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Inklusion in Schule und Gesellschaft

Herausgegeben von

Erhard Fischer, Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert und Reinhard Lelgemann

 

Band 2

Ewald Kiel (Hrsg.)

Inklusion im Sekundarbereich

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

 

1. Auflage 2015

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-026385-7

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-026386-4

epub:    ISBN 978-3-17-026387-1

mobi:    ISBN 978-3-17-026388-8

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Vorwort der Reihenherausgeber

 

 

Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 für Deutschland verbindlich gilt, entwickelt sich die Idee der Inklusion zu einem neuen Leitbild in der Behindertenhilfe. Sowohl in der Schule als auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen sollen Menschen mit Behinderung von vornherein in selbstbestimmter Weise teilhaben können. Inklusion in Schule und Gesellschaft erfordert einen gesamtgesellschaftlichen Reformprozess, der sowohl auf die Umgestaltung des Schulsystems als auch auf weitreichende Entwicklungen im Gemeinwesen abzielt. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung wird in Deutschland durch ein differenziertes Bildungssystem und eine stark ausgeprägte spezialisierte sonderpädagogische Fachlichkeit bezogen auf unterschiedliche Förderschwerpunkte bestimmt. Vor diesem Hintergrund soll die Buchreihe »Inklusion in Schule und Gesellschaft« Wege zur selbstbestimmten Teilhabe von Menschen mit Behinderung in den verschiedenen pädagogischen Arbeitsfeldern von der Schule über den Beruf bis hinein in das Gemeinwesen und bezogen auf die unterschiedlichen sonderpädagogischen Förderschwerpunkte aufzeigen. Der Schwerpunkt liegt dabei im schulischen Bereich. Jeder Band enthält sowohl historische und empirische als auch organisatorische und didaktisch-methodische sowie praxisbezogene Aspekte bezogen auf das jeweilige spezifische Aufgabenfeld der Inklusion. Ein übergreifender Band wird Ansätze einer interdisziplinären Grundlegung des neuen bildungs- und sozialpolitischen Leitbildes der Inklusion umfassen.

Die Buchreihe wird die folgenden Einzelbände umfassen:

Band 1: Inklusion in der Primarstufe

Band 2: Inklusion im Sekundarbereich

Band 3: Inklusion im Beruf

Band 4: Inklusion im Gemeinwesen

Band 5: Inklusion im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung

Band 6: Inklusion im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Band 7: Inklusion im Förderschwerpunkt Hören

Band 8: Inklusion im Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung

Band 9: Inklusion im Förderschwerpunkt Lernen

Band 10: Inklusion im Förderschwerpunkt Sehen

Band 11: Inklusion im Förderschwerpunkt Sprache

Band 12: Inklusive Bildung – interdisziplinäre Zugänge

Die Herausgeber

Erhard Fischer

Ulrich Heimlich

Joachim Kahlert

Reinhard Lelgemann

Inhaltsverzeichnis

  1. Einleitung: Inklusion im Sekundarbereich – ein schwieriges Feld
  2. Was bedeutet Inklusion für das Anforderungsspektrum von Lehrerinnen und Lehrern in der Sekundarstufe?
  3. Sabine Weiß
  4. 1 Einleitung
  5. 2 Die Identifikation von Anforderungen an Lehrpersonen in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf
  6. 3 Methode
  7. 4 Ergebnisse
  8. 5 Diskussion
  9. Gemeinsamer Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf – ein empirischer Überblick
  10. Markus Gebhardt
  11. 1 Schulische Leistungen von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf
  12. 2 Schulische Leistungen im gemeinsamen Unterricht bei Schülerinnen und Schülern ohne sonderpädagogischem Förderbedarf
  13. 3 Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht
  14. 4 Soziale Partizipation
  15. 5 Einstellungen zur Inklusion
  16. 6 Lehrerkooperation im gemeinsamen Unterricht
  17. 7 Fazit
  18. Unterrichtsgestaltung und Inklusion
  19. Rolf Werning, Ann-Kathrin Arndt
  20. 1 Einleitung
  21. 2 Inklusionsbegriff
  22. 3 Herausforderungen eines inklusiven Unterrichts in der Sekundarstufe I
  23. 4 Guter Unterricht – was ist das? Und was bedeutet dies für inklusiven Unterricht?
  24. 5 Spannungsfelder inklusiver Unterrichtsgestaltung
  25. 6 Inklusiven Unterricht gemeinsam gestalten – Kooperation im Kollegium
  26. 7 Ausblick
  27. Spielräume nutzen – Perspektiven inklusiver Schulentwicklung
  28. Barbara Koch, Annette Textor
  29. 1 Einleitung
  30. 2 Das Schulsystem in Deutschland im Spannungsfeld von Segregation und Inklusion
  31. 3 Spezifika der Sekundarstufe
  32. 4 Schulorganisatorische Modelle der Inklusion
  33. 5 Schulentwicklung und Inklusion
  34. 6 Fazit
  35. Professionalisierung für Inklusion – Impulse für die Lehrer/-innenbildung der Sekundarstufe
  36. Bettina Amrhein
  37. 1 Einleitung
  38. 2 Inklusion – eine besondere Herausforderung für Lehrer/-innen der Sekundarstufe
  39. 3 Inklusionsorientierte Lehrer/-innenbildung der Sekundarstufe
  40. 4 Professionalisierung für Inklusion gestalten
  41. 5 Innovation für Inklusion und Lifelong-Learning – next practice im Lehrer/-innenberuf
  42. 6 Fazit
  43. Autorenverzeichnis

