Ich trete in die Pedale und schlängele mich mit dem Rad zwischen den hupenden Autos durch. Es ist der erste Montag seit Wochen, an dem ich allein in die Schule fahre. Daran werde ich mich jetzt wohl gewöhnen müssen, Omar wird noch eine ganze Weile außer Gefecht gesetzt sein. Wie lange dauert es eigentlich, bis eine Schussverletzung verheilt ist?
Becky und Julia warten vor der Schule bei den Fahrradständern auf mich. Zu meiner Überraschung ist Alex Ritter auch dabei.
»Hey.« Er grinst mich ein wenig verlegen an.
»Hey.« Wir beide konnten uns schon immer toll unterhalten.
»Wo ist Omar?« Becky späht durch das Schultor die Straße hinunter.
»Ähm … krank.« Ich hantiere umständlich mit meinem Fahrradschloss herum, um meine Freunde nicht ansehen zu müssen, während ich sie anlüge. »Also nicht richtig krank, er hat sich doch am Freitag beim Schulball verletzt, erinnert ihr euch?«
»Mir war nicht klar, dass es so schlimm ist.« Julia klingt ehrlich besorgt.
»Du hast so viel Sekt getrunken, dass dir gar nichts mehr klar war«, erklärt Becky ernsthaft.
Julia wirft ihr einen bösen Blick zu. »Was ist denn genau passiert?«
»Ähm …« Na großartig, noch mehr Lügen. »Er ist, äh, gestürzt. Dabei hat er sich die Schulter verletzt.« Ich bemühe mich, ein möglichst ehrliches Gesicht zu machen.
»Oh, das ist aber schade.« Alex ist ein noch schlechterer Lügner als ich. »Wie lange muss er denn zu Hause bleiben?«
»Er wollte heute eigentlich wieder in die Schule kommen, aber er hat mir vorhin getextet, dass er noch einen Tag länger zu Hause bleibt.«
Irre ich mich oder erhellt sich Alex' Miene? Jedenfalls macht er einen Schritt auf mich zu. »Er sollte ruhig länger daheim bleiben, sich richtig auskurieren. Nicht, dass er uns alle damit ansteckt.«
»Er hat bloß eine verletzte Schulter, Alex.«
»Oh, mit so einer Schulter ist nicht zu spaßen, das muss man ernst nehmen.« Alex grinst und stupst mich an.
Ich muss auch grinsen. »Spinner.«
Julia und Becky beobachten uns mit Argusaugen. Ich räuspere mich und krame verlegen in meiner Schultasche. Zu meiner Rettung kommen ein paar Mädchen aus der Parallelklasse an uns vorbei.
»He, Lori, spitzen Balldeko am Freitag!«
»Die war der Hammer!«
Sie klopfen mir im Vorbeigehen auf die Schulter. Ich lächle überrascht. So etwas ist mir, Hannelore Kozlowski-Swoboda, früher nie passiert.
»Gewöhn dich lieber daran«, sagt Julia. »Die Balldeko ist jetzt schon legendär.«
»Das war Omars Werk, nicht meins.«
Julia hängt sich bei mir unter. »Ja, aber offiziell warst du für die Deko verantwortlich. Er hat's also für dich getan.« Sie schmunzelt. »Okay, nachdem offenbar kein anderer die Frage stellt, die uns alle brennend interessiert, tu ich's einfach: Was ist denn jetzt mit dir und Omar? Seid ihr zusammen?«
Plötzlich verschwindet das Grinsen aus Alex' Gesicht und er starrt mich angespannt an.
»Nein«, sage ich schnell. »Das ist Quatsch, Julia.«
»Er hat dich doch auf dem Ball geküsst!«
»Ähm … ja.« Ich spüre, wie ich knallrot anlaufe, und starre hinunter auf meine Schuhspitzen.
»Aber ihr seid nicht zusammen?«, bohrt sie nach.
»Nein.«
»Okay.« Sie zuckt mit den Schultern. »Ich wollte das bloß mal klarstellen.«
Alex entspannt sich merklich.
»Wisst ihr was?« Ich fische nach dem erstbesten Thema, das mir einfällt, um von Omar und mir abzulenken. »Wir sollten alle zusammen heute Nachmittag etwas unternehmen. Alex, du könntest deinen Bruder Sebastian mitbringen. Was haltet ihr davon?«
»Ich wusste gar nicht, dass du einen Bruder hast«, sagt Julia.
»Ja, er, äh, studiert an der Technischen Uni.« Alex wirkt ein bisschen überrumpelt. »Maschinenbau. Ich frag ihn, ob er heute Zeit hat.« Dabei sieht er mich an und zieht eine Grimasse, die deutlich fragt: Was zum Teufel soll das?
»Wir könnten in die Kletterhalle gehen«, schlägt Julia vor.
Becky runzelt die Stirn. »Ich dachte, du hasst die Kletterhalle? Du weißt schon, seit der Sache mit diesem Jens, der seine Freundin zu eurem Date mitgenommen hat …«
»Ich habe es nicht vergessen, Becky, danke«, murrt Julia. »Abgesehen von dem Fiasko mit Jens war es eigentlich ganz lustig dort. Ich habe mir gedacht, wir könnten es alle gemeinsam mal ausprobieren …«
»Du hast mich doch auf dem Ball gefragt, ob wir Julia deinem Bruder vorstellen könnten«, zische ich Alex zu, während sich Becky und Julia unterhalten.
»Ja«, zischt er zurück, »aber ich dachte, dass wir es vielleicht ein bisschen unauffälliger machen könnten. Du weißt schon, ich nehme ihn zufällig mal mit, wenn wir ausgehen, irgendwie so was …«
»Oh.« Ich wende mich an Julia. »Sein Bruder ist übrigens Single.«
Ich höre Alex mit den Zähnen knirschen.
»Sieht er gut aus?« Julia schmunzelt.
»Leute, wir kommen zu spät zum Unterricht.« Becky packt Julia am Arm und zieht sie mit sich in Richtung Schulhaus.
»Siehst du? Das klappt schon, vertrau mir.« Ich tätschele Alex' Arm, während wir hinter den Mädchen hergehen. Es fühlt sich merkwürdig an, plötzlich so vertraut mit ihm umzugehen.
»He, Ritter!« Phillip, der Vollidiot, taucht hinter uns auf. Er hat seinen Arm um Miras Schultern gelegt. Anna-Maria und der Rest der Clique trotten hinter den beiden her. »Hängst du jetzt mit Kotzbrocken-Schwabbelig ab, oder wie?«
»Ihr Name ist Lori«, sagt Alex und richtet sich auf. »Hast du ein Problem damit?«
Phillip grinst hämisch. »Mach doch, was du willst. Wir haben uns offenbar in dir geirrt, Ritter. Häng ruhig weiter mit den Losern ab …«
Mira und die anderen lachen, als sie sich an uns vorbeischieben und dabei Julia und Becky anrempeln.
