Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Die Erstausgabe erschien 2002
Umschlagmotiv: iStockphoto.com/Marzia Giacobbe;
iStockphoto.com/katerinarspb
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-196-1
Kulinarischer Kriminalroman
Neuausgabe
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Für meine Sippe: Mutter, Vater, Peter,
Stephan, Rolf, Tante Waltraud & Onkel
Hein, die Hündgens, die Rossos, die
Luxens, Oma Emmy & die jecken Finger
Und natürlich: Flora McMaunz, Munchy
Fergus Macallan & Moritz von Meiendorf
Im Gedenken an die Lieben, die uns fehlen:
Oma Katharina & Karin
Mit vielem, vielem Dank an Stefanie Finger,
die zu diesem Buch so viel beigetragen hat,
dass sie eigentlich mit aufs Cover gehört.
Tausendundein Kuss an Dich!
»Man führt gegen den Wein nur die bösen Taten an,
zu denen er verleitet, allein er verleitet auch
zu hundert guten, die nicht so bekannt werden.«
Georg Christoph Lichtenberg
Es war das erste Mal seit Jahren, dass Julius ein Filet anbrennen ließ.
So etwas bereitete ihm für gewöhnlich körperliche Schmerzen. Der schwere Geruch der verkohlten Rotbarbe verteilte sich in jede Ecke der blitzsauberen Küche. Sichtlich ergriffen hatte die sonst so fröhliche Stimme von Radio RPR verkündet, dass Siegfried Schultze-Nögel tot sei. Jetzt lief ein Nachruf, in dem noch einmal all seine Verdienste aufgezählt wurden. Angefangen bei der Revolution der Weinkultur im Ahrtal über die unzähligen Auszeichnungen für seine Tropfen bis zum Bundesverdienstkreuz im letzten Jahr.
Beißend stieg der Rauch Julius in die Nase, und er zog die gusseiserne Pfanne schnell vom Gas.
»Jetzt schau sich einer des arme Fischerl an! Völlig umsonst geangelt worden, so eine Schand!«
Franz-Xaver, der Maître d’hôtel der »Alten Eiche«, der vehement darauf bestand, nicht Oberkellner genannt zu werden, war durch die Schwenktür hereingerauscht und schaute mitleidig auf die ehemals rote Rotbarbe.
»Wo bist mit deinen Gedanken, großer Maestro? Auf jeden Fall net beim Probekochen!«
Die süffisante Art des alten Freundes holte Julius wieder ins Hier und Jetzt. Zugleich merkte er, wie seine familiären Gene sich lautstark zu Wort meldeten.
»Ich muss zu meiner Großkusine. Die Arme, wer weiß, wozu sie jetzt fähig ist …«
»Deine Großkusine? Meinst die Gisela, die Frau vom Siggi?«
»Ich hab jetzt keine Zeit. Hör’s dir im Radio an. Ich weiß nicht, wann ich wiederkomme. Du musst hier solang das Zepter schwingen. Wir nehmen noch mal die Karte von gestern.«
Und weg war er durch die Hintertür. Julius hatte noch aus den Augenwinkeln erkennen können, dass Franz-Xaver ihm fragend hinterherschaute. Die beiden kannten sich schon lange, hatten gemeinsam ihre Ausbildung im Münchner »Tantris« absolviert, als noch der große Witzigmann dort kochte. Sie hatten über die Jahre, auch in den schweren Anfangszeiten der »Alten Eiche«, immer zusammengehalten. Franz-Xaver wunderte sich bestimmt, warum er so kurz angebunden war. Aber für lange Erklärungen hatte Julius keine Zeit.
Noch in voller Kochmontur schwang er sich in seinen Audi A4 und brauste auf die Landskroner Straße Richtung Dernau. Schaltete in den Vierten, in den Fünften, fuhr achtzig und damit zehn mehr als erlaubt und kam mit quietschenden Bremsen wenige Zentimeter hinter der Stoßstange einer Euskirchener Familienkutsche zum Stehen. Julius konnte erkennen, dass vor diesem weitere Euskirchener, Bergheimer, Bonner und Kölner standen. Stange an Stange, in ihren faradayischen Käfigen die wunderbare Natur des Ahrtals genießend. Denn es war Sonntag. Sonntagmittag. Und der Weg von Heppingen bis Dernau war verstopft mit unternehmungslustigen »Ahrschwärmern«, die ihr Wochenende in Strömen von Federweißem ersäufen wollten. Und für die Zwiebelkuchen an diesen Tagen den Höhepunkt der abendländischen Kochkultur darstellte. Es gab keinen Schleichweg, keine Abkürzung und auch keinen Feldweg, der sich zweckentfremden ließ. Das Ahrtal war einfach zu eng, um mehrere Durchgangsstraßen zu beherbergen. Julius spürte, wie die Wut in ihm hochstieg und sich in einigen gezielten Schlägen auf sein Hartplastik-Lenkrad entlud. Sonst machte er am Wochenende keinen Schritt vor die Tür. Er hasste Menschenmassen. Und er hasste es zu warten. Jetzt stand er inmitten von Menschenmassen und wartete.
Julius wollte, um sich zu entspannen, auf die Weinberge blicken, die sich jetzt im Oktober so wundervoll verfärbten. Manchmal jede Reihe in einem anderen Ton, so dass sie wie große Papiergirlanden wirkten, die ein gut gelaunter Riese über die Rebgärten gehängt hatte. Heute aber waren sie vor lauter Touristen kaum zu sehen. Wie Heuschrecken waren sie ins Tal eingefallen, ihre Goretex-Jacken um die Hüften geschwungen und gefräßig die reifen Trauben vom Wegesrand essend, die bunten Blätter von den Rebstöcken reißend, um einen Strauß zu sammeln.
Der Radiomoderator unterbrach das laufende Musikstück für eine Sondermeldung. In diesem Moment war es ausnahmsweise gut, dass der Verkehr sich staute. Mit voller Geschwindigkeit wäre Julius vor Überraschung bestimmt in den Vordermann gerauscht.