Einleitung: Inklusion im Sekundarbereich – ein schwieriges Feld

Ewald Kiel

Beiträge über Inklusion im Sekundarbereich zusammenzustellen, erweist sich als eine nicht ganz einfache Aufgabe. Recherchiert man etwa auf Homepages von Professorinnen und Professoren, die explizit eine Denomination für eine spezifische Sekundarstufenform haben, etwa eine Professur für Hauptschulpädagogik, Realschulpädagogik oder Gymnasialpädagogik, finden sich in deren Publikationslisten so gut wie keine Beiträge zum Thema Inklusion. Im Bereich der Fachdidaktiken sieht es nur wenig besser aus. Warum ist das so? Hierauf will die Einleitung, ausgehend von zwei authentischen Fällen, eine skizzenhafte Antwort geben, um dann kurz die Beiträge dieses Sammelbandes vorzustellen, in dem sich, mit zwei Ausnahmen, Sonderpädagoginnen und -pädagogen zur Inklusion im Sekundarbereich äußern. Zunächst ein Fall, der intensiv in den Medien diskutiert wurde (z. B. Focus, Nr. 22/16, 2014). Dann folgt ein Fall, der aus einem Gespräch zwischen Lehrkräften in einer Podiumsdiskussion stammt, aber ebenfalls exemplarisch ist.

In Baden-Württemberg möchte eine Familie ihr Kind, das Trisomie 21 hat, auf einem Gymnasium anmelden. Die Familie beruft sich einerseits auf die von der Bundesregierung ratifizierte Behindertenrechtskonvention und andererseits darauf, dass es für die psychische Entwicklung ihres Kindes wichtig sei, nicht von seinen Schulfreunden und -freundinnen aus der Grundschulzeit getrennt zu werden. Das Gymnasium weigert sich. Es verweist auf den Bildungsauftrag des Gymnasiums, der im Wesentlichen darin besteht, Kinder zum Abitur zu führen, sie auf das Studium vorzubereiten oder ihnen mit dem Abitur einen Bildungsabschluss zu offerieren, der sie für hochwertige Berufe qualifiziert. Die Weigerung ist nicht nur eine Weigerung der Schulleitung. Das Kollegium spricht sich in einer Gesamtkonferenz gegen die Aufnahme des Schülers aus. Der hinzugezogene Elternbeirat lehnt die Aufnahme des Kindes ebenfalls ab mit dem Argument, die Lernentwicklung der nicht behinderten Schülerinnen und Schüler würde dadurch Schaden nehmen. Das in letzter Instanz eingeschaltete Kultusministerium stellt lakonisch fest, dass gegen den Willen des Kollegiums kein Übergang auf dieses Gymnasium möglich sei. Der Versuch, das Kind dann auf einer Realschule einzuschulen, scheitert an ähnlichen Gründen.

Eine Lehrerin aus dem Förderschulbereich, die eine 6. Klasse mit 10 Schülerinnen und Schülern hat, die alle in mehr oder weniger großem Maße an einem Aufmerksamkeitsdefizit leiden, berichtet im Kreise von Regelschullehrern und -lehrerinnen von ihrem Umgang mit Regeln im Klassenzimmer. Anders als in der Regelschule üblich gibt es bei ihr keine für alle Kinder geltenden Klassenregeln. Im Gegenteil, es gibt Tischregeln und manchmal Regeln, die nur für ein einzelnes Kind gelten. Darüber hinaus, so sagt die Förderschullehrerin, müssen diese Regeln nicht den ganzen Vormittag eingehalten werden, sondern sie sei froh, wenn manche Kinder sich wenigstens 30 oder 60 Minuten an diese spezielle Tisch- oder Individualregel halten können. Die Kolleginnen und Kollegen aus der Regelschule sind erstaunt über diesen Umgang mit Regeln, loben diesen Umgang gleichzeitig und eine bemerkt hierzu: »Auf so eine Idee wäre ich nie gekommen!«

Beide Beispiele charakterisieren zentrale Probleme der Einführung von Inklusion im Sekundarbereich. Der erste Fall verweist auf die vielfältigen systemischen Probleme, die sich aus einem Anspruch auf Inklusion ergeben. Im Kontext eines dreigliedrigen Schulsystems, welches vorgibt, nach Leistungen zu differenzieren, macht die Einschulung eines Kindes mit Trisomie 21 in ein Gymnasium keinen Sinn, weil es das Ziel dieser Schule niemals erreichen wird. Nimmt man ein Kind mit geistiger Behinderung am Gymnasium auf, wäre es schwierig, das dem dreigliedrigen Schulsystem zu Grunde liegende Selektionsprinzip zu verwirklichen. Man könnte etwa kaum ablehnende Argumente gegenüber Eltern finden, deren Kind eine Realschulempfehlung hat, die aber möchten, dass ihr Kind auf ein Gymnasium geht. Schullaufbahnempfehlungen lassen sich vor dem Hintergrund des Anspruchs auf Inklusion kaum umsetzen. Wenn es der politische Wille ist, Kinder mit und ohne bzw. mit unterschiedlichen Förderbedarfen nach der Grundschulzeit gemeinsam an Unterrichtsgegenständen arbeiten zu lassen und sie gemeinsam zu beschulen, dann stellt dies das dreigliedrige Schulsystem in Frage. Das heißt, der Anspruch auf Inklusion begründet einen Anspruch auf einen fundamentalen Systemwechsel des deutschen Schulsystems hin zu einer Form von Gemeinschaftsschule.