»Sind die zwei etwa zusammen?«, murmelt Julia und reibt sich die Schulter.
»Seit dem Ball«, erwidert Alex düster.
Julia schüttelt den Kopf. »Die zwei haben einander verdient. Die Hexe und der Gorilla, was für ein Pärchen!«
Becky wendet sich in ihrer typischen, unverblümten Art Alex zu. »Tut mir leid, dass du deine alten Freunde verloren hast. Sind wir jetzt deine neuen Freunde?«
So etwas kann auch nur Becky fragen! Es ist ihr voller Ernst und sie blickt Alex erwartungsvoll an. Der reibt sich ein wenig verlegen den Nacken.
»Ähm … na ja … ja. Also, wenn das okay für euch ist«, fügt er ein wenig unsicher hinzu.
»Ist es«, sagt Becky. »Aber du darfst dich nicht mit Omar über Lori streiten. Erstens gehört er schon länger zu unserer Clique und zweitens ist das sowieso Loris Entscheidung, wen von euch beiden sie will.«
»Becky!« Entsetzt starre ich meine Freundin an und werde über und über rot im Gesicht.
»Ich sage doch bloß, wie es ist.« Sie zuckt mit den Schultern.
Alex guckt mich so verdattert an, dass ich trotz der mega-peinlichen Situation grinsen muss. »An Beckys Direktheit wirst du dich gewöhnen müssen«, murmele ich entschuldigend.
»Ist okay«, brummt er zurück, ebenfalls rot im Gesicht. »Wenigstens bin ich Phillip, diesen selbstverliebten Arsch, los. Und ganz ehrlich: Mira konnte ich auch nie leiden.«
Mein Grinsen reicht jetzt von einem Ohr zum anderen. Mit Alex Ritter befreundet zu sein wird von Minute zu Minute besser.
Plötzlich ertönt das laute Rattern eines Motorrads. Wir drehen uns um und beobachten einen Typ auf einer schwarzen Harley Davidson, der sich seinen Weg durch eine Gruppe Schüler bahnt, langsam über den Schulparkplatz rollt und schließlich stehen bleibt.
Alle weichen zurück und starren neugierig den Fahrer an, der den Motor abstellt und von der schweren Maschine steigt. Er trägt schwarze Lederkleidung, Stiefel und einen Helm. Es wirkt unecht, fast wie eine Szene aus einem Film, als er langsam den Helm abnimmt und seine dunklen Haare schüttelt.
Ich schlage mir die Hand vor den Mund, um ein erschrockenes Keuchen zu ersticken.
Der Typ hat uns entdeckt und schenkt mir ein breites Hollywood-Lächeln. Ich höre Julia neben mir seufzen.
»Wer ist der Kerl?«, haucht sie und packt meine Hand.
Er kommt auf uns zu, den Helm lässig unter seinem Arm eingeklemmt. Alle Schüler machen ihm Platz, während er den Schulhof überquert; groß, schlank, mit karamellfarbener Haut und so dunklen Wimpern, als wären seine Augen mit Kajal umrahmt. In der Lederkleidung sieht er aus wie ein Rockstar.
»Lori.« Er bleibt lächelnd vor mir stehen.
Julia und Becky starren ihn sprachlos an und Alex Ritters Kinnlade ist heruntergefallen.
»Was machst du denn hier?«, hauche ich, vollkommen überrumpelt.
Er grinst selbstsicher. »Wie gefällt dir mein Motorrad?«
»Es ist …« Mein Blick flackert über die protzige Maschine, den blitzenden Lack und die funkelnden Chromfelgen. »Es ist … wirklich … schwarz.« Ich lächle ein wenig hilflos. »Was, äh, machst du hier?«, wiederhole ich meine Frage.
»Ich wollte mir mal deine Schule ansehen«, schmunzelt er und betrachtet interessiert das Gebäude. »Und natürlich deine Freunde kennenlernen. Persönlich, meine ich. Ich war ja schon oft mit dabei, allerdings war ich immer in der La…«
»La! Lalala!«, unterbreche ich ihn ziemlich laut und mit hörbarer Panik in der Stimme. Dass mich die anderen für bekloppt halten müssen, ist mir in diesem Moment egal. »Okay!« Ich versuche, das Ganze wie einen Scherz aussehen zu lassen, doch meine Freunde starren mich verständnislos an. »Also, äh, Schulhaus, Freunde …« Ich deute auf den Eingang und auf Julia, Becky und Alex. Dann drehe ich den Leder-Typ um und schubse ihn zurück Richtung Motorrad. »Toll, dass du da warst, wir müssen jetzt los zum Unterricht, also, bis dann!«
»Lori!« Julia klingt entrüstet.
»Kennst du den Typ etwa?«, fragt Alex.
Mein Blick flackert Hilfe suchend zu Becky, doch sie sieht genauso perplex aus wie die anderen.
»Ja, ich kenne ihn«, murmele ich und ringe mir ein Lächeln ab, in dem vergeblichen Versuch, diese Situation irgendwie zu retten. »Das ist mein … ich meine, das ist ein … äh … ja, ich kenne ihn. Wir müssen jetzt echt los, also wenn du dann …?«
Zu meinem Entsetzen denkt er gar nicht daran, abzuhauen, sondern streckt Alex die Hand hin. »Ich freue mich so, Loris Freunde endlich persönlich zu treffen. Ich habe schon so viel von euch gehört. Du musst Alex Ritter sein.«
Alex schüttelt ihm mit einem irritierten Gesichtsausdruck die Hand, nickt und sein Blick flackert verunsichert zu mir. »Und, äh, du bist …?«
»Du musst Julia sein!« Er ignoriert Alex und wendet sich den Mädchen zu. »Und du bist bestimmt Becky! Es kommt mir vor, als würde ich euch schon lange kennen!«
»Wirklich?« Julia lächelt verstört. »Wir haben noch nie von dir gehört. Lori …?« Sie wendet sich mir fragend zu.
Ich kichere unsicher. Himmel, was mache ich jetzt nur?! »Ähm, tja, das ist eine lange Geschichte … Ihr werdet es nicht glauben, aber, ähm, das ist …«
»Ich bin Dschinn«, sagt er plötzlich.
Mein aufgesetztes Lächeln gefriert.
»Was?«, fragt Alex.
»Hast du Dschinn gesagt?«, fragt Julia.
Becky reißt die Augen auf.