»Wie wir gerade erfahren haben, ist der Top-Winzer der Ahr-Region, Siegfried Schultze-Nögel, vermutlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen. Näheres in den Nachrichten um 13.00 Uhr.«
Erst eine halbe Stunde später, nachdem er von unzähligen Motorrädern überholt worden war und sich etliche stolz im Stau spazieren geführte Oldtimer vor ihm in Parklücken gequält hatten, tauchte vor Julius wie eine Erlösung die orange leuchtende Tankstelle am Ortseingang von Dernau auf. Noch einmal abbiegen, und er konnte vor dem Hintereingang des Weingutes parken, direkt gegenüber dem kleinen katholischen Friedhof. Die Wagen der Sippe standen schon vor dem Haus, aber nicht wie sonst ordentlich in Reih und Glied geparkt, sondern geradewegs dort abgestellt, wo Platz war. Kreuz und quer. Alle waren sie schon da: Onkel Jupp und Tante Traudchen, Kusine Anke mit Anhang, Großtante Käthe, Vetter Willi, dessen Frau Gertrud, Annemarie und der Rest des über das gesamte Tal verstreuten Eichendorff-Nögel-Burbach-Clans oder der »Landplage«, wie Julius sie zu nennen pflegte. Auch die Polizei war schon mit zwei Einsatzwagen angerückt. Julius ging den Abhang hinunter zur hölzernen Eingangstür der Weinprobierstube. Noch ehe er klingeln konnte, öffnete ihm Onkel Jupp, wie stets Zigarette rauchend, die Tür.
»Ich hab dich schon kommen sehen, Julius. Rein mit dir! – Ist das zu glauben? Wer macht so was? Kannst du mir sagen, wer so was macht? Ich fass es nicht, ich fass es einfach nicht! Er war ein großer Mann, ein echter Künstler! Was er alles fürs Tal getan hat!«
Da hatte er Recht, was hatte Siggi nicht alles fürs Tal getan. Damals als Erster mit den kleinen französischen Fässern angefangen, den Barriques, ohne die Rotweine internationaler Qualität gar nicht möglich waren. Noch wichtiger war sicherlich, dass er eine neue Ideologie etablierte: Klasse statt Masse. Das war schwer in die Köpfe derer zu kriegen, die jahrzehntelang andersherum gedacht hatten. Und er hatte die Türen geöffnet für höhere Verkaufspreise. Er hatte sich einfach getraut, mehr zu verlangen. »Qualität muss kosten!«, war sein Leitspruch gewesen. Siggi hatte die Wege geebnet, über die alle Folgenden dann gegangen waren.
Aber nicht nur deswegen hatte die Region einen großen Verlust erlitten, dachte Julius betrübt. Sie hatte auch einen besonderen Menschen verloren. Einen, wie es ihn kein zweites Mal gab. Julius’ Beziehung zum Rotweinmagier war stets vom Geschäft bestimmt, und doch waren die Treffen mit Siegfried Schultze-Nögel immer etwas Besonderes gewesen. Sie würden ihm fehlen.
Wie ein stählernes Hundehalsband schloss sich Onkel Jupps Hand um Julius’ Nacken und zog ihn hinein in die dunkle Stube. Aufgereiht wie Hühner hockte die Sippe da, die Blicke zu Boden gesenkt. In einer Ecke fanden sich auch die polnischen Erntehelfer, denen die Unsicherheit angesichts der tragischen Situation deutlich anzumerken war. Der kleine holzgetäfelte Raum wirkte mit den vielen Menschen eng wie eine Sauna. Nur dass keine Nackten darin saßen, sondern die Landplage, die es für angebracht hielt, in den besten Kleidern und Anzügen ihre Aufwartung zu machen. Onkel Jupp redete unverdrossen weiter auf Julius ein, dankbar für ein frisches Opfer:
»Wer bringt so einen um? Im neuen Maischebottich, ist das zu glauben?« Er boxte ihn auf die Brust. »Den hat der Siggi erst dieses Jahr aus Frankreich geholt. Ist schon ein tolles Ding. Fasst über dreitausend Liter! Stell dir das vor! Und das Holz ist ganz fein gemasert! Allererste Qualität, sag ich dir. Da muss der Wein gut drin werden. Ich mein, den Frühburgunder, der drin war, kannst du jetzt natürlich vergessen. Schade drum!«
Aus der hintersten Ecke der Sauna löste sich ein bulliger Schatten, rollte mit zwei schweren Schritten heran und baute sich vor Jupp auf.
»Kannst du vielleicht endlich mal deine Schnüss halten?! Der Siggi ist tot, und du erzählst hier über den Maischebottich! Bist du noch ganz beisammen?«
Es war Willi, der jede Gelegenheit nutzte, den ungeliebten Verwandten zusammenzustauchen. Onkel Jupp drehte sich darauf pikiert um und nahm vor dem Fenster Stellung, um weitere Neuankömmlinge in Empfang zu nehmen.
»Von dir lass ich mir doch überhaupt nix sagen!«, murmelte er in seinen Zigarettenrauch.
Willi zog sich wieder auf seinen Platz zurück, um weiter den Boden anzustarren.
Julius’ Blick fiel auf ein in Gold gerahmtes Dokument, das im Eingangsbereich des Verkostungsraumes hing. Er hatte es früher schon gesehen, aber noch nie die Zeit gefunden, es zu lesen. Es war in einer Handschrift verfasst, wie sie heute nicht mehr zu finden war. Jeder Buchstabe ein Kunstwerk.
Sehr geehrte Frau Schultze-Nögel,
leider sehe ich mich genötigt, diesen Brief an Sie zu schreiben. Die Beschwerden, die von Lehrern, Eltern und Mitschülern bezüglich Ihres Sohnes Siegfried an uns herangetragen wurden, haben sich in einem unerträglichen Maße gehäuft. Ihr Sohn stört wiederholt den Unterricht, indem er unflätige Bemerkungen dazwischenruft oder Geräusche verursacht, die an Flatulenz erinnern. Es vergeht kaum ein Tag ohne einen Eintrag ins Klassenbuch. Häufig muß Siegfried des Raumes verwiesen werden, damit seine Mitschüler einem geordneten Unterricht folgen können. Dies ist nicht zu dulden.
Auch in den Pausen kommt es vermehrt zu unerwünschten Handlungen seitens Ihres Sohnes. So hat mich die Klassenlehrerin, Frau Hohenschurz, davon in Kenntnis gesetzt, daß er mehrmals Mitschülerinnen auf den Mund geküßt hat! Weiterhin sind Zettel mit unanständigen Witzen aufgetaucht, die von Ihrem Nachwuchs stammen.
Er ist seinen Mitschülern nicht nur ein schlechtes Beispiel, sondern verführt auch zu unratsamem Verhalten. Das Nachsitzen konnte ihn bislang nicht von diesen Taten abbringen.
