide sich erklären, dass der Waffenstillstand gebrochen worden war. Denn wenn die Sterblichen einander bekriegten und sich gegenseitig abschlachteten, hatte das Wilde Heer freies Feld.

Yvolar hatte die Spuren gesehen, die Muortis’ Diener hinterlassen hatten. Sie waren unübersehbar, eine Schneise der Zerstörung, die sich von den Bergen bis nach Allagáin erstreckte. Erle, Trolle und Eisriesen, Geschöpfe aus den dunkelsten Pfründen Dorgaskols, trugen Tod und Verderben in die Welt, und wenn es dem Druiden nicht gelang, das sinnlose Morden unter den Menschen zu verhindern, so würde es schon bald niemanden mehr geben, der sich den Unholden entgegenstellen konnte.

Mit jedem Augenblick, der verstrich, mit jedem Schritt, den er tat und bei dem er die Präsenz des Bösen stärker fühlte, die diese Täler und Wälder vergiftete, wuchs Yvolars Verzweiflung – und das nicht nur, weil die Zeit gegen ihn arbeitete.

Der Druide spürte auch, dass ihm Verfolger auf den Fersen waren …

Seit er sich von seinen Gefährten getrennt hatte, waren sie hinter ihm her: Diener der Finsternis, die die Wälder durchstreiften auf der Suche nach Blut und Beute. Yvolars einziger Trost war, dass sie dadurch von Alphart und den anderen abgelenkt würden, und er hoffte, dass wenigstens seine Gefährten auf diese Weise unbehelligt blieben. Natürlich war es nur ein schwacher Trost, aber der Druide klammerte sich daran ebenso wie an seinen Stab aus Eschenholz, der mit Runenzeichen versehen war und dem uralte Kräfte innewohnten.

Hastig durchquerte er die schneebedeckte Talsohle. Dabei blickte er über die Schulter und hielt die Nase in den Wind wie ein Tier, das Witterung aufnahm.

Sie holten auf.

Schon bald würden sie ihn eingeholt haben…

55

Das Erste, was Alphart wahrnahm, war der grässliche Gestank von geronnenem Blut. Durch die Nase stach er in seinen Kopf und ließ ihn vollends erwachen – und mit dem Bewusstsein kehrte auch der Schmerz zurück. Seine Schulter tat weh, und sein Schädel dröhnte, als ob tausend wild gewordene Gnomen darin hämmerten.

Eine vertrocknete Kruste spannte über seiner linken Gesichtshälfte.

Getrocknetes Blut …

Alarmiert wollte sich Alphart aufrichten, aber jemand hielt ihn fest und drückte ihn sanft, aber bestimmt wieder zurück auf das Lager. »Sachte, mein Freund«, hörte er eine Stimme brummen, »nicht so schnell.«

Alphart blinzelte und schlug die Augen auf. Zuerst war alles verschwommen, und er konnte nichts erkennen. Dann jedoch schälten sich Gesichtszüge aus dem Nebel der Benommenheit: eine bärtige Miene, aus der ein sorgenvoll verkniffenes Augenpaar blickte.

Fast überrascht stellte Alphart fest, dass er das Gesicht kannte. Es gehörte Urys dem Zwerg – und mit der Erinnerung an den Gefährten kehrte auch jene an die Ereignisse zurück, die hinter ihnen lagen.

Die Begegnung mit der Wildfrau.

Ihr Entschluss, das Sylfenhorn zu suchen.

Die Trennung von Yvolar.

Der Hinterhalt, in den sie geraten waren …

»Wo …?«, presste Alphart mühsam hervor und erschrak über den heiseren, brüchigen Klang der eigenen Stimme.

Verwirrt blickte er sich um und stellte fest, dass sie sich in einer Höhle befanden. Eine niedere Felsendecke wölbte sich über ihnen, auf dem Boden lagen Knochen verstreut – genau wie in jener Kaverne, in der sie Tags zuvor übernachtet hatten, bevor sie in der Schlucht angegriffen und überwältigt worden waren, von einem Gegner, den Alphart noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte.