Der Dschinn nickt, während ich gleichzeitig den Kopf schüttele.
»Ja«, sagt er.
»Nein!«, sage ich gleichzeitig und pruste ein wenig übertrieben los. »Natürlich hat er nicht Dschinn gesagt.«
»Klang aber so«, sagt Julia.
»Wie heißt du denn jetzt?«, fragt Alex irritiert.
»Dschinn«, wiederholt er.
»Nein!« Ich lache kopfschüttelnd und wünsche mir, dass sich die Erde auftut und ich in irgendeinem Loch verschwinden kann. Auf der Stelle. »Das ist doch bloß ein Scherz. Nicht wahr, er macht diesen Scherz öfter!« Ich knuffe ihn in die Schulter. Ob mir meine Freunde die Show abnehmen werden? Sie sehen verdammt misstrauisch aus. Ach, Mist!
Julia starrt mich an und Alex zieht die Brauen hoch.
»Sein Name ist … äh … sein Name ist …« Verdammt! Ich brauche einen Geistesblitz, sofort! »Dschi… Dschi…« Oh Gott.
»Jim?« Becky legt den Kopf schief.
»Ja!«, keuche ich erleichtert. »Das ist Jim.«
»Der Jim, von dem du mir erzählt hast?«, fragt Becky unschuldig.
»Ja, genau der.« Ich könnte Becky umarmen!
»Mir hast du nie von ihm erzählt.« Julia runzelt die Stirn. »Woher kennt ihr euch?«
Ich starre den Dschinn an. »Das … äh … war eine witzige Geschichte …«
Julia und Alex schweigen erwartungsvoll.
»Oder … nicht ganz so witzig«, füge ich schnell hinzu. »Eigentlich war die Geschichte überhaupt nicht witzig, eher langweilig, total uninteressant …«
»Woher kennt ihr euch denn jetzt?«, fragt Julia ungeduldig.
»Äh …« Er kam aus der Lampe, die ich auf dem Flohmarkt gekauft habe – Julia und Alex würden mich doch für irre halten!
»Aus dem Internet«, sagt Becky plötzlich. »Mailt ihr euch nicht schon seit einer Weile?«
»Ja!« Mann, ich bin Becky echt was schuldig! »Genau. Wir mailen uns. Der Dschinn – ich meine, der Jim … also dieser Jim hier … ist ein Freund von, äh, Omar. Ja, so war's, so haben wir uns kennengelernt.«
»Lori, du schwitzt ja«, sagt Julia. »Ist alles in Ordnung?«
Ich wische mir den Panikschweiß von der Stirn. »Ja, ja. Das ist noch vom Radfahren. War ziemlich anstrengend.«
»Woher kennst du Omar?«, fragt Alex den Dschinn.
»Vom Kampf gegen den Orden«, erwidert der Lampengeist, bevor ich ihn stoppen kann.
»Von was?«, fragt Alex entgeistert.
»Der Orden wollte mich vernichten, aber Omar hat gegen ihn gekämpft und gemeinsam mit Loris Hilfe konnten wir ihn besiegen …«
»Ein Online-Spiel!« Ich lege meine Hand auf den Arm des Dschinns in der Hoffnung, dass er endlich die Klappe hält. »Omar und Jim spielen dieses Computerspiel, da geht's um einen Orden, eine verrückte Fantasy-Geschichte, ihr wisst schon, Orden, vernichten, alles so was – oh, schon so spät, wir müssen jetzt wirklich los, der Unterricht fängt gleich an! War nett, mit dir zu plaudern, Jim, bis dann!«
»Bis später«, murmelt Julia verwirrt, während ich sie und Alex am Arm packe und mit mir wegziehe, bevor der Dschinn mich in die nächste Katastrophe hineinreiten kann.
»Merkwürdige Freunde hast du«, murmelt Alex, als wir außer Hörweite des Dschinns sind.
»Er schien ganz nett zu sein«, meint Julia.
»Ich wusste nicht, dass er hier auftauchen würde, ehrlich«, stöhne ich, während wir die Treppen hinauflaufen.
Wir erreichen unser Stockwerk, doch Becky zieht mich von den anderen weg, bevor wir die Klasse betreten. »Wir müssen aufs Klo.«
Bevor Julia sich uns anschließen kann, schubst Becky mich in den Waschraum und schließt die Tür ab. »Was war denn das gerade eben?«
Ich schaue möglichst unschuldig drein. »Was genau meinst du?«
»Ernsthaft, Lori? Ich rede von Jim, deinem Flaschengeist!«
»Lampengeist. Er wird immer sauer, wenn man ihn als Flaschengeist bezeichnet. Keine Ahnung, warum.«
Becky wird blass. »Dann war er es also wirklich?«
Ich weiß nicht mehr, wie ich mich rausreden soll. Die Katze ist aus dem Sack. Oder der Geist aus der Lampe – gewissermaßen. Also nicke ich langsam.
Becky packt mich an den Schultern. »Lori! Wieso taucht er einfach so hier auf? Ich dachte, wir hätten darüber gesprochen! Der Geist ist gefährlich, hast du das vergessen? Was, wenn er dir etwas antut?«
»Beruhige dich, Becky, er tut mir nichts an. Und er ist auch nicht gefährlich.« Ich denke plötzlich daran, wie der Dschinn die Ordensmänner zu Asche verbrannt hat. »Okay, also jedenfalls ist er nicht gefährlich für mich. Es ist einiges passiert, Becky, seit wir das letzte Mal darüber gesprochen haben. Du weißt nicht, was auf dem Ball geschehen ist …«
»Was denn? Hast du deine Wünsche aufgebraucht?« Sie reißt die Augen auf. »Du hast ihn doch nicht etwa freigewünscht, Lori? Bist du völlig verrückt geworden?«
»Jetzt hör mir doch mal zu! Es ist alles anders, als du denkst! Ich war mir auch nicht sicher, ob der Dschinn böse ist, aber ich habe ein langes Gespräch mit ihm geführt und da hat er mir alles erklärt. Die Menschen wünschen sich die falschen Dinge, die sie ins Unglück stürzen, deswegen haben die Dschinns den Ruf, verfluchte Geister zu sein. Und der Dschinn war es leid, immer wieder aufs Neue Wünsche erfüllen zu müssen, die den Lampenbesitzer am Ende unglücklich machen, deshalb hat er mich gebeten, ihn freizuwünschen.«
»Du hast es doch nicht getan, oder, Lori?«, fragt Becky ängstlich. »Du hattest doch noch einen zweiten Wunsch, was hast du denn mit dem gemacht?«
»Auf dem Ball habe ich beschlossen, euch meinen Wunsch zu schenken. Dir und Julia.«
»Wirklich?«, fragt Becky leise. Sie scheint gerührt.