Einige Eltern haben mich gebeten, Siegfried künftig von Klassenfahrten und Ausflügen auszuschließen. Falls sich sein Verhalten nicht bessert, sehe ich mich gezwungen, entsprechende Schritte einzuleiten.
Ich möchte Sie hiermit auffordern, mäßigenden Einfluß auf Ihren Sohn auszuüben. Dies wäre vor allem deshalb zu wünschen, weil Siegfried einer der besten Schüler der Klasse ist. Seine Leistungen sind in fast allen Fächern überdurchschnittlich.
Es wäre ein Verbrechen, wenn einem so begabten Kind durch Jugendsünden die Zukunft verbaut würde. Aber auf Dauer wird sich sein Benehmen zweifellos negativ auf die Benotungen auswirken.
Hochachtungsvoll
Karl-Heinz Wolfshohl
(Schulleiter)
Dass dieser Brief gerahmt an der Wand hing, dachte Julius mit einem Schmunzeln, sagte noch mehr über den Rotweinmagier aus als der Inhalt. Und der war schon die beste Beschreibung, die er je über Siggi Schultze-Nögel gehört hatte.
Darunter hing ein Schwarzweißfoto, das ihn zwischen dem Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz und Udo Lindenberg zeigte. Beide wirkten blass neben Siggi Schultze-Nögel. Er hatte einfach diese Ausstrahlung, dieses Leuchten eines Gewinners, dieses »Alle Scheinwerfer auf mich!«. Eigentlich sah er mehr wie ein Italiener aus und nicht wie ein waschechter Eifeler. Er hatte Julius immer an den Stardesigner Colani erinnert, der auch stets laut auftrat, sich niemals in eine Ecke stellte und Gläser in einem Zug leerte.
Siggi trug auf dem Foto seine Lieblingsmaske. Ein Lachen.
Noch bevor Julius sich setzen konnte, kam ein weiterer Schatten auf ihn zu. Aus dem dunklen Gang, der zu den Weinfässern führte, drangen schnelle Schritte, und die Konturen seiner Großkusine schälten sich aus dem Zwielicht. Der Kajal um die Augen war verschmiert, aber sie versuchte merklich, Haltung zu bewahren. Gisela schloss ihn in die Arme. In diesem Moment der Nähe kam Julius ihre gemeinsame Geschichte wieder in den Sinn. Wie es früher war, als sie noch jung, oder besser: klein gewesen waren und ihre Eltern zusammen in Urlaub gefahren waren. Wie er mit Gisela in Italien am Strand gespielt hatte. Wie sie danach ganze Sommer miteinander verbrachten und auch Herbst und Winter, wie sie als Kinder am Martinstag gemeinsam um die Häuser gezogen waren. »Dä hillije Zintemätes« war ihr liebstes Lied gewesen. Sie hatten sich sehr nah gestanden, fast wie Bruder und Schwester. Doch dann waren sie auf verschiedene Schulen gegangen, hatten andere Freunde gefunden. Und plötzlich war es ein Thema gewesen, ob man aus Dernau oder Heppingen kam. Heutzutage hatten sie nicht mehr viel miteinander zu tun, aber diese Verbundenheit war noch da, deren Wurzeln vor so langer Zeit gepflanzt worden waren. Julius nahm sich in diesem Moment fest vor, sich wieder mehr um Gisela zu kümmern. Und es erschien ihm wie ein Rätsel, warum sich zwei Menschen, die sich so mochten, so weit hatten auseinander leben können.
Gisela lockerte ihre Umarmung. »Schön, dass du da bist.«
»Es tut mit sehr Leid, was mit Siggi passiert ist.«
Gisela nickte. Sie ist eine starke Frau, dachte Julius, auch in dieser schweren Situation.
Sie wandte sich zur Familie. Erst jetzt fiel Julius die in Gold beschriebene Magnumflasche auf, die Gisela in der Hand hielt.
»Kommt, lasst uns trinken. Siggi hätte das gewollt … Hier, sein Lieblingswein, die 99er Dernauer Pfarrwingert Spätburgunder Auslese ›Aurum‹. Sein ganzer Stolz …«
Sie hob die Flasche mit merklicher Anstrengung hoch. Julius konnte sehen, wie die Trauer an ihren Kräften nagte.
»Lasst uns auf ihn anstoßen …«
Gisela schaffte es nicht, die Gläser zu füllen. Ein Weinkrampf durchschüttelte sie. Jupp griff die Flasche und leerte sie in die vorbereiteten Gläser. Wie Julius bemerkte, goss er sich selbst am meisten ein.
Nachdem Julius alle begrüßt hatte, stieg er die Treppe zur Kelterhalle hinauf. Einerseits konnte er so viel Trübsal auf einmal nicht ertragen, andererseits wollte er endlich wissen, was passiert war. Zwei Männer in weißen Ganzkörperanzügen, wohl Beamte der Spurensicherung, standen in der Ecke und rauchten. Sie nahmen keine Notiz von ihm. Ansonsten lag der Raum still, als wäre nie etwas Ungewöhnliches geschehen. Der süße Duft vergärender Maische lag schwer und beruhigend über der Szenerie. An den Seiten aufgereiht ruhten Barrique-Fässer, den Raum einrahmend, in dessen Mitte die hölzerne Neuerwerbung aus Frankreich stand. Eine kleine Leiter führte hinauf, so dass man leichter ins Innere blicken konnte. Julius nahm die Stufen flinker, als es sein von vielen Sahnesaucen harmonisch gerundeter Körper erwarten ließ, und sah nachdenklich über den leise blubbernden, roten See, auf dem der Tresterhut wie grobe Marmelade trieb. Hier hatte Siggi also sein Ende gefunden. In seinem geliebten Wein zur Ruhe gebettet. Darüber hätte er laut gelacht, und es hätte wie das Bellen eines großen Hundes geklungen.
Ein Geräusch schreckte Julius aus seinen Gedanken. Es klang, als würde jemand etwas über den rauen Betonboden schleifen. Hinter dem Maischebottich tauchte ein im Tal allseits bekannter Charakterkopf auf. Wie eine Birne geformt, mit einer eckigen Brille aus massiven Glasbausteinen, welche fast die gesamte obere Gesichtshälfte einnahm. Dazu ein Körper, der wie ein Heißluftballon wirkte. Dr. Gottfried Bäcker ähnelte seinem Parteigenossen aus Oggersheim wie ein jüngerer, ungepflegterer Bruder. Eine Schweißperle rann ihm über die Stirn.