»Frag lieber nicht, Mensch«, entgegnete Urys düster. »Glaub mir, von allen Orten auf dieser Welt ist es dieser, an dem du am allerwenigsten sein möchtest.«

Trotz Urys’ Mahnung und der pochenden Schmerzen in seinem Schädel biss Alphart die Zähne zusammen und richtete sich zur Hälfte auf. Er saß auf dem Boden, auf einem kargen Lager aus altem Stroh. Und der Zwerg und er waren keineswegs allein in der Höhle. Auch die übrigen Gefährten waren da: Leffel Gilg, der junge Erwyn, der vorlaute Mux und der finstere Bärengänger Walkar. Ihre Mienen wirkten bleich und ausgezehrt, und im flackernden Feuerschein, der durch ein Eisengitter in die Höhle fiel, konnte man das Grauen erkennen, das sich in ihren Gesichtern spiegelte.

Einzig Mux der Kobling schien die Stimmung ein wenig aufheitern zu wollen. »Endlich bist du aufgewacht«, krähte er, »wir haben Sorgen uns ge… gemurmelt.«

»Ihr habt euch Sorgen gemurmelt?« Erstaunt wollte Alphart eine Braue hochziehen, was infolge des getrockneten Bluts in seinem Gesicht allerdings nicht gelang.

»Er kann nicht mehr reimen«, erklärte Leffel anstelle des Koblings, der traurig den Kopf sinken ließ.

»Wieso nicht?«

»Weil er Todesangst hat«, erwiderte der Gilg mit einem Unterton, der Alphart nicht gefallen mochte.

»Ich könnt mich selber dafür hassen«, jammerte Mux. »Kein Wort will mehr zum anderem p-p-poltern.« In einer hilflosen Geste breitete er die dünnen Ärmchen aus.

Den Wildjäger vermochte dies nicht mal ansatzweise zu erheitern. Immer noch roch er den Gestank von altem Blut. Er ließ den Blick über die Knochen am Boden schweifen, und wieder verlangte er zu wissen, entschlossener diesmal: »Wo sind wir hier?«

»Du hast ihn nicht gesehen, nicht wahr?«, fragte Erwyn, aus dessen bebender Stimme namenloses Entsetzen herauszuhören war.

»Von wem sprichst du?«

»Von unserem Kerkermeister«, gab Walkar zur Antwort.

»Wer soll das sein?«

»Der Blutbercht«, erwiderte der Bärengänger tonlos. »Er war es, der uns überfallen und gefangen hat. Wir hatten keine Möglichkeit, uns zur Wehr zu setzen.«

»Der Blutbercht?«, fragte Alphart zweifelnd.

Er hatte von dem Unhold gehört, der im Wildgebirge hauste, ihn aber für eine Erfindung gehalten, mit der man kleine Kinder erschrecken wollte. »Seid brav, oder der Blutbercht wird euch holen«, pflegte man ihnen zu sagen. »Er frisst Menschen und Tiere, und seine Mütze ist rot gefärbt mit dem Blut der Unglücklichen, die ihm in die Hände fallen …« Andererseits hatte der Wildfänger in den vergangenen Wochen manches leibhaftige Wesen erblickt, das er bis dahin für eine Sagengestalt gehalten hatte.

»Noch vor wenigen Stunden habe ich gedacht wie du«, versicherte Urys, der die Gedanken des Jägers zu erraten schien. »Aber der Blutbercht ist so wirklich wie du und ich. Und er hat Hunger und Durst. Hunger auf unser Fleisch und Durst nach unserem Blut.«

Alphart sah seine Gefährten zusammenzucken. Erwyns Augen blitzten feucht, Leffel und Mux schienen förmlich erstarrt vor Angst und Entsetzen. Walkar war der Einzige, der nicht zusammengesunken auf dem Boden kauerte, aber auch bei ihm war die Furcht unübersehbar. Wie ein gefangenes Raubtier ging er vor der rostigen Gittertür auf und ab, die den Ausgang verschloss. Jenseits davon erstreckte sich eine weitere Höhle, in der ein Feuer brannte. Wachen waren nicht zu sehen.