Neben dieser makrosystemischen Frage werden jedoch auch andere Probleme auf untergeordneten Systemebenen deutlich. Lehrerkollegien sowie die Eltern müssten von der Richtigkeit und von der Wichtigkeit einer inklusiven Schulgestaltung überzeugt werden. Das Kultusministerium hat bei der gegenwärtigen Ausgestaltung des Schulsystems Recht, wenn es argumentiert, man könne eine inklusive Beschulung nicht gegen den Willen der Lehrer und Lehrerinnen durchsetzen. Verweigern Lehrkräfte ihren Vermittlungs- und Förderauftrag, können Kinder und Jugendliche nicht beschult werden. Das gilt nicht nur für diese spezielle Schule, sondern für alle Schulen in der Bundesrepublik Deutschland.

Die Interpretation des zweiten Beispiels knüpft an die Interpretation des ersten an. Bei dem dort dargestellten Problem der Gültigkeit von Interaktionsregeln wird das »Befremdetsein« von Lehrerinnen und Lehrern aus der Regelschule besonders deutlich. Die Konzeptualisierung von Unterricht in der Regelschule richtet sich an einen Klassenverband und weniger an individuelle Schüler oder Schülergruppen. Gleichzeitig wird an diesem simplen Beispiel deutlich, dass das Befremden sehr viel mit einem Kompetenzdefizit zu tun hat. Die Förderschullehrerin wird für ihre Lösung gelobt und gleichzeitig gibt die Regelschullehrerin zu, ihr wäre diese Lösung niemals eingefallen. In der Ausbildung von Regelschullehrkräften werden solche Situationen nicht thematisiert. Dies hat zweifellos auch mit der im Wesentlichen getrennt voneinander ablaufenden Ausbildung von Regelschullehrerinnen und -lehrern sowie Sonderpädagoginnen und -pädagogen zu tun. Dabei wird auch hier wieder eine große systemische Komponente deutlich, welche durch den Anspruch auf Inklusion zu Tage tritt. Es geht um eine systemische Verknüpfung von bisher getrennten Ausbildungsgängen. Schaut man sich in diesem Zusammenhang Untersuchungen zu Beliefs und Einstellungen von Lehrerinnen und Lehrern zur Inklusion an, dann finden sich national wie international ähnliche Befunde: Lehrerinnen und Lehrer haben so etwas wie eine grundsätzliche Bereitschaft zur Inklusion, gleichzeitig haben sie Angst vor dem Befremdenden und Unerwarteten und fühlen sich zu Recht nur ungenügend für das neu von ihnen Verlangte ausgebildet (Avramides/Bayliss/Burden, 2000; Avramides/Norwich, 2002; Amrhein, 2011).

Diese Angst vor dem Neuen wird sicherlich durch grundsätzliche Rahmenbedingungen des pädagogischen Handelns der Lehrkräfte verstärkt: Pädagogisches Handeln ist seiner Struktur nach unsicher (Kiel/Pollak, 2011; Shulman, 1991): Der Zusammenhang zwischen Absichten, pädagogischen Handlungen und Wirkungen ist weder deterministisch, noch ist er zufällig. Es gibt keine sichere Verknüpfung weder von Absichten und Handlungen noch von Handlungen und Wirkungen.

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Trotz der Festsetzung vieler Faktoren (Lehrplan, Lehrmittel, Klassengröße usw.) kann eine Vielzahl von Aspekten nicht fixiert werden. Die geringe Planbarkeit führt zu Handlungsstörungen und verlangt von der Lehrperson die Fähigkeit zu spontaner Reaktion und zu situativen Entscheidungen. Dem stehen inhaltliche Lehrplanvorgaben, dienstrechtliche Bestimmungen usw. gegenüber, so dass sich der Lehrerberuf in einer »Schwebelage zwischen Reglementierung und ›pädagogischer Freiheit‹« befindet (Rothland, 2013, S. 25). Kommt in dieser Situation der Umgang mit Kindern und Jugendlichen hinzu, die sonderpädagogischen Förderbedarf haben, steigt das Gefälle von behinderten Schülerinnen/Schülern und Pädagoginnen und Pädagogen. Benkmannn hat hierfür die schöne Wendung gefunden, dass das »wissende Nicht-Wissen« in pädagogischen Interaktionen mit Kindern und Jugendlichen mit Förderbedarf besonders groß sei (Benkmann, 2011, S. 9). Diejenigen, die hierfür nicht ausgebildet sind, entwickeln besondere Bedenken.

Die beiden Eingangsfälle und ihre skizzenhafte Interpretationen machen deutlich, weshalb sowohl Wissenschaftler als auch professionelle Lehrkräfte Berührungsängste mit dem Thema Inklusion im Sekundarbereich haben. Einerseits sind beide Seiten mit der furchteinflößenden Aussicht konfrontiert, dass der Kontext, in dem sie und für den sie arbeiten, in dieser Form aufhört zu existieren. Dies geht einher mit dem Zusammenbruch der bisher geltenden Wertsysteme, die durch Leistungsorientierung und Homogenisierung gekennzeichnet sind. Auf der anderen Seite gibt es zurzeit kein identitätsstiftendes Wertsystem, welches Sonderpädagoginnen und -pädagogen sowie Regelschullehrkräfte zusammenführen könnte. Dies zeigt sich u. a. in diesem Herausgeberband daran, dass fast alle Autorinnen und Autoren ihren Beitrag mit einer grundsätzlichen Begriffsklärung in Hinblick auf den Begriff Inklusion beginnen. Dies scheint beim gegenwärtigen Stand der Inklusionsforschung ein immer wieder notwendiges Desiderat zu sein und trägt zur allgemeinen Verunsicherung bei, gerade bei denjenigen, die Inklusion umsetzen sollen.