»Hallo Julius, grüß dich. Schlimme Sache das. Mein Beileid!«
Julius kletterte die Leiter herunter. Der Landrat reichte ihm die Hand.
»Dank dir. – Aber was ist denn nun eigentlich genau passiert?«
»Hat dir noch keiner …?«
Julius schüttelte den Kopf.
»Er ist in diesem Bottich hier gefunden worden. Mit einer großen Wunde am Hinterkopf. Es muss ihn jemand mit einem schweren Gegenstand geschlagen haben, und dann ab in die Maische.«
»Weiß man schon, wer?«
»Neeein. Wer könnte unserem Siggi denn schon was Böses wollen? Da fällt mir keiner ein …«
Das konnte Julius nicht durchgehen lassen. »Natürlich war er ein großer Winzer. Aber er war kein einfacher Charakter, Gottfried. Ein Unbequemer, ein Querkopf, das war er.«
»Aber unser Querkopf! Ein schwerer Verlust für uns alle …«
Julius nickte. Obwohl er Bäcker aus mehr als einem Grund nicht gewählt hatte, fand dieser doch häufig die richtigen Worte.
»Ich finde es sehr mitfühlend, dass du deine Aufwartung machst. Das bedeutet der Familie bestimmt viel.«
Bäcker lächelte. »Das ist doch selbstverständlich bei besonders verdienten Mitgliedern unseres Kreises. – Ich muss jetzt aber auch schon weg. Es war schön, dich mal wieder gesehen zu haben! Ich hoffe, die Geschäfte laufen gut?«
»Könnten nicht besser gehen.«
»Gut. Gut. Bis dann!«
Weg war er.
Bäcker hatte Recht, dachte Julius und strich über seine verbliebene Lockenpracht, die sich wie ein lorbeerner Siegerkranz um den kugeligen Kopf zog. Siggi war zwar ein Enfant terrible und zuweilen ein grober Klotz gewesen, aber zu viele profitierten von ihm. Und doch musste es jemanden gegeben haben, der mehr Nutzen aus seinem Tod zog. Der Mord ging Julius an die Nieren, mehr als das. Die Vorstellung, wie Siggi tot im Bottich trieb, ließ ihn schaudern. Dies war nicht das friedliche, beschauliche Ahrtal, das er liebte.
Wieder im Probierraum entdeckte Julius ein unbekanntes Gesicht. Eine junge Frau im grauen Kostüm sprach eindringlich mit Gisela. Bevor er sich erkundigen konnte, wer dort gekommen war, beantwortete Jupp schon die Frage.
»Die da ist von der Polizei. Haben sie aus Koblenz geschickt. Das kann doch nix geben! Da wird unser größter Winzer ermordet, und die schusseligen Anrheiner schicken uns ihr jüngstes Gemüse. Denen werd ich was erzählen! Gleich morgen ruf ich da an, das versprech ich dir!«
Julius war froh, dass er an diesem Abend arbeiten musste. Er war froh über jedes Ossobuco mit Spätburgundertrauben, jedes »Dreigestirn«, jedes Wildschweinfilet an grünem Spargel und Morcheln, jedes Gigot vom Milchlamm, das er mit seinem innig geliebten Wüsthof-Messer bearbeiten konnte, und erst recht über jede aufwändige Languste auf Blattspinat mit Krebsrahmsauce. Er war froh über jedes Stück, das er in die Pfanne legen, jedes Gewürz, das er zugeben konnte, jede Dekoration, die es auf einem Teller zu drapieren galt. Das lenkte ab und ließ ihn nicht an den Mord in der Kelterhalle denken. Nur einmal wurde sein Gedächtnis unangenehm aufgefrischt, als Franz-Xaver, chronisch unsensibel, wie es seine Wiener Art war, mit süffisantem Lächeln erzählte, dass die Weine von Schultze-Nögel besser liefen als je zuvor. Jeder bestelle sie, egal, ob diese zum Essen passen würden oder nicht. Aber selbst der Zorn darüber verrauchte schnell, weil all die verlockenden Gerüche wieder Julius’ Geist einnebelten. Als er um ein Uhr morgens in sein barockes Himmelbett fiel, schlief er sofort ein.
Das leise Klingeln des Telefons hätte Julius sicher überhört und weitergeschlafen, aber leider hatte es Herrn Bimmel aus seinen Katerträumen gerissen. Nun saß dieser laut maunzend vor dem Unruhestifter, so, als könnte er ihn durch ausgiebigen Gesang besänftigen. Julius war wach. Selbst die süßesten Träume konnten dieses Konzert aus Miauen und Klingeln nicht überdecken. Der so rüde Geweckte schleppte sich schlaftrunken zum Telefon, im Dunkeln gegen Tisch und Kratzbaum stoßend.
»Eichendorff.«
»Julius, es ist etwas Schreckliches passiert!«
Die kieksende, überdrehte Stimme klang nach Annemarie, Giselas Schwägerin. Eine Frau, mit der man nach Julius’ Meinung besser nicht ins Gespräch kam.
»Hm.«
»Hab ich dich geweckt?«
Julius blickte auf die Uhr im Telefondisplay. Angesichts der Tatsache, dass es acht Uhr morgens und er Koch war, wirkte diese Frage schon ein wenig unverschämt. Aber Julius war noch zu maulfaul, um seinem Ärger Luft zu machen. Es war einfach zu anstrengend, die Zähne zu bewegen.
»Ja.«
Sie ging nicht darauf ein. »Julius, du kennst doch so viele wichtige Persönlichkeiten. Du musst etwas für Gisela tun! Sofort!«
Als er merkte, wie dringlich Annemaries Stimme klang, wurde er mit einem Mal wach. Es war, als hätte ihm jemand einen Eimer Wasser über den Kopf geschüttet.
»Was ist denn mit Gisela?«
»Ach, das weißt du ja noch nicht! Ich bin doch die Nacht hier geblieben, damit die Gisela nicht so allein ist. Und heut Morgen standen sie dann schon ganz früh vor der Tür. Die haben sie festgenommen! Wegen Siggi! Sie meinen, sie hätte …«
Annemarie brachte die nächsten Worte nicht heraus, zu unglaublich mussten sie ihr erscheinen.