»Warum verwandelst du dich nicht einfach?«, fragte der Wildfänger Walkar. »Wie furchterregend der Blutbercht auch sein mag – mit einem ausgewachsenen Bären kann er es sicher nicht aufnehmen.«

»Wie gern würde ich das«, entgegnete Walkar leise. »Aber der Bercht weiß um meine Fähigkeit und hat mir die Bärenhaut genommen. Ohne sie vermag ich meine Gestalt nicht zu ändern.«

»Verstehe«, knurrte Alphart, und er sagte sich einmal mehr, dass auf Zauberei und derlei übernatürliche Dinge eben doch kein Verlass war. »Was ist mit unseren Waffen?«

»Alle weg«, erklärte Urys zerknirscht. »Er hat sie uns abgenommen.«

»Verdammt, wie war das möglich?«, fragte Alphart aufgebracht. »Habt ihr euch nicht verteidigt?«

Statt etwas zu erwidern, blickte der Zwerg nur betreten zu Boden. Auch die übrigen Gefährten schienen Alphart nicht antworten zu wollen, und er fragte sich, woran das liegen mochte. Angestrengt versuchte er, auch noch den letzten Rest Benommenheit loszuwerden und sich an die letzten Augenblicke zu erinnern, ehe die Keule des Feindes ihn getroffen und ins Reich der Träume geschickt hatte – und plötzlich dämmerte ihm, wie der Unhold seine Gefährten hatte gefangen nehmen können, ohne dass sie sich dagegen gewehrt hatten …

»Es war meinetwegen, nicht wahr?«, fragte er leise. »Ich bin der Grund, dass ihr nicht gekämpft habt …«

»Er … er drohte, dich zu töten«, erklärte Erwyn etwas unsicher.

»Ihr verdammten Narren!«, polterte Alphart los. »War euch nicht klar, dass ihr euch damit selbst in Todesgefahr bringt?«

»Wir wollten dich nicht verlieren«, antwortete der Junge mit rührender Einfalt.

»Ein guter Freund ist lieb und teuer«, sagte Mux. »Man verfüttert ihn nicht an ein Unge… Unge… Ungetüm.«

»Und was ist mit unserer Mission?«, fragte Alphart aufgebracht. »Hat sie nicht Vorrang vor dem Leben eines Einzelnen? Wäre es nicht das, was der alte Mann euch sagen würde? Sollte Vanis’ Spross nicht so entscheiden?«

Erwyn blickte verlegen zu Boden. Jener Tag, an dem die Versammlung der Zwerge verkündet hatte, dass er der Auserwählte sei, der letzte Spross des Sylfengeschlechts, schien Ewigkeiten zurückzuliegen. Fyrhacks Zurückweisung hatte ihn tief getroffen, Angst und Selbstzweifel nagten an ihm. »Und wenn«, sagte er leise. »Unsere Welt verdiente es nicht zu überleben, würde das Leben eines Freundes nicht mehr zählen.«

Darauf wusste der Wildfänger nichts zu erwidern. Sein Jähzorn lief ins Leere und verwandelte sich in Wut auf sich selbst.

Und auf den verdammten Druiden …

Yvolar hätte ihm niemals die Führung der Gruppe anvertrauen dürfen. Er hätte wissen müssen, dass ein Einzelgänger wie er dazu nicht geeignet war und bei der erstbesten Gelegenheit versagen würde. Im Nachhinein verwünschte sich Alphart dafür, dass er nicht auf Mux’ Warnung gehört und die Schlucht gemieden hatte. Hätte nur er für seinen Fehler bezahlen müssen, so hätte er es ohne Murren hingenommen. So jedoch waren alle betroffen …

… und es war seine Schuld.

»Ich … ich danke euch«, erklärte er ebenso leise wie widerstrebend. Es fiel ihm schwer, die Worte auszusprechen. Wildfänger waren es nicht gewohnt, sich zu bedanken. Sie pflegten zu geben und nicht zu nehmen, und die Vorstellung, von Talbewohnern abhängig zu sein oder ihnen etwas zu schulden, war ihnen zutiefst verhasst. »Was ihr getan habt, war sehr tapfer«, fügte er mir rauer Stimme hinzu. »Tapfer und töricht zugleich. Wäre es nach mir gegangen, ihr hättet euch bis aufs Messer verteidigt.«

»Dann wärst du jetzt tot«, war Erwyn überzeugt.