Ich nicke. »Ich wollte mir etwas für euch beide wünschen, weil ihr so tolle Freundinnen seid.«
»Oh, Lori! Das ist wirklich lieb von dir!«
»Leider bin ich nicht dazu gekommen. Der Orden ist nämlich auf dem Ball aufgetaucht.«
»Der Orden? Die Kerle, die dich beschattet haben?«
»Sie waren hinter der Lampe her. Omar hat mich vor ihnen beschützt. Es hat sich herausgestellt, dass er und sein Vater ebenfalls einem Orden angehören, allerdings versuchen sie, die Dschinns zu beschützen.«
»Omar weiß von der ganzen Sache?«
»Oh, ja. Und er ist nicht gestürzt, Becky. Er wurde angeschossen, als er versucht hat, mein Leben zu retten.«
Becky quietscht leise und lehnt sich gegen die Wand. »Wie geht es ihm?«, flüstert sie.
»Er wird es überstehen. Der Dschinn hat ihn gerettet. Und ich habe den Dschinn freigewünscht. Es war die einzige Möglichkeit, zu verhindern, dass der Orden die Macht des Dschinns in die Finger kriegt.«
»Der Dschinn ist also frei?«
»Seit Freitagnacht.«
Becky runzelt die Stirn. »Was macht er dann noch hier?«
»Das weiß ich auch nicht so genau. Er ist am Freitag nach dem Ball bei mir zu Hause aufgetaucht und hat mich gefragt, ob er eine Weile bei mir bleiben darf.« Ich kann nicht verhindern, dass ich bei den Worten rot werde. »Ich habe natürlich nicht gedacht, dass er damit gemeint hat, mit mir in die Schule zu kommen.«
Beckys Augen werden schmal. »Du magst ihn.«
»Was? Nein! Ich … weiß nicht so genau.«
»Hannelore Kozlowski-Swoboda. Sieh mich an und sag mir, dass er dir nicht gefällt!«
Oh, Mist. Meine Wangen glühen.
»Ha! Ich wusste es!« Becky wird wieder ernst. »Was ist mit den anderen beiden? Mit Omar und mit Alex?«
»Keine Ahnung«, stöhne ich.
»Du stehst schon seit der Sechsten auf Alex Ritter. Er hat sogar seine alten Freunde wegen dir aufgegeben.«
»Ich weiß«, stöhne ich. »Aber es ist so viel passiert in den letzten Wochen … ich bin einfach nicht mehr die alte Lori und ich weiß nicht, ob mir der alte Alex Ritter noch genügt. Klingt das bescheuert für dich?«
Becky überlegt. »Nein. Ich finde, er kann sich ruhig ein bisschen anstrengen. Es ist gut, dass er Konkurrenz hat. Omar mag dich wirklich gern.«
»Ich mag Omar auch wirklich gern«, sage ich leise.
»Ohhhh, echt? Wie gern?«
»Das weiß ich noch nicht so genau«, murmele ich. »Kann man in mehrere Jungs gleichzeitig verknallt sein?«
»Keine Ahnung, was fragst du mich? Julia ist unsere Expertin für Liebesangelegenheiten. Ich war noch nie im Leben so richtig verknallt.«
»Ich schon. In Alex Ritter, eben.«
»Das Leben war viel einfacher, als er noch der tollste Junge auf der Welt war, oder?«, fragt Becky mit einem weisen Lächeln.
»Mh-mh.« Ich nicke. »Danke, dass du die Sache mit dem Dschinn für dich behältst. Ich hoffe, dass er nie wieder in der Schule auftaucht.«
»Kein Problem. Doch wie genau er dich davon überzeugt hat, dass er kein böser Geist ist, musst du mir später mal erklären.« Sie verstummt und überlegt. »Meinst du, dass dieser Sebastian wirklich etwas für unsere Julia wäre?«, fügt sie nach einer Weile hinzu.
»Keine Ahnung. Das finden wir vielleicht heute Nachmittag in der Kletterhalle heraus.« Ich hänge mich bei Becky unter, während wir zurück in die Klasse gehen. Frau Gruber steht bereits in der Tür und winkt uns hinein.
»Beeilt euch! Es hat längst geläutet.«
Während ich mich auf meinen Platz neben Becky sinken lasse, stöhne ich innerlich auf, erleichtert darüber, wie glimpflich die Sache auf dem Schulhof ausgegangen ist. Sobald ich nach Hause komme, muss ich dem Dschinn klarmachen, dass es nicht okay ist, sich allen als »Dschinn« vorzustellen, und womöglich noch in aller Öffentlichkeit ein Zauberkunststück zum Besten zu geben! Freiheit hin oder her, und auch wenn er noch so gut ausgesehen hat in diesen Lederklamotten …
Frau Gruber beginnt mit dem Unterricht, doch plötzlich wird die Klassentür aufgerissen – und mir bleibt fast das Herz stehen. Unser Direktor erscheint und neben ihm – ein breites Lächeln im Gesicht – der Dschinn, in seiner ganzen ledernen Bad-Boy-Pracht.
Die Klasse ist völlig still, dann fängt das Getuschel an und Mira und Anna-Maria kichern los.
»Ich dachte, sie wäre mit Phillip zusammen«, raunt uns Julia zu, als sich Mira flirtend durch die Haare fährt. »Kann kein gut aussehender Kerl zur Tür reinkommen, ohne dass sie sich ihm gleich an den Hals wirft?«
»Was will er denn hier?«, hauche ich schwach und starre den Dschinn an. Mir schwant bereits Schreckliches. Der Dschinn wird doch nicht …?
»Liebe Schüler, ich möchte euch euren neuen Mitschüler vorstellen«, sagt der Direktor. »Das ist Jim.«
»Hey.« Der Dschinn winkt und grinst in die Runde. Ich würde am liebsten schreien. Das darf doch nicht wahr sein!
»Setz dich auf den freien Platz dort.« Frau Gruber deutet auf den Platz neben Alex Ritter.
»Nein«, platzt Alex heraus, anscheinend selbst überrascht über seinen barschen Tonfall. »Ich, äh, meine, der Platz ist schon besetzt. Omar sitzt hier.«
»Gut, dann setz dich neben …«, Frau Grubers Blick wandert durch die Klasse, »Lori.«
»Nein!« Alex' Stimme hallt so laut durch die Klasse, dass alle sich zu ihm umdrehen.
»Ich … wollte sagen, Omar ist ja nicht da, Jim kann also ruhig inzwischen hier sitzen, wenn er will«, fügt Alex hastig hinzu. Seine Ohren glühen rot.