»Wie kommen die denn auf so was?«
»Du kennst doch die Nachbarn! Irgendwer hat wohl von einem lauten Streit in der letzten Nacht erzählt, und Gisela muss ihm wohl auch gedroht haben … also ihn … umzubringen.«
»Typisch Gisela. Immer direkt auf hundertachtzig.«
»Siggi muss auch Kratzspuren im Gesicht gehabt haben, die von Gisela stammen. Du musst sie wieder rausholen, Julius!«
»Wie soll ich das denn machen?!«
»Du kennst so viele wichtige Leute! Ruf doch einen deiner Freunde an, die was zu sagen haben! Du hast von der Familie die besten Verbindungen!«
»Annemarie, ich weiß nicht, ob ich da was machen kann. Aber ich ruf gleich mal bei der Polizei an, in Ordnung?«
»Ja, ja mach das! Und meld dich, wenn du was erreicht hast! Wir sind alle ganz krank vor Sorge!«
»Mach ich.«
Julius starrte noch einmal auf die Ziffern im Telefondisplay. Diese Uhrzeit hatte er schon lange nicht mehr gesehen. Langsam sickerten die Informationen in vollem Ausmaß in seinen vom Schlaf zerzausten Kopf. Als könnte Gisela ihrem Mann etwas zu Leide tun! Sie wurde gerne laut, knallte mit Vorliebe Türen, warf Einrichtungsgegenstände aus dem Fenster. Aber der Zorn war immer schnell verraucht, und dann brauchte sie Harmonie. Onkel Jupp schien ausnahmsweise Recht mit einer Einschätzung zu haben. Die Koblenzer hatten tatsächlich jemanden geschickt, der keine Ahnung hatte.
Natürlich brachte der Anruf bei der Kripo nichts. Obwohl Julius die ermittelnde Kommissarin zu sprechen bekam – wie sich herausstellte eine Blaublütige namens von Reuschenberg –, konnte diese ihm auch nicht mehr sagen, als dass sich Gisela in U-Haft befand. Zum jetzigen Zeitpunkt stünde aber noch gar nichts fest. Na, das würde die Familie ja beruhigen! Anders ausgedrückt: Das würde der Sippe nicht genügen!
Bei einem ausgiebigen Frühstück sinnierte Julius zwischen Rührei und Parmaschinken darüber, was er noch tun konnte. Als wären seine Verbindungen zu den oberen Zehntausend – eher den oberen Zehn – im Ahrtal so gut! Zwar aßen sie stets bei ihm auf Staats- oder Firmenkosten, aber viel mehr als das übliche kulinarische Kurzgespräch nach dem Dessert pflegte er mit den wenigsten.
Herr Bimmel sprang auf den Tisch und machte sich auf leisen Pfoten gen Schinken, den Julius akkurat in parallelen Streifen auf den Teller gelegt hatte. Einer war wie jeden Morgen für den pelzigen Mitbewohner. Während Julius gedankenversunken Worcestershiresauce auf das Ei träufelte, kam er zu der Erkenntnis, dass er der Familie weniger würde helfen können, als diese sich erhoffte. Seine Verbindungen spielen zu lassen würde nichts bringen, schließlich ermittelte die Koblenzer Polizei, und von denen kannte er niemanden. Aber wenn die Sippe seine Unterstützung brauchte, so würde sie diese bekommen. Familie war schließlich Familie. Egal, ob sie ihm beständig auf die Nerven ging oder nicht. Wenn er irgendwie dazu beitragen konnte, Gisela auf freien Fuß zu bekommen, so würde er das machen. Aber selbstverständlich erst nach dem Frühstück.
Nach kurzer Fahrt war er wieder in Dernau. Und nachdem er den Anruf bei der Kripo vier verschiedenen Verwandten geschildert hatte, stand er erneut in der Kelterhalle. Die Mittagssonne strahlte durch das in die Wellblechdecke eingelassene Plexiglas. Der französische Maischebottich wirkte noch grandioser, noch pompöser als am gestrigen Abend. Fast kam Julius sich vor wie in einem Museum für moderne Kunst, so zielgenau schoss das Licht auf das hölzerne Wunderwerk, den Staub dabei wie kleine Schneeflocken erhellend.
Er ging noch einmal die Leiter zum Bottich hinauf. Die Maische war mittlerweile abgelassen worden und der Innenraum vom Kellermeister gereinigt. Alles roch nach Reinigungsmittel. Julius blickte die Stufen hinunter. Gisela sollte Siggi hier hoch gehievt haben? Unwahrscheinlich. Dafür war Siggi, der allen leiblichen Freuden gegenüber offen gestanden hatte, viel zu schwer.
Vor dem Fenster zur Straße blieb Julius stehen und jagte seinen Gedanken nach, die wie Hasen Haken schlugen. Er bekam keinen zu fassen. Wenn er doch nur wüsste, wer einen Grund gehabt hatte, Siggi zu ermorden! Vielleicht war es ja ein besoffener Ahrschwärmer gewesen, so einer wie jetzt vor dem Weingut stand. Einer mit kaum benutzten Wanderstiefeln, roten Socken, Kniebundhosen und viel zu dickem Norweger-Pullover. Der Mann hatte wirklich Traute! Stand da dreist vor dem Haus eines erst gestern ermordeten Winzers und starrte unverfroren hinein. Ein merkwürdiges Männchen war das. Topfschnitt und Buddy-Holly-Brille – das wirkte mehr als nur ein wenig weltfremd. Jetzt kam er auch noch näher! So viel Impertinenz war Julius zu viel. Er öffnete das Fenster und wollte gerade etwas rufen, als der Mann mit staksenden Bewegungen davonlief. Leute gab es. Das Ahrtal war doch kein Zoo, wo jeder gaffen konnte, wie er wollte! Wütend schloss Julius das Fenster.
Als er sich umdrehte, entdeckte er ein Fass in der Ecke, das nicht ganz exakt in Reihe lag. Eigentlich ging ihn das natürlich nichts an, aber solche Unordnung durfte einfach nicht sein! Also rückte er das schwarze Schaf zurecht. Zur Kontrolle schaute er noch einmal von beiden Seiten, ob jetzt auch alles passte. Perfekt! Aber hatte das Fass nicht einen Fleck? Oder war das ein großes Astloch? Solche mindere Qualität hätte Siggi doch nie genommen! Julius ging näher heran und beugte sich so weit vor, wie es sein frisch befrühstückter Bauch zuließ. Es war kein Fleck. Es war kein Astloch. Es war rote Farbe, mit der etwas auf das Fass geschrieben war. Julius griff mit beiden Händen den vorstehenden Daubenrand und drehte das Fass. Das knirschende Geräusch hallte von der hohen Decke wider.