Das Nichtvorhandensein eines eindeutigen handlungsleitenden Wertesystems ist verknüpft mit einem Mangel an Kompetenzen. Regelschullehrkräften etwa mangelt es an diagnostischen Kompetenzen und Handlungskompetenzen, mit denen sie einerseits feststellen können, welche Störungsbilder vorliegen, und andererseits abwägen können, welche Interventionen funktional erscheinen. Andererseits sind Sonderpädagoginnen und -pädagogen die Orientierung an Klassenverbänden, gemeinsam zu erreichende Bildungsstandards oder Leistungsorientierung eher fremd. Hinzu kommt ein Mangel an Differenzierung zwischen verschiedenen sonderpädagogischen Förderformen. Inklusion wird vor allem absolut gedacht. Häufig erfolgt in der vielfältigen programmatischen Literatur eine Reduktion auf den guten Willen, man müsse sich nur anstrengen, dann könne man alle, die behindert sind – sei es körperbehindert, geistig behindert, verhaltensauffällig – von Anfang an an gemeinsamen Gegenständen arbeiten lassen. Diese Gemengelage aus Ängsten vor dem Systemwechsel, unterschiedlichen Werten, undifferenziertem »Gutmenschentum« und Kompetenzdefiziten wird in allen hier dargestellten Beiträgen in unterschiedlicher Intensität aufgegriffen:

Sabine Weiß, Akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Schulpädagogik der LMU München, fragt auf der Basis empirischer Anforderungsanalysen danach, welchen Anforderungen Lehrerinnen und Lehrer in der Sekundarstufe in einem inklusiven Kontext ausgesetzt sind. Dabei hebt sie den Unterschied zwischen Regelschullehrkräften und Sonderpädagogen und pädagoginnen besonders heraus. Für die Sonderpädagoginnen und -pädagogen spielt eine potenzialorientierte Haltung oder ein spezifisches Ethos im Sinne eines positiven Menschenbildes eine wichtige Rolle. Dieses Ethos lehnt eine Defizitorientierung ab und beschäftigt sich im Sinne des ursprünglichen Begriffs »Fördern« damit, »Schätze« in den Kindern und Jugendlichen zu finden, die es gilt ans Tageslicht zu bringen.

Markus Gebhardt, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TUM School of Education, widmet sich der verdienstvollen Aufgabe, aus der großen Menge häufig programmatischer Literatur zur Inklusion national wie international die empirischen Beiträge zu identifizieren und in ihren Kernaussagen kurz darzustellen. Seine kenntnisreiche Darstellung verweist auf einige der wenigen Studien, in denen der Erfolg von Schülerinnen und Schülern mit inklusiver Beschulung differenziert nach Förderbedarfen untersucht wird. Gleichzeitig finden sich bei ihm viele Studien, in denen diese Differenzierung nicht gemacht wird. Insgesamt zeichnet sein Einblick in den möglichen Erfolg inklusiver Beschulung in der Sekundarstufe ein optimistisches Bild, jedoch bleibt die offene Frage, welche Modelle des gemeinsamen Unterrichts für welche Zielgruppe eine positive Wirkung haben und wie solche Unterrichtsmodelle in den einzelnen Unterrichtsfächern umgesetzt werden können.

Rolf Werning, Professor an der Universität Hannover, und Ann-Kathrin Arndt, wissenschaftliche Mitarbeiterin an derselben Universität, knüpfen an Gebhardts Frage an. In ihrem Beitrag geht es um »Unterrichtsgestaltung und Inklusion«. Anders als Gebhardt sehen sie in diesem Thema weniger eine offene Frage, sondern heben hervor, dass sich Unterricht in inklusiven Settings nicht prinzipiell vom Unterricht an herkömmlichen Schulen unterscheiden müsse. Das heißt, auch eine Didaktik inklusiven Unterrichts orientiert sich an Prinzipien guten Unterrichts wie wir sie aus der Tradition der geisteswissenschaftlichen Didaktik, aber auch von der modernen Lehr-Lerntheorie her kennen. Das Spezifische inklusiver Settings liegt für Werning und Arndt in einer Reihe von Spannungsfeldern begründet sowie in der Notwendigkeit einer multiprofessionellen Zusammenarbeit, die im deutschen Schulsystem eher die Ausnahme ist. Die besondere Wertorientierung des Autors und der Autorin lässt sich auf eine griffige Formel bringen: »Maximierung der Teilhabe und Minimierung von Diskriminierung«. Theoretisch spielt das mehrebenentheoretisch erweiterte Angebot-Nutzungs-Modell von Fend eine wichtige Rolle in ihren Überlegungen.