Der Dschinn grinst Alex freundlich an und lässt sich in Omars Stuhl fallen. Ich hocke wie erstarrt neben Becky, während Frau Gruber mit ihrem Unterricht fortfährt.
»Hast du gewusst, dass er in unsere Klasse gehen wird?«, flüstert mir Julia zu.
»Nein, ich schwöre es«, murmele ich. »Ich hatte keine Ahnung.«
»Bestimmt wollte er dich überraschen«, sagt Becky leise.
»Die Überraschung ist ihm gelungen«, quieke ich.
Der Dschinn sieht sich zufrieden in der Klasse um. Es scheint ihm überhaupt nichts auszumachen, dass alle anderen Schüler ihn anstarren. Ich muss mich dazu zwingen, weiterzuatmen, weil ich vor lauter Panik die Luft angehalten habe. Unter dem Tisch packe ich Beckys Hand und drücke sie so fest, dass Becky vor Schmerz unterdrückt aufkeucht.
»Was soll ich denn jetzt bloß machen?«, flüstere ich beinahe hysterisch.
»Lori …«
»Ich bin erledigt!«
»Lori …«
»Mein Jim sitzt da vorn in meiner Klasse!«
»Lori, du brichst mir die Finger!«
»Oh. Tut mir leid.« Ich lasse ihre Hand los und Becky reibt sich die schmerzenden Knöchel.
»Ich muss ihm sagen, dass er hier nicht zaubern darf!«, flüstere ich panisch.
Beckys Kinnlade klappt auf. »Du meinst, das weiß er nicht?«
»Keine Ahnung! Wer weiß, was ihm einfällt? Bis gerade eben hätte ich mir nicht träumen lassen, dass er hier auftauchen würde, und jetzt sitzt er neben Alex Ritter!« Ich stütze meine Ellbogen auf dem Tisch auf und vergrabe meinen Kopf unter meinen Armen.
»Wir müssen nur diese eine Stunde durchhalten«, flüstert Becky aufmunternd. »In der Pause schnappst du ihn dir und machst ihm klar, dass er … undercover hier ist, okay?«
»Du hast ja keine Ahnung, wozu er fähig ist«, nuschele ich durch meine Arme hindurch. »Er bringt es fertig und … und … keine Ahnung, setzt den Klassenraum unter Wasser, was weiß ich!«
»Dann musst du es ihm eben sofort mitteilen. Schick ihm eine Nachricht. Hat er ein Handy?«
Ich hebe den Kopf und starre Becky an. »Ist das dein Ernst? Bis vorhin hatte er noch nicht mal einen Namen.«
»Oh. Okay. Dann eben per Schneckenpost.« Sie reißt ein Blatt Papier von ihrem Schreibblock und reicht es mir.
»Das ist jetzt ein Scherz, oder?«
»Hast du eine bessere Idee?«
Nein, die habe ich nicht. »Aber was ist, wenn jemand anders den Zettel liest?«
Becky verdreht die Augen. »Ehrlich, guckst du keine Gangsterfilme? Du musst die Nachricht verschlüsseln.«
Ich starre den blanken Zettel an. Was soll ich nur schreiben? Bitte setz deine Dschinn-Kräfte nicht ein? Ganz schlechte Idee. Aber wenn ich ihm nicht schreibe, tut er vielleicht irgendetwas Verrücktes! In meiner Verzweiflung kritzele ich los.
Becky späht zu mir rüber.
»Was soll denn das sein? Ein Hund, der eine Spirale verschluckt?«
»Das ist ein Elefant!«, flüstere ich beleidigt zurück. »Und er hat keine Spirale verschluckt, das ist sein Rüssel!«
Becky legt den Kopf schief. »Ach ja, jetzt erkenne ich ihn …«
»Mach du es doch, wenn du einen Elefanten besser zeichnen kannst als ich!«
»Warum zeichnest du überhaupt einen Elefanten?«
Ich streiche den Spiralen-Hund durch, male ein großes L. darunter und falte den Zettel zusammen. Außen schreibe ich »Jim« drauf und reiche ihn an Becky weiter. »Ich hoffe, er kapiert es.«
»Na, ich kapiere es jedenfalls nicht«, murmelt Becky.
»Er hat vor ein paar Wochen einen Elefanten in unseren Vorgarten gezaubert«, flüstere ich Becky zu. »Da habe ich ihm klipp und klar gesagt, dass er so was nie wieder machen darf. Hoffentlich erinnert er sich noch daran.«
Becky nickt und reicht den Zettel an Julia weiter. »Für Jim, von Lori.«
Julia grinst mich an und schiebt dem Mädchen in der Reihe vor ihr den Zettel zu. Ich beobachte gespannt, wie die Nachricht weiterwandert.
»Was soll das sein?«
»Keine Ahnung. Ist für den Neuen. Von Lori.«
»Im Ernst? Von Lori?«
»Gib es einfach weiter.«
Der Zettel wandert von Schüler zu Schüler.
»Für wen ist das?«
»Für Jim.«
»Wer ist Jim?«
»Ich glaube, der neue Typ.«
»Das ist die schlechteste Schneckenpost-Weitergabe aller Zeiten«, flüstere ich Becky zu und blinzele ängstlich zwischen meinen Fingern durch, während die Nachricht in Zeitlupe von Bank zu Bank weitergegeben wird. »Hoffentlich landet der Zettel nicht bei – oh, nein!«
In diesem Moment dreht sich Phillip grinsend zu mir nach hinten um, die Nachricht in seiner Hand. »Lori schreibt dem Neuen!« Er faltet den Zettel auseinander und tut so, als würde er sie vorlesen: »›Willst du mit mir gehen? Ja. Nein. Vielleicht.‹ Oh, wie niedlich! Du hast eine Option vergessen: ›Ich gehe nicht mit Kotzbrocken-Schwabbelig‹!« Seine Freunde, Mira und Anna-Maria lachen.
Noch vor ein paar Monaten wäre ich vor Scham im Boden versunken. Jetzt laufe ich zwar immer noch bis über beide Ohren knallrot an, aber ich lasse Phillip damit nicht mehr davonkommen. »Ich bin schockiert, Phillip – wann hast du lesen gelernt?«
Jetzt lachen auch alle anderen. Julia grinst mich an und nickt mir zu, und sogar Alex Ritter schmunzelt – obwohl ihm im nächsten Moment das Lächeln gründlich vergeht.
»Das reicht!« Frau Gruber nimmt Phillip meine Nachricht aus der Hand und legt sie – zur Überraschung aller – vor Jim auf den Tisch, ohne sie anzusehen. »Ich glaube, du hast Post. So, können wir uns jetzt bitte wieder auf den Unterricht konzentrieren? Ehrlich, könnt ihr euch nicht Nachrichten auf eure Handys schicken wie normale Kids? Das stört weniger«, fügt sie kopfschüttelnd hinzu und geht wieder nach vorne zur Tafel.