Julius konnte nicht glauben, was er sah.
Ein schriller Schrei verriet ihm, dass Annemarie zwischenzeitlich den Raum betreten und die Schrift ebenfalls gelesen hatte.
»Mein Gott, wer hat denn das geschrieben? Das war bestimmt der Mörder!«
Julius starrte ungläubig auf die Schrift, die säuberlich, in großen, altdeutschen Lettern auf das Fass gepinselt war. Der Täter musste eine Schablone benutzt haben, denn kein Farbspritzer fand sich neben dem Wort »Verräter!«. Julius musste Annemarie Recht geben. Wer das geschrieben hatte, war auf Siggi bestimmt nicht gut zu sprechen gewesen. Aber warum war das Fass so gedreht, dass es niemand lesen konnte? Es gab einen Mann, der ihm vielleicht weiterhelfen konnte.
Er fand ihn in den Rebhängen am Trotzenberg, oberhalb von Marienthal. Er maß gerade das Mostgewicht der Trauben. Jetzt, da der Chef nicht mehr war, fiel auch das in seinen Aufgabenbereich. Normalerweise hätte sich Julius gefreut, mal wieder hier hochgekommen zu sein. Der Blick war traumhaft und brachte ihm immer wieder zu Bewusstsein, warum er diesen Landstrich so liebte. Die bedächtig und ohne Hast fließende Ahr direkt zu Füßen, die aus dem 12. Jahrhundert stammende pittoreske Ruine des Augustinerinnenklosters in Marienthal zum Greifen nah, unter, über und neben ihm Wein, Wein, Wein. Und diese Stille. Nur der Wind, der die Trauben trocken hielt und durch die Weinberge tollte wie ein übermütiger Hund. Das Wetter war nun schon seit Wochen prächtig. Es versprach ein großer Jahrgang zu werden.
Der Mann, den er suchte, hielt das Refraktometer gen Sonne und nickte. Die Trauben mussten eine gute Reife haben. Julius schlenderte den steinigen Weg auf ihn zu.
»Tag, Herr Brück.«
»Herr Eichendorff. Mein Beileid.«
»Danke. Aber Sie hat der Verlust doch sicherlich mit am härtesten getroffen.«
Brücks Augen waren verquollen. Er schien nicht viel Schlaf bekommen zu haben. »Sammeln Sie mal wieder Kräuter?«
»Momentan sammele ich zur Abwechslung mal Informationen, wegen Ihrer Chefin.«
Markus Brück, seines Zeichens Kellermeister im Weingut Schultze-Nögel, ließ für einen Augenblick die Arbeit Arbeit sein und wandte sich Julius zu. Dieser wurde den Gedanken nicht los, dass Brücks Knochen in der Pubertät das Wachstum eingestellt hatten, die Muskeln jedoch fröhlich weitermachten. Das blaue Polohemd war an praktisch jeder Stelle zu eng.
»Also, was die Polizei sich dabei gedacht hat … Ich weiß nicht.«
Brück wirkte deprimiert. Den ansonsten stets gut gelaunten Mann hatte der Tod seines Chefs sichtlich mitgenommen. Er stand gebeugt da, als hätte ihn jemand geprügelt.
»Die Polizei hat ja auch das Fass nicht gefunden.«
»Das Fass? Welches Fass?«
Brück schien ehrlich erstaunt.
»Ich dachte, Sie wüssten davon.«
»Wovon reden Sie?«
»Ich bin eben noch mal in der Kelterhalle gewesen und habe da in der Ecke ein Fass gefunden, auf dem etwas geschrieben steht.«
»Auf allen Fässern steht was geschrieben, sonst wüsste doch keiner, was drin ist.«
»Es stand ›Verräter‹ drauf.«
Brück kniff ungläubig die Augen zusammen. »Verräter?!«
»In altdeutschen Lettern.«
»Wer macht denn so was?«
»Das wollte ich von Ihnen wissen …«
Brücks Erstaunen verwandelte sich in Ärger. Julius bemerkte mit Unbehagen, wie der Muskelberg sich unter dem Hemd anspannte.
»Woher soll ich das denn wissen?!«
»Wer weiß denn besser über das Weingut Bescheid als Sie?«
Brück antwortete nicht, spuckte nur verächtlich auf den Boden, genau vor Julius’ blank polierte Schuhe. Gut spucken gehörte im Weinbau zum Handwerk. Denn Wein muss ständig probiert, aber nicht ständig getrunken werden.
»Anders gefragt: Wer könnte so etwas auf eins von Siggis Fässern schreiben?«
»Also ich schon mal nicht, dass das klar ist! Keine Ahnung, wer so was schreibt.«
»Hatte Siggi denn Feinde im Geschäft?«
Markus wurde theatralisch. »Feinde? Phhh! Woher denn? Ein paar waren neidisch, klar, weil sie’s selber nicht auf die Reihe bekommen. Der Chef hatte als Einziger den Durchblick, wusste, wie der Hase läuft und was die Zukunft bringt. Sonst hat doch hier keiner Mumm in den Knochen gehabt. Aber Feinde? Nee. Um sich mit ihm anzulegen, hat doch allen der Mut gefehlt. Und jetzt muss ich weitermachen. Die Arbeit erledigt sich schließlich nicht von selbst!«
So harsch kannte Julius den zwar etwas tumben, aber sonst immer freundlichen Kellermeister nicht. Irgendetwas war nicht in Ordnung. Brück schien fast Angst zu haben.
»Was könnte Siggi denn verraten haben, dass man ihn Verräter nennt?«
»Ich muss wirklich arbeiten.«
Hier kam er nicht weiter.
Julius blieb nur noch, Brück den Eichendorff-Vers »Von Arbeit ruht der Mensch rings in die Runde / Atmet zum Herren auf aus Herzensgrunde« mit auf den Weg zu geben – auch wenn der auf wenig Gegenliebe stieß.
Auf dem Rückweg zu seinem Audi bemerkte Julius am unteren Ende der Lage Klostergarten einen Wanderer. Und dessen strahlend rote Socken kamen ihm merkwürdig bekannt vor.