Der Beitrag von Barbara Koch, Vertretungsprofessorin an der Universiät Lüneburg, und Annette Textor, Professorin an der Universität Bielefeld, hat einen starken Bezug zu der von Werning und Arndt erhobenen Forderung nach multiprofessioneller Zusammenarbeit. Die beiden Autorinnen betrachten die Frage nach der Inklusion in der Sekundarstufe unter den Perspektiven der Schulentwicklung und Schulorganisation, die in einem inklusiven Setting deutlich partizipativer und kooperativer sein sollten. Sie begründen ihren Anspruch demokratietheoretisch, menschenrechtstheoretisch und bildungsökonomisch. Ihre Darstellung schulorganisatorischer Modelle der Inklusion stellt Fragen der Ressourcenverteilung, der Verortung der sonderpädagogischen Ressourcen und der konzeptuellen Differenzierung der Organisation von Schule in den Mittelpunkt. Da auch die Autorinnen die Hinwendung zur Inklusion als einen Systemwechsel betrachten, werden in einem weiteren Abschnitt Strategien und Instrumente erläutert, die auf Ebene der Einzelschulen im Rahmen einer inklusiven Schulentwicklung angewendet werden können.

Bettina Amrhein, zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Werks Gastprofessorin an der Universität Hildesheim, fragt nach den Bedingungen der Professionalisierung für Inklusion im Rahmen der Lehrer/Innenbildung in der Sekundarstufe. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist auch der Systemwechsel und die sich hieraus ergebenden immensen Spannungen zwischen leistungsorientierten Selektions- und Homogenisierungspraktiken des Sekundarschulsystems und dem durch die Inklusion formulierten Anspruch, jede Schülerin und jeden Schüler entsprechend ihren oder seinen individuellen Möglichkeiten zu fördern und zu fordern. Sie betrachtet die Professionalisierung für die Inklusion als ein berufsbiografisches Entwicklungsproblem, welches Konsequenzen für die Lehrerausbildung und -weiterbildung hat.

Literatur

Amrhein, Bettina: Inklusion in der Sekundarstufe. Eine empirische Analyse. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2011

Avramidis, Elias/Bayliss, Phil/Burden, Robert: Student teachers’ attitudes towards the inclusion of children with special educational needs in the ordinary school. In: Teaching and Teacher Education 16 (2000), S. 277-293

Benkmann, Rainer: Professionalisierung von Sonderschullehrkräften für den Gemeinsamen Unterricht. In: Schulpädagogik heute 2 (2011), S. 1-16

Kiel, Ewald/Pollak, Guido: Kritische Situationen im Referendariat bewältigen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2011

Rothland, Martin: Beruf: Lehrer – Arbeitsplatz: Schule. Charakteristika der Arbeitstätigkeit und Bedingungen der Berufssituation. In: Rothland, Martin (Hrsg.): Belastung und Beanspruchung im Lehrerberuf. Modelle – Befunde – Interventionen. Wiesbaden: VS, 2013, S. 21-39

Shulman, Lee S.: Ways of seeing, ways of knowing: Ways of teaching, ways of learning about teaching. In: Journal of Curriculum Studies 23 (1991), S. 393-395

Was bedeutet Inklusion für das Anforderungsspektrum von Lehrerinnen und Lehrern in der Sekundarstufe?

Sabine Weiß

1          Einleitung

Mit der Verabschiedung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (2009) verpflichtete sich die Bundesrepublik Deutschland unter anderem, ein inklusives Schulsystem zu schaffen. Mit der Umsetzung dieses Ziels sind tiefgreifende Veränderungen des Schulsystems, aber auch ein Wandel des Selbstverständnisses und des Anforderungsspektrums der Regelschulen verbunden. Doch muss hier die Regelschule differenziert betrachtet werden, denn der Inklusionsgedanke ist in den einzelnen Bildungsstufen unterschiedlich verankert (vgl. Bertelsmann-Stiftung, 2012): Der Anteil der Kinder und Jugendlichen mit einem diagnostizierten sonderpädagogischen Förderbedarf, die inklusiv unterrichtet werden, nimmt von Bildungsstufe zu Bildungsstufe ab. Während er in den Kindertageseinrichtungen noch bei mehr als zwei Dritteln liegt, beträgt er in weiterführenden Schulen nur noch 21,9 %. Betrachtet man Gymnasium und Realschule einzeln, sinkt die Quote auf nur 4,3% und 5,5%.

Diese Statistiken spiegeln sich in bestehenden Publikationen und Befunden wider. Diese sind weitgehend auf die Grundschule konzentriert, in der Inklusionsbemühungen schon weiter entwickelt sind (vgl. z. B. Dumke/Eberl, 2002; Kahlert, 2012). Gleiches gilt für das Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern. In weiterführenden Schulen ist der Gedanke, inklusiv zu beschulen, weniger fortgeschritten. Daher sind nicht nur institutionelle Reformen erforderlich, es muss sich auch das Selbstverständnis von Lehrpersonen ändern. Erschwert wird dies dadurch, dass Lehrerinnen und Lehrer, trotz einer positiven Grundstimmung gegenüber inklusiven Maßnahmen, Unsicherheit und Schwierigkeiten kommunizieren (Amrhein, 2011; Avramidis/Bayliss/Burden, 2000; Eberl, 2000). Diese lassen sich subsummieren in einer Unklarheit bezüglich des Anforderungsspektrums der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf sowie einer fehlenden diesbezüglichen Ausbildung – Befunde, die bereits seit den ersten Forschungsansätzen zum Gemeinsamen Unterricht bestehen (Dumke, 1989; Larrivee, 1981; vgl. auch die Metaanalyse von Center/Ward, 1987).