Der Dschinn faltet den Zettel auseinander und Alex Ritter guckt ihm dabei über die Schulter. Beide drehen sich gleichzeitig zu mir um. Der Dschinn nickt mir zu – zu meiner absoluten Erleichterung, offenbar hat er verstanden, was ich mit dem Elefanten sagen wollte; während Alex Ritters Blick mich durchbohrt. Es scheint ihm überhaupt nicht zu passen, dass er nicht weiß, was zwischen dem Neuen und mir vorgeht – oder warum ich dem Kerl einen durchgestrichenen Elefanten auf einen Zettel male.
Kaum läutet die Schulglocke am Ende der Stunde, schieße ich von meinem Stuhl hoch und haste quer durch die Klasse auf den Dschinn zu.
Es ist kaum zu fassen, aber Mira und Anna-Maria sind noch schneller als ich – bevor ich die Bank der Jungs erreiche, hockt Mira schon auf der Tischkante, kringelt eine Haarsträhne um ihren Finger und kichert, während Anna-Maria neben dem Dschinn an der Wand lehnt, so dicht, dass ihr Oberschenkel seinen Arm streift.
»Hast du ein Motorrad?« Mira stupst den Helm des Dschinns an, der unter dem Tisch liegt, und klimpert mit ihren falschen Wimpern. »Du siehst aus wie ein Typ, der ein Motorrad fährt.«
»Ja. Steht unten auf dem Parkplatz.«
Als ich den unterkühlten Tonfall des Dschinns höre, habe ich es plötzlich nicht mehr so eilig, dazwischenzugehen. Aus irgendeinem Grund zeigt er Mira die kalte Schulter.
»Ohhhh, was für eine Maschine hast du denn?«, haucht sie und beugt sich zu ihm vor.
Phillip schiebt geräuschvoll seinen Stuhl nach hinten und schlendert betont desinteressiert an Miras Seite. Dann legt er wie zufällig seinen Arm um ihre Schultern, was Mira in diesem Moment gar nicht zu passen scheint.
»Eine Harley«, erwidert der Dschinn knapp.
»Wolltest du nicht mit ihm reden?«, flüstert mir Becky ungeduldig ins Ohr.
»Warte kurz, ich will das hier noch ein bisschen genießen«, flüstere ich grinsend zurück.
»Was meine Freundin gemeint hat«, sagt Phillip, »war: Welches Modell fährst du?«
Mira verdreht die Augen. Ich wette, es ist ihr vollkommen egal, welches Modell der Dschinn fährt, und sie sieht aus, als ob sie ihren neuen Freund Phillip in diesem Moment zum Teufel wünscht.
»Keine Ahnung«, erwidert der Dschinn achselzuckend. »Ich habe das genommen, das mir am besten gefallen hat.«
Die anderen stutzen, dann brechen sie in Gelächter aus.
»Du bist gut, Mann, ehrlich!« Phillip schlägt dem Dschinn auf die Schulter.
»Wie kann sich ein Schüler eine Harley leisten?«, fragt Martin. »Deine Familie muss wirklich Kohle haben!«
»Ich habe keine Familie«, sagt der Dschinn.
Alle hören auf zu lachen und sehen ihn fragend an.
»In Wien«, füge ich rasch hinzu und schiebe mich zwischen Phillip und Martin durch. »Er hat keine Familie in Wien. Kann ich dich mal kurz sprechen, Jim?«
»Klar.« Sein Gesicht hellt sich auf. Er steht auf und schubst dabei Mira von seinem Tisch. »Tut mir leid. Kann ich mal eben vorbei?«
Mira stolpert in Phillips Arme und bemüht sich, Haltung zu bewahren. Doch der wütende Blick, den sie mir zuwirft, spricht Bände.
»Was soll denn das ganze Theater?«, flüstere ich, nachdem ich den Dschinn auf den Flur und in eine ruhige Ecke gezerrt habe. »Du kannst doch nicht einfach so in meiner Schule auftauchen!«
Er zieht ein bestürztes Gesicht. »Ich hätte dich vorher fragen sollen, nicht? Es tut mir leid, Lori. Ich dachte nicht, dass es dich stören würde … ich habe dich doch gebeten, eine Weile bei dir bleiben zu dürfen, und du hast ja gesagt … ich wollte dir bestimmt nicht zur Last fallen.«
Er sieht so verletzt und enttäuscht aus, dass es mir fast das Herz bricht.
»Du fällst mir doch nicht zur Last!«, sage ich hastig. »Ich war bloß, äh, überrascht, dich hier zu sehen.« Jetzt betrachte ich ihn zum ersten Mal von oben bis unten. Bis zu diesem Tag habe ich ihn immer nur in Pluderhosen und mit nacktem Oberkörper gesehen … das Lederoutfit steht ihm, obwohl ich es schade finde, dass er seine Muskeln unter einem Shirt versteckt.
Lori! Reiß dich zusammen! Was wollte ich sagen?
Ach ja.
»Wie hast du es überhaupt geschafft, an meiner Schule aufgenommen zu werden? Was hast du dem Direktor erzählt?«
»Ich bin ein Dschinn, schon vergessen? Ich habe einfach die nötigen Formulare hergezaubert.« Er hält seinen brandneuen Schülerausweis hoch.
Ich starre das Foto an, das ihn in derselben Lederjacke zeigt, die er gerade trägt, so als wäre das Bild eben erst aufgenommen worden. Dann bleibt mein Blick an seinem Namen hängen und meine Kinnlade klappt hinunter.
»Yamamoto?«, hauche ich. »Du heißt Jim Yamamoto?«
»Ich kann nichts erschaffen, nur herzaubern, weißt du noch?« Er zuckt mit den Schultern. »Ich brauchte passende Unterlagen, und – tadaa! da sind sie.« Er lächelt unbeholfen.
Ich schnappe nach Luft. »Soll das heißen, irgendwo auf der Welt vermisst der echte Jim Yamamoto seine Dokumente?«
Der Dschinn nickt. Es scheint ihm überhaupt nichts auszumachen.