Die Fahrt über die A61 Richtung Koblenz dauerte erwartungsgemäß nicht lange. Aber bis sich Julius mittels Stadtplan zum Moselring 10–12 durchgekämpft hatte, lagen seine Nerven blank. Der chronische Stop-and-go-Verkehr verbunden mit Julius’ momentaner Anspannung ergaben eine explosive Mischung. Da wollte er nur kurz zur Polizei fahren, um persönlich von dem Fass zu berichten, wollte also etwas Sinnvolles tun, da bestrafte ihn das Schicksal unbarmherzig mit einer Horde dummer Autofahrer.
All die angestaute Spannung wich einer Art bürokratischer Ehrfurcht, als er das Gebäude des Koblenzer Polizeipräsidiums, in dem sich die zentrale Kriminalinspektion verbarg, in voller Größe wahrnahm. Viel anonymer konnte man nicht bauen, selbst in Deutschland nicht. Das zweigeteilte, ehemals weiße, aber längst durch die Stadtluft ergraute Hochhaus bot endlose Reihen von getönten Fenstern, die nicht im Geringsten verrieten, dass hinter ihnen über Schicksale entschieden wurde. Genauso gut hätte das Gebäude eine Versicherung oder eine Privatbank beherbergen können.
Julius betrat das Präsidium und fühlte sich mit einem Schlag unwohler als eine Katze in der Badewanne. Obwohl er nichts verbrochen hatte, kam es ihm vor, als könnte ihn die Polizei direkt dabehalten. Irgendwas hatten die doch gegen jeden in der Hand! Julius versuchte sich einzureden, dass dies nur die normale Paranoia eines jeden Bundesbürgers war, der die Datenschutzdebatten aufmerksam verfolgt hatte. Aber es half nicht. Es erging ihm wie in Krankenhäusern. Einmal unbedarft gehustet, konnte man sich schnell in einem kargen Kassenbett wiederfinden. Das Polizeipräsidium zählte eindeutig zu der Gruppe von Gebäuden, die man weder als Betroffener noch als Besucher gerne betrat. Es ging Unheil von ihnen aus. Aber Gisela musste im Namen der Sippe geholfen werden, also straffte Julius seinen unwillkürlich erschlafften Körper und ging mit raumgreifenden Schritten auf die Anmeldung zu.
»Guten Tag, Eichendorff mein Name, Julius Eichendorff. Ich möchte zur …«, er zog einen sauber gefalteten Zettel aus der Jackentasche, »… zum K 11.«
»Und zu wem wollen Sie im Fachkommissariat Kapitaldelikte?«, fragte eine unbeteiligte Stimme hinter der Panzerglas-Schutzscheibe.
Julius sah wieder auf den Zettel. Manchmal konnte selbst er seine Schrift nicht entziffern. »Zu Frau von Keuschenberg.«
»Frau von Reuschenberg?«
»Ja, das könnte es auch heißen.«
»Die ist nicht da.«
»Aber ich habe heute Morgen noch mit ihr telefoniert.«
»Jetzt ist sie aber nicht da. Sie ist nach Mayen gefahren, um dort mit den Kollegen von der Polizeipuppenbühne etwas zu besprechen.«
»Ah, so …«
Das klang ja wirklich wichtig! Da fuhr diese Frau von Reuschenberg also seelenruhig zur uniformierten Ausgabe der Augsburger Puppenkiste, während seine Großkusine unschuldig hinter schwedischen Gardinen versauerte. Julius musste extrem verärgert ausgesehen haben, denn die unbeteiligte Stimme zeigte Mitleid.
»Sie können auf sie warten. 3. Stock, zweite Tür links, Raum 341. Die Kollegin wird bald wieder da sein.«
In Wartezimmer 341 angekommen, erwartete Julius eine Überraschung.
Dort saß auf einem braunen Plastikstuhl die Wäscherei und Heißmangel Mallmann. Oder genauer: deren fleischliche Manifestation Frau Mallmann. Sogar im weißen Arbeitskittel. Julius hatte immer schon vermutet, dass sie den niemals ablegte. Er hatte sie noch nie ohne gesehen, was ihm angesichts ihrer wogenden Körperformen auch ganz lieb war.
»Frau Mallmann! Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet, Sie hier zu sehen.«
Es dauerte lange, bis die sonst so redselige Wäscherin und Heißmanglerin antwortete.
»Ja … ja, aber ich kann ja nun nichts dafür. Es ist doch meine Pflicht!«
Das ging jetzt ein bisschen schnell.
»Wofür können Sie nichts, Frau Mallmann?«
»Ich musste das doch melden! Und dann sind sie es direkt abholen gekommen. Zwei Beamte aus Bad Neuenahr waren das. Und die haben gesagt, ich muss sofort nach Koblenz fahren, obwohl ich ja überhaupt keine Zeit habe! Montags ist doch bei uns immer so viel los!«
Julius nahm den nächsten Anlauf.
»Was mussten Sie melden?«
»Das Nachthemd! So was hab ich ja noch nie gesehen! Und weil der Herr Schultze-Nögel doch ermordet wurde. Der arme Mann. Ich hab ihn ja nicht gut gekannt, hat ja auch nie gegrüßt, war immer zu beschäftigt. Aber jetzt das. Das wünscht man ja keinem! So plötzlich aus dem Leben gerissen. Von heute auf morgen. Nee nee nee …«
Frau Mallmann machte Julius rasend. Und sie hatte ihn schon immer rasend gemacht. Das war der Grund gewesen, warum er für das Restaurant eine teure professionelle Waschmaschine angeschafft hatte, statt die verschmutzten Sachen weiterhin zu ihr zu bringen.
»Jetzt mal ganz ruhig, Frau Mallmann. Wessen Nachthemd und was haben Sie noch nie gesehen?«
»Na, das Nachthemd von der Frau Schultze-Nögel, der Gisela! Das ist heut Morgen bei uns abgegeben worden. Ich war selbst ja nicht da, hat unsere türkische Mitarbeiterin angenommen. Ist auf den Namen Schultze-Nögel abgegeben worden, aber nicht von der Gisela. Die Aische kannte den Mann nicht, der es vorbeigebracht hat. So was hab ich noch nie gesehen! Über und über mit Rotwein ist das voll. Als hätte sie drin gebadet! Und wo der Herr Schultze-Nögel ja im Maischebottich lag, da macht man sich dann schon seine Gedanken.«
Da hatte die Heißmanglerin wohl Recht. Wer immer Siggi in den Maischebottich befördert hatte, ohne Flecken war das nicht vonstatten gegangen.