Soll sich das Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern ändern, müssen diese Klarheit über die neuen Aufgaben und Anforderungen erhalten und auch dafür ausgebildet werden (Ainscow, 2007; Biewer/Fasching, 2012). An dieser Stelle setzt die in diesem Kapitel vorgestellte Untersuchung an, die der Identifikation von Anforderungen der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf in der Sekundarstufe nachgeht.

2          Die Identifikation von Anforderungen an Lehrpersonen in der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf

Die Untersuchung von Anforderungen im Lehrerberuf

Die Auseinandersetzung mit der Identifikation von Anforderungen im Lehrerberuf ist in Deutschland stark beeinflusst worden von der Einführung von Standards in den USA (z. B. NBPTS, 2003). Ansätze der Standardisierung verfolgen das Ziel, verbindliche Anforderungen an das Lehren und Lernen zur Sicherung und Steigerung der Qualität pädagogischer Arbeit zu etablieren. Die Standards sollen Eltern, Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler sowie die Bürokratie über verbindliche Ziele orientieren und ein Monitoring des Erreichens dieser Ziele möglich machen (Klieme et al., 2003). Solchen Standards fehlt, in Deutschland wie in den USA, häufig eine empirische Überprüfung. Es gibt wenig konkrete Umsetzungsvorschläge für den Unterricht, die mangelnde Integration verschiedener Standards in ein Gesamtkonzept von Lehrerbildung wird beklagt (Borko/Whitcomb, 2008). Gleiches gilt für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf. Auch die einzelnen Förderschwerpunkte unterliegen dem Trend der Standardisierung (KMK, 1994; Verband Sonderpädagogik, 2009) – und auch diese Standards werden vielfältig kritisiert, z. B. aufgrund mangelnder Konkretion, eines hohen Allgemeinheitsgrades und geringer Operationalisierbarkeit (Berner/Halbheer, 2011; Wember/Prändl, 2009).

Daneben bestehen verschiedene Ansätze und Studien, die auf die Anforderungen an Lehrpersonen abzielen. Auf theoretischer Ebene lassen sich z. B. Professionalisierungstheorien nennen (vgl. Hericks/Kunze, 2002; van den Berg, 2002). Auf empirischer Ebene ist die Auseinandersetzung mit Anforderungen geprägt durch Metaanalysen und große Studien wie die von Seidel und Shavelson (2007) oder die von Hattie (2009). Die bekannteste Studie im deutschsprachigen Raum stammt von Oser und Oelkers (2001), die in einer Delphi-Studie Standards für die Lehrerbildung entwickelten. Andere Untersuchungen wie COACTIV (Kunter et al., 2011) oder TEDS-M (Blömeke/Kaiser/Lehmann, 2010) fokussieren auf den Bereich des Fachwissens bzw. der Wissensvermittlung.

Allen diesen Ansätzen und Untersuchungen ist gemeinsam, dass sie die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf ebenso wenig thematisieren wie inklusive Schulsettings. Anforderungen an Lehrpersonen in der Inklusion, im Besonderen in der Sekundarstufe, stellen einen »blinden Fleck« der Forschung dar. Um entsprechende Anforderungen herausarbeiten zu können, müssen grundlegende Merkmale inklusiver Schulsettings sowie der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf berücksichtigt werden.

Merkmale der Tätigkeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf

Ein inklusives Schulsystem zeichnet sich dadurch aus, dass von Anfang an auf jede Form der Separation auf unterschiedliche Schularten verzichtet wird. Vielmehr besuchen idealerweise alle Schülerinnen und Schüler eines Viertels eine gemeinsame Stadtteilschule, ohne dass sie irgendwelche Voraussetzungen erfüllen (Wocken, 2011). Damit verbunden ist eine maximale Heterogenität hinsichtlich der Fähigkeiten, Interessen und Lernbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. Das Ziel eines konstruktiven Umgangs mit dieser komplexen Ausgangslage besteht darin, jedes Kind und jeden Jugendlichen entsprechend seines individuellen Potentials in der allgemeinen Lerngruppe zu fördern (Preuss-Lausitz, 2012). Feuser (1998) spricht vom gemeinsamen Lernen am gemeinsamen Gegenstand. Der Erfolg inklusiver Schulen vor Ort hängt maßgeblich vom Engagement und der Kompetenz aller beteiligten pädagogischen Fachkräfte ab (Amrhein, 2011; Biewer/Fasching, 2012). Insgesamt betrachtet besteht, wie schon erwähnt, eine grundsätzliche Offenheit gegenüber der Idee der Inklusion von Seiten der Regelschulkräfte (Avramidis et al., 2000; Dessemontet/Benoit/Bless, 2011; Horne/Timmons, 2009). Doch werden von den Lehrpersonen die eigenen, dafür notwendigen Kompetenzen meist als gering oder nicht vorhanden eingeschätzt; dies betrifft insbesondere Lehrerinnen und Lehrer in der Sekundarstufe (Amrhein, 2011).