»Wenn schon!«, hielt der finstere Walkar dagegen, der am Gitter stehen geblieben war. »Das sind wir bald alle. Ich höre seine Schritte. Er kommt.«

»Verdammt.«

»O nein!«

Alphart konnte das Entsetzen sehen, das die Ankündigung bei seinen Gefährten hervorrief. Erwyn, Mux und Leffel kauerten sich zu einem Haufen zusammen, und Urys nahm mit grimmiger Miene vor ihnen Aufstellung, um sie mit dem eigenen Leben zu schützen. Walkar wich vom Gitter zurück; was immer dort draußen war, schien selbst dem Bärengänger Angst zu machen.

»Bald wird unser Blut den Boden röten!«, krächzte Mux lauthals, um flüsternd hinzuzufügen: »Der Blutbercht kommt, um uns zu t-t-t…«

»Na, was?«, knurrte Alphart. »Spuck’s schon aus!«

»Zu traktieren«, presste der Kobling jämmerlich hervor.

Alphart spürte, wie sich sein Innerstes verkrampfte. Inzwischen konnte auch er die Schritte hören, ein schleppender Gang über steinigen Boden. Der Blutgeruch nahm zu und wollte dem Wildfänger den Magen umdrehen. Wie seine Gefährten starrte auch er gebannt auf das Gitter, hinter dem im nächsten Moment ein drohender Schatten erschien. Vom flackernden Feuerschein dorthin geworfen, geisterte er über die Höhlenwand, gefolgt von seinem Besitzer. Jäh begriff Alphart, weshalb die Gesichter seiner Gefährten derart von Entsetzen gezeichnet waren, und er fühlte, wie namenlose Furcht auch nach seinem Herzen griff.

Mit blutunterlaufenen Augen starrte eine entstellte Kreatur in das Kerkerloch, bleckte ihre schiefen gelben Zähne, und ein abgrundtiefes Lachen drang aus ihrer Kehle.

»Wer?«, fragte sie mit einer Stimme, die sich wie das Knirschen von rostigem Metall anhörte. »Wer will der Erste sein …?«

56

»Zum Angriff!«

Barands heiserer Befehl schmetterte durch das verschneite Tal. Wie eine Lawine breitete sich sein Ruf aus, als seine Stellvertreter und Unterführer ihn aufnahmen und weitergaben, ihn bis in die letzte Reihe des gewaltigen Heeres trugen, das Iónador aufgeboten hatte.

Es waren dreihundert schwer gepanzerte Reiter, die den ganzen Stolz und die besten Familien der Goldenen Stadt repräsentierten, dazu fünfhundert weitere, leicht bewaffnete Kämpfer und eintausend Ritter und Schwertkämpfer, die die Streitmacht der Grenzburgen darstellten, vom Seewald im Westen bis zu den Pfründen des Ostmoors. Des Weiteren hatte man zweitausend Mann Fußvolk aufgeboten – Bauern aus ganz Allagáin, die von ihren Gehöften geholt worden waren, um ihre Heimat gegen die Waldbarbaren zu verteidigen. Außerdem waren zahlreiche Pfeilgeschütze entlang der Hänge verteilt …

Schon einmal, vor Jahrhunderten, hatten die Barbaren ihr angestammtes Gebiet im Dunkelwald verlassen und waren in Allagáin eingefallen; plündernd und brandschatzend waren sie gen Süden gezogen bis vor die Mauern Iónadors. Mit Erbitterung war der Kampf um die Goldene Stadt geführt worden und hatte fast mit einer Niederlage Iónadors geendet – bis Fürst Dóloan das Heft des Handelns an sich gerissen hatte. Indem er den glücklosen König entthronte und sich selbst zum Regenten ausrief, brachte er auch den Oberbefehl über das Heer an sich. Seiner Tatkraft war es zu verdanken, dass die Barbaren zurückgeschlagen und in den Dunkelwald zurückgetrieben werden konnten, wo sie lange Zeit geblieben waren.

Bis vor wenigen Wochen …

Mit brennenden Gehöften entlang der Grenze hatte es angefangen – Überfälle, die durch nichts provoziert worden und ohne jede Vorwarnung erfolgt waren –, und Klaigon, der Fürstregent von Iónador, hatte nicht lange gezögert, das größte Heer in Marsch zu setzen, das seit den Tagen Dóloans gesehen worden war. Innerhalb von nur wenigen Tagen hatte er Waffen für diese riesige Streitmacht stellen können, mit denen das »Tausendheer« ausgerüstet worden war. Woher all diese Waffen kamen, danach hatte Barand nicht gefragt.