»Und … was hast du dem Direktor sonst noch erzählt? Darüber, wo du wohnst, zum Beispiel?«
»Ich habe deine Adresse angegeben.«
»Du hast was?!«
Er hebt beschwichtigend die Arme. »Keine Sorge, ich habe nicht erwähnt, dass ich in einer Lampe lebe. Nur, wo die Lampe steht, eben in deiner Wohnung. Clever, was?«
Ich fächele mir Luft zu. »Bitte sag, dass das nicht wahr ist.«
»Ich habe erzählt, dass meine Eltern Diplomaten sind und ich als Austauschschüler hier bin«, erklärt er stolz. »Nicht schlecht, oder?«
»Was? Aber woher … woher weißt du solche Dinge?«
»Ich habe viel Zeit in der Lampe in deiner Schultasche verbracht. Da habe ich alles gehört, worüber du und deine Freunde gesprochen haben.«
»Das ist Omars Geschichte«, begreife ich. »Du hast einfach dasselbe erzählt wie Omar!«
Er nickt, offenbar sehr zufrieden mit sich selbst. »Dem Direktor war es peinlich, dass er meine Anmeldung offenbar verschlampt hatte. Aber er konnte doch Jim Yamamoto nicht wieder nach Hause schicken.«
»Du bist aber nicht Jim Yamamoto!«, zische ich, einem Schlaganfall nahe. »Du bist ein Dschinn und es ist eine saublöde Idee, dass du zur Schule gehen willst! Was, wenn jemand herausfindet, was du wirklich bist?«
»Niemand wird herausfinden, was ich wirklich bin.« Er versucht, mich zu beruhigen. »Ich habe deine Nachricht verstanden. Keine Elefanten. Wir wollen schließlich nicht auffallen.« Er zwinkert mir verschwörerisch zu.
Ich blase die Backen auf und starre ihn an. Das muss ein Albtraum sein. Gleich werde ich aufwachen. Hoffentlich.
»Weißt du, was geschieht, wenn du deine Zauberkräfte in der Öffentlichkeit einsetzt?«, flüstere ich eindringlich. »Du musst mir dein Wort geben, Dschinn, dass du nie, niemals, unter gar keinen Umständen, öffentlich zauberst! Hast du verstanden? Das ist wirklich, wirklich wichtig, okay?« Ich werde fast panisch.
»Okay«, murmelt er alarmiert. »Schon gut, beruhige dich. Ich hab's ja kapiert. Keine Zauberei.«
»Okay«, schnaufe ich. »Versuch einfach, dich so normal wie möglich zu verhalten.« Ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll. »Irgendwie geht das schon.« Unter keinen Umständen. »Niemand wird die Wahrheit erfahren.« Wir sind geliefert.
»Wie geht es Omar?«, fragt der Dschinn.
»Besser«, murmele ich abgelenkt. »Er kommt morgen wieder zur Schule. Hör mal, Becky weiß auch über dich Bescheid, ebenso wie Omar. Also, wenn er wieder da ist, dann haben wir zumindest zwei Verbündete, die uns helfen können. Wir schaffen das schon irgendwie …« Ich rede mir selbst Mut zu, obwohl ich einer Panikattacke nahe bin.
Die Glocke läutet und wir müssen wohl oder übel zurück in die Klasse.
»Wenn deine Familie nicht in Wien lebt, wo wohnst du dann?«, fragt Alex, als der Dschinn sich wieder neben ihn setzt.
»Oh, bei Lori«, erwidert der Dschinn fröhlich.
Alex, Becky, Julia, Phillip, Mira, Anna-Maria und alle anderen, die ihn gehört haben, drehen sich zu mir um.
Na toll. Einfach großartig.
»Er wohnt bei dir?« Julia starrt mich mit offenem Mund an. Ich krame in meiner Schultasche herum, am liebsten würde ich mich unter dem Tisch verstecken. Wie komme ich aus der Sache nur wieder raus?
»Na ja, nicht so richtig«, murmele ich.
»Was heißt ›nicht so richtig‹? Wohnt er jetzt bei dir, oder nicht?«
»Äh … also …«, stottere ich. Mist, warum ist nirgends ein Loch zum Versinken, wenn man mal dringend eins braucht?
»Was ist denn nur los mit dir, Lori?« Julia verschränkt die Arme. »Was soll diese ganze Geheimnistuerei?«
»Es war … nicht sicher«, murmele ich. »Bis, äh, vor Kurzem. Ich meine, es war nicht sicher, ob er bei uns wohnen würde.« Ich rede einfach ins Blaue hinein, in der Hoffnung, dass irgendetwas Sinnvolles herauskommt.
»Genau, das hast du gesagt«, platzt plötzlich Becky heraus. Julia und ich drehen uns zu ihr um.
»Tatsächlich?«, murmele ich.
»Klar«, nickt Becky und stupst Julia an. »Auf dem Ball. Und du würdest dich auch daran erinnern, wenn du nicht so viel getrunken hättest.«
Julia guckt misstrauisch, schweigt aber. Ich fasse es nicht: Becky lügt für mich!
»Ich könnte mich bestimmt daran erinnern, wenn Lori erzählt hätte, dass ein heißer Typ demnächst bei ihr einzieht«, brummt Julia.
»Es war Omars Idee«, sprudelt es aus mir heraus, bevor ich mich stoppen kann.
Julia guckt noch misstrauischer. »Omar, der dich auf dem Ball geküsst hat, lässt einen Typen wie Jim bei dir einziehen?«
Okay, vielleicht war das nicht besonders gut durchdacht.
»Omar und Jim sind befreundet«, lüge ich schnell weiter. »Jim wollte hier zur Schule gehen und da brauchte er jemanden, bei dem er wohnen kann …«
»Eine Gastfamilie«, springt Becky ein.
»Genau!«, nicke ich erleichtert. »Eine Gastfamilie! Wir sind Jims Gastfamilie.« Gott, was für ein Chaos.
»Und deine Mutter ist damit einverstanden?« Julia runzelt die Stirn. »Ihr habt ja nicht mal ein Gästezimmer.«
»Nein«, gebe ich zu. »Er, äh, schläft bei mir.«
Julias misstrauischer Gesichtsausdruck wandelt sich zu einem überraschten Grinsen. »Der scharfe Kerl da drüben schläft bei dir im Zimmer? Lori, das hätte ich dir gar nicht zugetraut!«
Ich lächele gequält. Himmel, wann geht dieser Tag endlich zu Ende?
»Wie hast du deine Mutter dazu gebracht, das zu erlauben? Hat er einen Bruder? Ich will auch so einen ›Mitbewohner‹!« Julia reckt den Hals, um einen besseren Blick auf den Dschinn zu erhaschen.
»Meine Mutter denkt, ich wäre mit Omar zusammen«, murmele ich. Das zumindest entspricht der Wahrheit. Mir ist schon ganz schlecht von den vielen Lügen. Ich hasse es, Julia nicht die Wahrheit sagen zu können.