Bezüglich der Anforderungen ist anzumerken, dass sich eine sonderpädagogisch ausgerichtete Erziehung und Unterrichtsgestaltung nicht prinzipiell von allgemeiner pädagogischer Arbeit unterscheidet (Drave/Rumpler/Wachtel, 2000). Dennoch verweisen Lehrerinnen und Lehrer darauf, dass es für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf nicht ein Anforderungsprofil gibt, sondern den unterschiedlichen Förderschwerpunkten Rechnung getragen werden muss (Avramidis/Norwich, 2002; Cook/Tankersley/Cook/Landrum, 2000; Eberl, 2000): Unterschiedliche Bedürfnisse spiegeln sich in divergierenden Anforderungen wider. Das zeigt sich auch darin, dass die einzelnen Förderschwerpunkte »unterschiedlich inklusiv arbeiten« (vgl. Bertelsmann-Stiftung, 2012): »Vorreiter« ist der Bereich Emotionale und soziale Entwicklung, während inklusiver Unterricht im Bereich Geistige Entwicklung praktisch keine Bedeutung hat (Avramidis et al., 2000; Dumke/Eberl, 2002; Gebhardt et al., 2011).

Darüber hinaus ist die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf insgesamt als zeitintensiver und belastender beschrieben (Eberl, 2000). Ebenso wird auf das in besonderem Maß zum Tragen kommende Gefälle zwischen den Schülerinnen und Schülern sowie den Pädagoginnen und Pädagogen verwiesen (vgl. Benkmann, 2011). Herausforderungen struktureller Natur bzw. der Nicht-Vorhersagbarkeit wie das Ertragen von Paradoxien und das Ausbalancieren von (strukturellen) Widersprüchen (Dlugosch/Reiser, 2009) bilden eine Kernanforderung.

Anforderungen der inklusiven Tätigkeit in der Sekundarstufe

Für den Bereich der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf besteht ein empirisches Forschungsdefizit bezüglich der zu erfüllenden Anforderungen (Stein, 2004). Dies schließt inklusive Schulsettings ein, insbesondere in der Sekundarstufe. Die bestehende Literatur ist im deutschsprachigen Raum wie auch international einerseits vielfach der Ratgeberliteratur zuzuordnen; es werden normative Empfehlungen für die Gestaltung inklusiver Maßnahmen in Klasse und Schule gegeben (z. B. mittendrin e. V., 2012; Sapon-Shevin, 2000). Andererseits gibt es theoretische Darstellungen, die die Rahmenbedingungen möglicher inklusiver Maßnahmen im Sekundarbereich beschreiben (vgl. die entsprechenden Kapitel in Opp/Theunissen, 2009) und dabei auf einzelnen Problemstellungen verweisen, z. B. die Leistungsbeurteilung (vgl. Thiele, 2009). Die sehr wenigen vorliegenden empirischen Befunde im deutschsprachigen Raum lassen sich dadurch charakterisieren, dass sie weniger auf die Identifikation eines Anforderungsprofils fokussieren als auf einzelne Anforderungen oder auf Anforderungsbereiche wie z. B. auf den integrativen Unterricht (Gehrmann, 2001; Loecken, 2000) oder auf professionelle Selbstkonzepte (Stein, 2004). Eine Spezifizierung der Anforderungen an Lehrpersonen für weiterführende Schulen wäre aber dringend erforderlich. Denn einerseits bestehen in der Sekundarstufe andere Zielsetzungen, wie beispielsweise der Aspekt der Berufsvorbereitung (vgl. Hennemann, 2009). Andererseits sind andere Rahmenbedingungen wie z. B. das Fachlehrerprinzip zu berücksichtigen (Feyerer/Prammer, 2003; Gebhardt/Krammer/Schwab/Gasteiger Klicpera, 2013).

Konkrete Anforderungen für Lehrpersonen in der Sekundarstufe finden sich einerseits in den wenigen Studien (z. T. zu verwandten Themenbereichen). Anderseits gibt es theoretisch hergeleitete Darstellungen, die häufig an die Gliederung in Kompetenzbereiche anknüpfen (z. B. Geiling, 2009; Heimlich, 2007, 2008). Diese beschreiben

Images  fachliche Kompetenzen bezüglich der Planung, Gestaltung und Durchführung von Unterricht, der Feststellung der Lernausgangslage und des Einsatzes vielfältiger und kooperativer Unterrichtsmethoden einschließlich Rückmeldung zu (kleinsten) Lernfortschritten;

Images  soziale Kompetenzen in den Bereichen der Kommunikation, der Kooperation und Vernetzung, der Gestaltung der Interaktion mit der Schülerschaft und des Schulklimas;

Images  personale Kompetenzen wie Ambiguitätstoleranz und selbstreflexive Handlungskompetenz, verbunden mit der Selbstkritik und Selbstsicherheit sowie Wahrnehmungs- und Empathiefähigkeit.

Darüber hinaus wird die Haltung aufgegriffen, aus der die Aufgabe der Anwaltschaft für Benachteiligte und Ausgegrenzte entsteht (Haeberlin, 1999). Der über das Schulorganisatorische hinausgehende Auftrag der Verankerung einer ethischen Grundhaltung liegt in der Verteidigung des Anspruchs jedes Menschen auf Erziehung und Bildung begründet (Dlugosch/Reiser, 2009). Dies bedeutet die Anerkennung der Individualität eines jeden Einzelnen, ideologische Offenheit, Überzeugung vom Lebensrecht für Alle, Glaube an Bildbarkeit und Bildungsrecht für alle, Engagement für Selbstständigkeit und Lebensqualität aller (Haeberlin, 1999, S. 135).