»Und diese Frau von … die hat gesagt, ich soll sofort herkommen, wegen einer Zeugenbefragung.«
Wie aufs Stichwort kam Frau von Reuschenberg zur Tür herein. Mit einem Lächeln und einer ausgestreckten Hand in Richtung der Detektei und Wäscherei Mallmann.
»Frau Mallmann, hab ich Recht?«
Frau Mallmann nickte schüchtern.
»Schön, dass Sie direkt hergekommen sind. Wollen Sie gleich mit mir rübergehen?«
»Aber was soll ich Ihnen denn sagen? Ich weiß von nichts. Ich hab doch nur …«
»Machen Sie sich mal keine Sorgen. Wir bohren auch gar nicht!«
Frau Mallmann verstand den Witz nicht und folgte der Kommissarin entsprechend verständnislos nach nebenan. Julius fühlte sich übergangen. So ging das ja nun nicht! Also stand er auf und klopfte am Nebenzimmer. Die Stimme der jungen Polizistin verriet ihm, dass er an der richtigen Tür war. Er streckte den Kopf hinein. Ein verdutztes polizeiliches Augenpaar blickte ihn an.
»Wollten Sie etwa auch zu mir?«
»Ja. Und das hätte ich Ihnen auch gesagt, wenn Sie mich gefragt hätten.«
»Ich bin gerade in einer Vernehmung. Wenn Sie noch einen Augenblick warten können.«
»Eigentlich wollte ich nur zu meiner Großkusine, Frau Schultze-Nögel.«
»Die haben wir natürlich nicht hier. Wo sollen wir die auch hinstecken? In die Schublade? Warten Sie doch bitte einen Augenblick. Danke.«
Dieses »Danke« duldete keinen Widerspruch. Es war ein freundlich verpackter Befehl.
Also wartete Julius wieder im trostlosen Zimmer nebenan, schlenderte gelangweilt zur Fensterfront und sah, dass es nichts zu sehen gab. Koblenzer Straßen mit Koblenzer Innenstadtstau. Zeitschriften lagen nicht aus, vermutlich war den meisten Besuchern hier nicht nach lesen. Schließlich setzte sich Julius und dachte darüber nach, was er mit der Lieferung Wels, die er morgen erwartete, kulinarisch anstellen konnte. Er hatte den Fisch noch nicht filetiert, da rief ihn Frau von Reuschenberg schon zu sich.
Es war ein ungewöhnliches Büro. Es schien eher einem Botaniker zu gehören. Die unterschiedlichsten Pflanzen waren in jede denkbare Ecke des kleinen Raums drapiert. Frau von Reuschenberg hatte es geschafft, ihr graues Büro in einen Dschungel zu verwandeln. Und einige der Gewächse hätte Julius wirklich nicht erwartet.
»Sie haben ja Oregano und Salbei auf der Fensterbank stehen!«
»Das ist Ihnen aufgefallen? Ja, ich riech so gern daran. Dann kann ich mich schon hier auf mein Abendessen freuen. Zu Hause hab ich lauter frische Kräuter.«
»Sehr lobenswert!«
Sie lachte. »Das ist ein ungewöhnliches Kompliment …«
»Wenn es von einem Koch kommt, nicht.«
»Ah, jetzt verstehe ich. Sie müssen demnach der …«, sie kramte im gelben Ablagefach, wechselte dann aber zum grünen, »Augenblick, ich hab’s gleich!« Schließlich fand sie, was sie suchte, im blauen.
»Sie müssen Julius Eichendorff sein, der Großcousin. Über Sie ist mir schon berichtet worden.«
»Das klingt, als sei das nicht nur positiv gewesen.«
»So kann man das durchaus sagen. Herr Jupp Burbach meinte, Sie würden dafür sorgen, dass ich Ärger bekomme.«
»Er muss es ja wissen.«
»Bekomme ich Ärger?«
»Das hoffe ich. Zumindest einerseits.«
Ihre Stimmung änderte sich nun. Wie ein riesiger Gummi radierte Nüchternheit das charmante Lächeln aus dem Gesicht.
»Wie darf ich das verstehen?«
»Nun. Ich hoffe, nein ich denke, nein ich weiß, dass Sie falsch liegen, was Ihren Verdacht bezüglich meiner Großkusine angeht. Insofern hoffe ich, dass Sie deswegen Ärger mit Ihrem Chef bekommen. Allerdings wäre es mir noch lieber, wenn Sie Unrecht hätten und trotzdem keinen Ärger bekämen. Ich bin kein so rachsüchtiger Mann wie Jupp.«
»Das beruhigt mich. Aber Sie haben doch mitbekommen, weswegen Frau Mallmann hier war?«
»Ja.«
»Erhärtet das nicht den Verdacht gegen Ihre Großkusine?«
»Tut es. Aber ich habe etwas, das ihn erschüttert.«
»Ich bin gespannt.«
Sie lehnte sich zurück. Inmitten all der Pflanzen fielen Julius die katzenhaften Züge ihres Gesichts auf. Die klugen Augen hinter der kleinen, runden Brille und die hohen Wangenknochen. Es war, als lauerte sie auf den nächsten Sprung. Julius erzählte ihr von dem Fass, seinem Gespräch mit dem Kellermeister und seinem Vorhaben, auch Gisela danach zu befragen. Die Katze sprang nicht. Stattdessen entspannte sie sich und bot Julius einen Kaffee an.
»Nein, nie. Nur Tee, wenn Sie haben.«
»Leider nicht. – Unfassbar, dass die Spurensicherung das übersehen hat!«
»Die schienen mir auch mehr mit Rauchen als mit Spurensichern beschäftigt zu sein.«
Frau von Reuschenberg nahm einen Schluck heißen Kaffee und bleckte anschließend die Zähne. »Ich werde der Sache natürlich nachgehen. Was Ihre Großkusine angeht, die ist in der JVA an der Simmerner Straße, hier in Koblenz, untergebracht. Ich mach Ihnen einen Vorschlag: Ich ruf jetzt den ermittelnden Staatsanwalt wegen einer Besuchserlaubnis an, und Sie holen die im Justizgebäude ab. Wenn Sie sich beeilen, können Sie Ihre Großkusine noch heute sehen.«
Und genau so war es dann auch.
Ein Tisch, zwei Stühle, kein Fenster und ein Justizvollzugsbeamter waren alles, was sich im Raum befand.
Gisela saß Julius gegenüber und war hörbar schockiert über das Fass.