»Wenn wir schon beim Thema scharfe Brüder sind«, fahre ich fort, um Julia auf ein anderes Thema zu bringen, »Alex will dich seinem Bruder vorstellen.«
»Das habe ich mir fast gedacht, als du vorgeschlagen hast, gemeinsam etwas zu unternehmen«, schmunzelt Julia. »Sehr geschickt eingefädelt, Kozlowski. Ist er nett? Sieht er gut aus?«
»Keine Ahnung, ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Hast du auch einen Typen für mich?«, fragt Becky.
»Was?«
Sie malt Kringel auf ihre Mappe. »Ich frage ja bloß. Jetzt, wo du drei hast, und sogar noch einen für Julia besorgst, dachte ich, du hast vielleicht auch einen für mich übrig.«
Ich starre sie verdattert an. »Ich habe doch keine drei Typen, Becky!«
»Na ja …«, erwidert Julia ernsthaft. »Omar hat dich geküsst, Alex Ritter frisst dir aus der Hand und der scharfe Biker-Kerl schläft auf deinem Fussboden … Mann, Lori, wie hast du das nur gemacht? Kann ich das auch haben?«
»Es ist nicht so toll, wie es sich anhört«, murmele ich vor mich hin, als der Lehrer hereinkommt und mit dem Unterricht anfängt.
***
Alles läuft gut, bis zur vierten Stunde. Da haben wir Geschichte.
»Zu den beeindruckendsten Bauwerken, die je von Menschen geschaffen wurden, gehören die Chinesische Mauer und die Pyramiden«, erklärt Herr Schmied, unser Geschichtslehrer. »Wenn man bedenkt, dass sie mit den primitiven Mitteln des Altertums errichtet wurden, grenzt es beinahe an ein Wunder, wie die Menschen es damals vollbracht haben, diese …«
»Oh, das war kein Wunder!«, ruft mein Dschinn fröhlich dazwischen. »Und die Chinesische Mauer wurde nicht von den Chinesen erbaut, das weiß doch jeder!«
Herr Schmied verstummt und guckt den Dschinn verwirrt an. »Du bist der Neue, oder? John?«
»Jim«, sagt der Dschinn.
Mein Herz hämmert wie verrückt gegen meine Brust und ich bekomme kaum Luft.
»Wer hat denn deiner Meinung nach die Chinesische Mauer erbaut, wenn es nicht die Chinesen waren?«, fragt Herr Schmied.
Der Dschinn wendet sich mit einem verschmitzten Grinsen an die Klasse. »Das war ein Freund von mir. Er hat den Wunsch eines armen Bauern namens Li erfüllt, der sich aus Ärger über seinen Nachbarn eine Mauer gewünscht hat, die sein Grundstück von dem daneben trennt – und diese Mauer sollte von einem Horizont zum anderen reichen.« Der Lampengeist schüttelt beinahe mitleidig den Kopf und lacht. »Dass die Menschen tatsächlich glauben, Sterbliche wären zu einer solchen Leistung fähig gewesen …!«
Ich würde am liebsten quer durch die Klasse rennen und ihm den Mund zuhalten! Er redet sich noch um Kopf und Kragen, das geht bestimmt nicht gut aus. Panisch überlege ich, was ich tun könnte, um Herrn Schmied abzulenken. Ob ich eine Ohnmacht vortäuschen soll?
»Dein Freund hat also die Chinesische Mauer gebaut«, sagt Herr Schmied sarkastisch. »Hat er dazu einen ganzen Tag gebraucht, oder …?«
»Oh, nein«, antwortet der Dschinn ernst. »Das ging ganz schnell. War im Handumdrehen erledigt.«
Jetzt fangen alle zu lachen an. Der Dschinn sieht sich mit einem Lächeln um.
»Danke für die Erheiterung«, sagt Herr Schmied trocken. »Wir kommen jetzt zur Sphinx von Gizeh, die aus einem Menschenkopf und einem Löwenkörper besteht. Es handelt sich um eine Kalksteinfigur und der genaue Sinn und Zweck ihrer Errichtung ist bis heute unbekannt …«
»Oh, er ist keineswegs unbekannt«, unterbricht ihn der Dschinn ein weiteres Mal. Ich schlage die Hände vor dem Gesicht zusammen und traue mich kaum, zwischen den Fingern hindurchzublinzeln, während der Dschinn seelenruhig fortfährt. »Ich kenne den Grund, warum sie errichtet wurde.«
»Lass mich raten«, sagt Herr Schmied voller Sarkasmus, »dein Freund hat auch die Sphinx gebaut?«
»Woher wissen Sie das?«, fragt der Dschinn erfreut. »Es war aber nicht derselbe Freund, der die Mauer gebaut hat. Jedenfalls, dieser Freund hatte einen Herrn, der unter einer besonders herrischen Schwiegermutter litt, und eines Tages wünschte er, sie würde die Gräber der Pharaonen bewachen, anstatt ihm das Leben schwer zu machen. Seitdem thront sie vor der Cheops-Pyramide.«
Herr Schmied zieht die Augenbrauen hoch. »Du willst mir weismachen, dass die Sphinx in Wahrheit die Schwiegermutter deines Freundes ist?« Zu meiner Überraschung scheint ihn das zu belustigen.
»Nein, nein«, beginnt der Dschinn zu erklären, »sie war die Schwiegermutter des Herrn meines Freundes. Mein Freund ist nicht verheiratet, er ist nämlich ein Dschi…«
»Gib mir nach der Stunde die Nummer deines Freundes«, unterbricht ihn Herr Schmied. »Ich habe nämlich auch eine Schwiegermutter.«
Während Herr Schmied schmunzelnd mit dem Unterricht fortfährt, lehne ich mich im Stuhl zurück. Das war verdammt knapp!
Der Rest der Stunde schleicht dahin. Als die Schulglocke schließlich zum letzten Mal an diesem Tag läutet, wir unsere Sachen packen und gemeinsam das Gebäude verlassen, bin ich fix und fertig. Wie durch ein Wunder haben wir es durch den Schultag geschafft, ohne dass der Dschinn seine Kräfte eingesetzt hat. Die anderen halten ihn alle für einen Spaßvogel.
»Sebastian kommt mit«, erklärt Alex und steckt sein Smartphone wieder in seine Tasche. »Wann wollen wir uns treffen?«
Oh Mist, die Verabredung in der Kletterhalle hatte ich schon ganz vergessen.
»Um vier?«, schlägt Julia vor. »Dann habe ich noch Zeit, meine Haare zu wa… ich meine, äh, um vier.«
»Vier Uhr ist gut«, meint Becky unbekümmert.
Wir stehen auf dem Parkplatz.
»Willst du … auch mitkommen, Jim?«, fragt Alex in die peinliche Stille.