Als Marschall und oberster Schwertführer von Iónador war es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass sich nicht wiederholte, was damals beinahe zum Fall der Goldenen Stadt geführt hätte. Aus diesem Grund verfolgte Barand eine andere Strategie, als sie damals Anwendung gefunden hatte. Statt sich hinter den ehrwürdigen Mauern Iónadors zu verschanzen und abzuwarten, bis die Barbaren anrückten, war er ihnen entgegengezogen.

Im Tal des Allair war es dann zur Begegnung der beiden Streitmächte gekommen, und seitdem lagen sie einander gegenüber: das riesige Heer Iónadors auf der einen Seite des Flusses, die Horden der Waldbarbaren auf dem gegenüberliegenden Ufer.

In einem gewöhnlichen Spätsommer hätte das reißende Band des Allair die beiden verfeindeten Parteien voneinander getrennt – in diesem Jahr jedoch war das Tal bereits tief verschneit, und dickes Eis hatte den Fluss erstarren lassen, das sich schon bald rot färben würde vom Blut der Gefallenen …

Barands Wille, Iónador zu verteidigen und die Feinde der Goldenen Stadt zu vernichten, war ungebrochen – allerdings nagten tief in ihm auch Zweifel. Etwas, das sagten ihm die Instinkte des Kämpfers, stimmte nicht, und es lag nicht nur an dem strengen Winter, der früher als in jedem anderen Jahr über die Täler hereingebrochen war.

Vorhin erst war es zum Treffen der beiden verfeindeten Heerführer gekommen. Über die gefrorene Fläche des Allair hinweg hatten sie einander in die Augen geblickt und sich gegenseitig ihrer bittersten Entschlossenheit versichert. Es war nur eine kurze Begegnung gewesen, dennoch kam Barand nicht umhin, sich einzugestehen, dass er beeindruckt gewesen war.

Der Anführer des Waldheeres – ein gewisser Galfyn – war augenscheinlich alles andere als ein Barbar, sondern ein stolzer junger Krieger, der für seine Sache nicht weniger entschieden streiten würde als Barand für die seine. Weder hatte er den Eindruck eines hinterhältigen Räubers gemacht noch eines Primitiven, der in dunklen Wäldern hauste. Insofern hatte Barand einige der Vorstellungen, die er sich von den Bewohnern des Dunkelwaldes gemacht hatte, nachbessern müssen.

Allerdings änderte das nichts an seiner Mission.

Die Waldkrieger, Barbaren oder nicht, waren in Allagáin eingefallen, und dafür verdienten sie die denkbar härteste Bestrafung. Barand hatte einen Eid geschworen, und es stand ihm nicht zu, Entscheidungen des Fürstregenten infrage zu stellen. Der Sieg musste errungen werden, um die Bedrohung durch die Waldbewohner ein für alle Mal auszumerzen. Wenn ihm dies gelang, so würde man Barands Namen in einem Atemzug mit dem großen Dóloan nennen. Man würde ihm Standbilder errichten und Heldenlieder über ihn singen.

Aber noch war es nicht so weit. Vorher musste diese Schlacht geschlagen werden. Noch trennte ihn der bevorstehende Kampf vom Sieg und unsterblichen Ruhm …

Der Anführer der feindlichen Streitmacht hatte sich als Galfyn vom Falkenclan vorgestellt. Als Herr von Burg Seabon Leac trug auch Barand den Falken in Namen und Wappen, und er fragte sich unwillkürlich, ob sich hinter dieser simplen Tatsache mehr verbarg als bloßer Zufall. War es ein Wink des Schicksals oder ein Hinweis des Schöpfers? Aber wenn ja, worauf?

Barand verwarf den Gedanken rasch wieder und hätte auch keine Zeit mehr gehabt, ihn weiterzuverfolgen.

Denn die Schlacht begann.

Die Unterführer hatten den Angriffsbefehl weitergegeben. Trommeln wurden geschlagen, und der Klang der Kriegstrompeten, der sich in der Kälte schräg und blechern anhörte, scholl über den Fluss, während sich die Reiterei in Bewegung setzte.

Barands Strategie war einfach.