3          Methode

Zugang zum Forschungsfeld und Fragestellung

Die aktuell bestehende Befundlage zu den Anforderungen an Lehrpersonen für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf vor allem in der Sekundarstufe ist defizitär. Das betrifft auch inklusive Schulsettings. Die Erfassung eines diesbezüglichen Anforderungsspektrums könnte eine Orientierungshilfe bieten für diejenigen Lehrerinnen und Lehrer, deren schulischer Aufgabenbereich sich hin zur Inklusion verlagert. Das Ziel der dem Beitrag zugrundliegenden Studie ist daher die Identifikation von Anforderungen der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf im Sekundarbereich. Die Stichprobe setzt sich aus Lehr- und Ausbildungspersonen der Sekundarstufe sowie der Förderschwerpunkte Emotionale und soziale Entwicklung sowie Lernen zusammen. Letztere eignen sich für dieses Vorhaben besonders, da sie neben dem Förderschwerpunkt Sprache aufgrund ihrer größeren Nähe zu den allgemeinen Schulen als Vorreiter eines inklusiven Regelschulsystems gesehen werden können (Wocken, 2011).

Basierend auf der Zielstellung stehen folgende Forschungsfragen im Mittelpunkt:

1.    Welche Anforderungen charakterisieren die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf in der Sekundarstufe? Was müssen Lehrkräfte für die Berufsausübung können?

2.    Unterscheiden sich diese Anforderungen von denen in weiterführenden Regelschularten?

3.    Bezüglich welcher Anforderungen besteht ein Überschneidungsbereich, bezüglich welcher zeigen sich Unterschiede?

4.    Welche Impulse lassen sich daraus für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf in inklusiven Schulsettings ableiten?

Projektzusammenhang

Die diesem Beitrag zugrundeliegende Studie ist Teil der Forschungsprojekte Anforderungsanalyse für den Lehrerberuf und Risiko-Check für das Lehramt. Ziel der genannten Projekte ist es, schulartenspezifische Anforderungsprofile zu erstellen, die auf der Gewichtung von Fähigkeiten und Eigenschaften durch verschiedene Expertengruppen basieren. Dies geschieht schulartspezifisch für die verschiedenen Regelschularten und Förderschwerpunkte. Durch den Einbezug verschiedener Förderschwerpunkte liegt ein Projektschwerpunkt auch in der Erhebung von Anforderungen für inklusive Schulsettings. In dem vom Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München durchgeführten Anforderungsanalysen-Projekt besteht eine Kooperation mit der Testpsychologie des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Im Rahmen des Projekts werden unter anderem schulartenbezogene Gruppendiskussionen durchgeführt. Diese fließen im Sinne eines Realistic Job Preview in den Risiko-Check ein. Im Rahmen dieses Projekts wird ein Instrument entwickelt, das Personen vor und während des Lehramtsstudiums dabei unterstützen soll, individuelle Erwartungen, Motive und Wünsche mit dem Studium und dem zukünftigen Beruf abzugleichen.

Methodisches Vorgehen

Zur Identifikation von Anforderungen für inklusive Schulsettings wird auf die Methode der ermittelnden Gruppendiskussion zurückgegriffen. Es handelt sich hierbei um ein Gespräch mehrerer Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu einem Thema, das die Diskussionsleiterin bzw. der Diskussionsleiter benennt (Lamnek, 2010). Zielsetzung dieses Vorgehens ist u. a. die Ermittlung der Meinungen und Einstellungen der ganzen Gruppe, die Feststellung öffentlicher Meinungen und Einstellungen sowie die Ermittlung kollektiver Orientierungsmuster. Sein Vorteil gegenüber quantitativen Verfahren liegt darin, dass über die Beantwortung festgelegter Items oder Fragen hinaus zusätzliche Begründungen und Informationen einfließen können. Zudem kommen in Gruppendiskussionen Meinungen durch gegenseitige Stimulierung deutlicher zum Vorschein als in quantitativen Erhebungen. Ermittelnde Gruppendiskussionen lassen nach so genannten technischen Grundlagen näher beschreiben (Lamnek, 2010): Eckpunkte sind Gruppenzusammensetzung und die Strukturierung der Diskussion, die im Folgenden für die vorliegende Untersuchung näher erläutert werden.

Stichprobe

Die Diskussionsgruppen setzten sich aus Lehr- und Ausbildungspersonen zusammen. Ihre Rekrutierung erfolgte über eine Ausschreibung, die über das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus an Schulen in Bayern weitergeleitet wurde. Als Expertin bzw. als Experte wurde zugelassen, wer über eine mindestens 10jährige aktive Berufserfahrung verfügt. Die Gesamtstichprobe der vorliegenden Untersuchung umfasst 167 Expertinnen und Experten, die sich wie folgt nach Schulart und Funktion zusammensetzt:

Schulart gesamt Lehrkräfte ohne Ausbildungsfunktion Ausbildungspersonen1

Tab. 1: Zusammensetzung der Stichprobe nach Schulart und Funktion

Images

Eine Einteilung der Expertinnen und Experten in homogene Diskussionsgruppen erfolgte getrennt nach Schulart bzw. Förderschwerpunkt. Insgesamt wurden für jede Schulart bzw. Förderschwerpunkt sechs Diskussionsgruppen zusammengestellt.

Strukturierung und Auswertung

Der Ablauf der Diskussion erfolgte nach einer kurzen Einführung in das Forschungsprojekt thematisch strukturiert anhand folgender Leitfragen: