Lösungsorientierte Beratung
mit getrennten Eltern
Ein Praxishandbuch
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Klett-Cotta
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-89156-0
E-Book: ISBN 978-3-608-10842-2
PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20280-9
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Vorwort
Familie Esche
Einstiegskonstellation
Beratungsverlauf
Draufsicht
1 Die ersten Schritte
1.1 Erstkontakt am Telefon
1.2 Einladung des anderen Elternteils
1.3 Vorgespräche
1.4 Die Beratungsvereinbarung
1.5 Der Themenkatalog
2 Deeskalierende Möglichkeiten
2.1 Getrennte Einzelsitzungen
2.2 Parallel getrennte Beratung
2.3 Für Sicherheitsabstand sorgen
2.4 Gesprächsregeln
2.5 Friedliche Gesten
Familie Kiefer
Einstiegskonstellation
Beratungsverlauf
Draufsicht
3 Arbeitsprinzipien
3.1 Begegnung mit Vernunft und Gefühl
3.2 Führen – Mitgehen – Führen
3.3 Starke Rahmung
3.4 Schutz vor emotionaler Überforderung
3.5 Veränderung braucht Zeit
3.6 Lösungsorientierung
3.7 Eltern weiterhin als Ganzes betrachten
3.8 Arbeit im Co-Team
3.9 Psychohygiene der Berater
4 Vorgehen bei einzelnen Fragen
4.1 Wie sagen wir’s unseren Kindern?
4.2 Wie den Austausch zwischen den Eltern sichern?
4.3 Wie sich gut abgrenzen und gleichzeitig ausreichend im Kontakt bleiben?
4.4 Wo soll der Lebensmittelpunkt der Kinder sein?
4.5 Wie die Umgangskontakte regeln?
4.6 Erarbeitung eines integrierten Wechselmodells
4.7 Differenzierung des Umgangs bei mehreren Kindern
4.8 Kontaktgestaltung zwischen abwesendem Elternteil und Kind
4.9 Wie Feierlichkeiten des Kindes gestalten?
4.10 Was tun, wenn der zuständige Elternteil verhindert ist?
4.11 Absprache zur Rolle neuer Partner
Familie Linde
Einstiegskonstellation
Beratungsverlauf
Draufsicht
5 Elternidentität zurückgewinnen
5.1 Verbindliche Absprachen umsetzen
5.2 Die Eltern stellen ihre Kinder vor
5.3 Eltern und ihre Kinder wertschätzen
5.4 Gegenseitige Würdigung
5.5 Direkter Dialog
5.6 Perspektivwechsel
5.7 Metaphern und Geschichten
6 Kinderperspektive einbeziehen
6.1 Der Auftrag des Kindes
6.2 Der symbolische Platz
6.3 Die Familienskulptur
6.4 Einzelkontakt mit dem Kind
Familie Weide
Einstiegskonstellation
Beratungsverlauf
Draufsicht
7 Vergangenheitsbewältigung des Paares
7.1 Ein Bild der Paarbeziehung
7.2 Austausch zu Gefühlen von damals und heute
8 Abschluss und Berichte
8.1 Wie Elternvereinbarungen entstehen
8.2 Irgendwann ist jede Beratung zu Ende
8.3 Abschlusssitzung
8.4 Berichte ans Gericht
Familie Zeder
Einstiegskonstellation
Beratungsverlauf
Draufsicht
9 Schlussbetrachtungen
9.1 Navigation im Prozess
9.2 Verlaufsmerkmale der Beratung
9.3 »Leporello-Familien« – eine Würdigung
Danksagung
Ergänzende und empfohlene Literatur
Abbildungsverzeichnis
Als wir einem Vater in der abschließenden Beratungssitzung die Frage stellten, welche Überschrift er der zurückliegenden Trennungsphase geben würde, antwortete er: miteinander auseinander. Treffender kann man es nicht ausdrücken, dachten wir. Neun Monate zuvor hatte sich die Mutter an uns gewandt. Sie wollte mit ihm ins Gespräch kommen, um Klarheit zu schaffen und Absprachen für die Zukunft zu treffen. In mehreren gemeinsamen Sitzungen, flankiert von einigen Einzelterminen, war es beiden Eltern möglich, sich über wesentliche Fragen der Trennung zu verständigen und handhabbare Lösungen zu finden.
Bereits 1994 war bei uns die Idee entstanden, ein spezielles Beratungsangebot für getrennte Eltern zu etablieren. Das neue Kinder- und Jugendhilfegesetz war in Kraft getreten, die Kindschaftsrechtsreform stand bevor. Bei der Regelung der Trennungs- und Scheidungsfolgen und der damit verbundenen Konfliktbewältigung sollte die Autonomie der Eltern gestärkt werden. Ein großer Beratungsbedarf war abzusehen.
In einer Befürwortung des zuständigen Jugendamtes zu unserem Beratungsstellenprojekt hieß es im Mai 1995: Beratung in Fragen der Partnerschaft, Trennung und Scheidung wurde als neues Angebot der Jugendhilfe in den Leistungskatalog des KJHG aufgenommen und ist seit dem 1. 1. 1995 als Pflichtaufgabe festgeschrieben. Ergebnisse von Längsschnittuntersuchungen weisen darauf hin, dass das »Wie« der Scheidung für das Wohl der Kinder langfristig bedeutsamer ist als die Scheidung als solche. Das war damals insofern eine wichtige und weitreichende Einschätzung, als dadurch der Fokus darauf gerichtet wurde, wie Eltern im Trennungsgeschehen miteinander umgehen, und somit der Ansatz der Beratungsarbeit dort zu suchen ist.
Wir erinnern uns: Im Vergleich zu heute waren noch in den 1990er-Jahren viele Beratungsanliegen und Vorgehensweisen symptomorientiert. Oft meldeten sich die Mütter wegen Verhaltensauffälligkeiten oder psychosomatischer Beschwerden des Kindes und erwarteten eine kindzentrierte Behandlung. Sowohl bei den Eltern als auch bei vielen Beratern wurden erst später die Familienbeziehungen – wie zum Beispiel bestehende Trennungssituationen – als möglicher Stressfaktor gesehen. Inzwischen hat sich die Situation deutlich verändert: Eltern melden sich heute bei den Beraterinnen oft direkt mit dem Beziehungsthema an und sagen: Wir sind getrennt und können nicht miteinander reden. Wir möchten etwas tun, damit es unsere Kinder gut überstehen. Berater arbeiten mehr familienorientiert und oft mit systemischem Blick. Etwa die Hälfte der Anmeldungen zur Trennungsberatung erfolgt inzwischen durch die Väter. Andere Eltern werden direkt vom Familiengericht in die Beratung geschickt.
Wenn wir insgesamt auf die Entwicklung der letzten 20 Jahre schauen, hat sich eine deutlich veränderte Beratungssituation ergeben, für die die Mitarbeiter nach passenden Handlungskonzepten suchen. Zwischen den verschiedenen Herangehensweisen zeichnen sich Übereinstimmungspunkte ab, z. B. dass die Beratungsarbeit mit getrennten Eltern eine stärkere Rahmung und Strukturierung braucht. Unterschiedliche Auffassungen existieren bezüglich der Frage, wie sich die Einbeziehung der Kinder sinnvoll gestalten lässt. Hier wird nach einer guten Balance zwischen dem Schutz vor zusätzlicher Belastung einerseits und einer ausreichenden Wahrnehmung und Unterstützung der Kinder andererseits gesucht. Auch bezüglich des Versuches, die Paar- und Elternebene zu trennen, gibt es variierende Ansätze. Inwieweit sollte die Konfliktdynamik des Paares in den Beratungssitzungen unter Kontrolle gehalten werden? Wie kann sich andererseits die notwendige Verarbeitung der gemeinsamen Beziehungsgeschichte vollziehen?
Mit dem vorliegenden Buch wollen wir Beraterinnen und Beratern, die mit getrennten Eltern zu tun haben, methodische Anregungen für das praktische Vorgehen an die Hand geben. Dabei verzichten wir bewusst auf die Unterscheidung des Eskalationsgrades aufseiten der Eltern. Einerseits haben wir die Erfahrung gemacht, dass die beschriebenen Vorgehensweisen bei der Arbeit mit getrennten Eltern durchgängig anwendbar sind. Andererseits wollen wir einer defizitorientierten Kategorisierung entgegenwirken, die die »Hochstrittigen« zu besonders schwierigen Klienten dämonisiert, die Problemorientierung verfestigt und eine gesonderte Herangehensweise impliziert. Sicher machen uns hoch konflikthafte Trennungseltern den Beratungsalltag gelegentlich schwer. Aber wäre es nicht hilfreicher, stattdessen lösungsorientiert den Grad der Kooperationsfähigkeit zu unterscheiden? So betrachtet, könnten wir Eltern, die gerade sehr zerstritten sind, als Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf ansehen. Oder, wie Alfred Winkelmann in seinem Artikel Ressourcenorientierte Arbeit mit hoch strittigen Trennungseltern formuliert: als »höchst engagierte Eltern, die um das Wohl ihrer Kinder ringen, so wie sie es nach bestem Wissen und Gewissen verstehen«.
Wenngleich die zerstrittenen Eltern sehr im Fokus stehen, wollen wir die Aufmerksamkeit auch auf die Gruppe von getrennten Eltern lenken, die ebenso in großer Not und mit erheblichem Leidensdruck zu uns in die Beratung kommen: aus einem starken Schuldgefühl ihrem Partner und vor allem den Kindern gegenüber wollen diese Eltern alles Erdenkliche tun, um die Begleiterscheinungen der Trennung möglichst verträglich zu gestalten. Sie sind sehr konsensorientiert. Das ist zwar ein achtenswertes Motiv, aber solche Eltern setzen sich unter einen enormen Druck. Auch sie brauchen unsere Unterstützung.
Wir wollen in diesem Praxishandbuch die Kenntnis des lösungsorientierten und des damit verbundenen systemischen Beratungsansatzes voraussetzen, weil beides in der Fachwelt als hinreichend beschrieben und erklärt angesehen werden kann. Eine entsprechende Vorbildung und Praxiserfahrung in dieser Richtung würde eine günstige Voraussetzung zur Umsetzung der in diesem Buch beschriebenen Vorgehensweise sein, stellt aber keine zwingende Bedingung dar. Gute Erfahrungen haben wir mit der Arbeit im Co-Team, welche ausführlich beschrieben wird.
Wir verbinden mit diesem Buch das Anliegen, konkrete methodische Schritte für den gesamten Beratungsprozess detailliert zu beschreiben. Dabei bevorzugen wir es, zuerst einen Einblick in die Praxis zu geben und später das Vorgehen zu erklären. So können Sie sich als Leserin oder Leser entweder über die methodischen Erläuterungen der Thematik annähern oder auch über die Fallgeschichten.
Die Eltern Esche (die Namen sind frei erfunden) ringen insbesondere um eine Gleichverteilung der Kinderbetreuung sowie um gegenseitige Wertschätzung und die Verarbeitung der Kränkung. Bei den Eltern Kiefer geht es darum, wie sie sich außergerichtlich überhaupt auf irgendetwas einigen können. Die Eltern Linde wollen alles Erdenkliche für eine gute Trennung tun und gehen dabei über ihre eigenen Grenzen. In der Beratung mit den Eltern Weide steht die Kompromissfindung zwischen verbindlichen Regelungen einerseits und flexibler Lebensgestaltung andererseits im Vordergrund. Und schließlich bietet der Beratungsverlauf von Familie Zeder einen Einblick, wie begleiteter Umgang den Verständigungsprozess der Eltern unterstützen kann.
Die im Buch beschriebenen Praxisbeispiele sollen unterschiedliche Familiensituationen exemplarisch widerspiegeln. Dabei sind wir uns dessen bewusst, dass wir die Vielfalt des Lebens nicht abbilden können und es immer einer Anpassung an die Gegebenheiten bedarf.
Sabine Holdt & Marcus Schönherr
Abbildung 1: Konstellation Familie Esche
Nach 12 Jahren Beziehung lebt das Elternpaar Esche seit über einem Jahr getrennt voneinander ohne neue Partner. Die Initiative zur Trennung ging von Frau Esche aus. Die Scheidung ist beantragt. Für die siebenjährige Tochter üben die Eltern das gemeinsame Sorgerecht aus. Sie wohnen nah beieinander und praktizieren ein wochenweises Wechselmodell, wodurch es einen gegenseitigen Unterhaltsverzicht gibt. Die Tochter wechselt von einem zum anderen Elternteil, meist über die Schule. Die Tasche der Tochter wechselt auf der Arbeit der Eltern von einem zum anderen, da diese in der gleichen Firma in unterschiedlichen Abteilungen beschäftigt sind. Die Eltern wollen die Beratung nutzen, um sich in Zukunft wieder mit mehr Wertschätzung und gegenseitiger Akzeptanz begegnen zu können. Dem Vater ist es zudem wichtig, mit der Mutter Erziehungsfragen abzugleichen. Die Mutter möchte das Wechselmodell anpassen.
Die Elternpaarsitzungen erfolgen mit weiblich-männlichem Co-Team, bis auf einen Termin, an dem nur die Beraterin zur Verfügung stand.
Abbildung 2: Beratungsverlauf Familie Esche (13 Monate)
A
Telefonische Anmeldung durch den Vater: Herr Esche meldet sich auf Empfehlung seines Rechtsanwalts in der Beratungsstelle. Er beschreibt den Umgang zwischen den Elternteilen als sehr schwierig und äußert sich besorgt über ihre unterschiedlichen Erziehungsansätze.
1
Vorgespräch mit Herrn Esche: Der Vater beschreibt seine aktuelle Lebenssituation. Ein Jahr nach der Trennung seien die Abläufe, welche das Wechselmodell betreffen, gut organisiert. Die Eltern fänden jedoch keinen entspannten Umgang miteinander. Herr Esche möchte mit der Beratung mehr gegenseitige Akzeptanz zwischen den Elternteilen erreichen und Absprachen zu bestimmten Erziehungsprinzipien treffen. Er sei sich unsicher, ob die Mutter auch zur Beratung bereit sei. Der Berater erstellt zusammen mit dem Vater ein Genogramm und bildet damit die Familienkonstellation ab (siehe auch S. 31 ff.). Unser Vorgehen wird erläutert und das Angebot unterbreitet, dass von unserer Seite ein Einladungsbrief an die Mutter gehen kann. Herr Esche bekommt ein Muster der Beratungsvereinbarung (siehe auch S. 34 ff.) ausgehändigt und erhält von unserer Seite Bedenkzeit. Diese will er nutzen, um sich mit seinem Rechtsanwalt zu beraten. Nach kurzer Zeit meldet er sich telefonisch und gibt sein Einverständnis, dass die Mutter von uns eine Einladung zum Vorgespräch bekommen kann.
Wir schreiben einen Einladungsbrief an Frau Esche (Text siehe S. 29). Die Mutter meldet sich prompt, nachdem sie den Brief erhalten hat, und vereinbart einen Termin für ein Vorgespräch.
2
Vorgespräch mit Frau Esche: Die Mutter sei auf Initiative des Kindesvaters hier und bereit zur Mitarbeit, obwohl sie denke, sie könnten es auch allein schaffen. Sie möchte etwas tun, damit sie als Eltern entspannter miteinander umgehen und sich gegenseitig wieder mehr wertschätzen können. Frau Esche wäre froh, wenn sie es schaffen würden, das Wechselmodell flexibler an die Gegebenheiten des Alltags anzupassen und sich mehr über grundlegende Erziehungsprinzipien auszutauschen. Außerdem empfinde sie starke Spannungen zwischen dem Ex-Mann und ihren Eltern, was das Zusammentreffen der beiden Parteien, z. B. bei Geburtstagsfeiern, fast unmöglich mache. Die Beraterin erstellt zusammen mit der Mutter ebenfalls ein Genogramm über die aktuelle Familienkonstellation. Frau Esche bekommt eine Beratungsvereinbarung ausgehändigt und erhält Bedenkzeit, ob sie die Beratung hier in Anspruch nehmen möchte.
Herr Esche meldet sich nach kurzer Zeit und vereinbart in Absprache mit der Kindesmutter einen ersten gemeinsamen Termin.
3
Einstieg in Beratung – Themenkatalog – Weihnachtsberatung: Beide Eltern haben sich für die Beratung entschieden. Frau Esche wirkt zu Beginn der Sitzung etwas aufgeregt, berichtet als Erstes, dass sie mit ihrem Auto gerade ein parkendes Auto gestreift habe, was ihre innere Aufregung unterstreicht. Auch Herr Esche ist unruhig, versucht sich aber zu kontrollieren. Die Stimmung ist angespannt. Ein gemeinsames Gespräch auf neutralem Boden hat nach Aussage der Klienten das letzte Mal vor fast einem Jahr stattgefunden. Beide hatten vor der gemeinsamen Sitzung bekräftigt, dass es ihnen möglich sei, in einem Raum zusammenzutreffen.
Das Elternpaar wird aufgefordert, sich darüber zu einigen, welches der vorhandenen Genogramme im weiteren Beratungsverlauf genutzt werden soll. Dies gelingt problemlos. Für den weiteren Verlauf werden Gesprächsregeln erläutert (siehe auch S. 45 f.), und die Berater holen sich die Erlaubnis, gegebenenfalls zu unterbrechen, wenn die Richtung des Gesprächs unkonstruktiv wird. Die Beratungsvereinbarung wird abgeschlossen, und es werden vorerst fünf Sitzungen verabredet.
Im weiteren Verlauf der Beratungsstunde entsteht gemeinsam am Flipchart der folgende Themenkatalog (siehe auch S. 37 ff.):
Was sind grundsätzliche Erziehungsregeln für uns?
Wie könnte eine angemessene und passende Gesprächskultur zwischen uns aussehen?
Wie können wir uns als Eltern gegenseitig in Zukunft besser akzeptieren und respektieren?
Vermuteter Auftrag der Tochter: »Vertragt euch!«
Aktuell stehen allerdings folgende Fragen an: Wie gestalten wir die Kontakte an den Weihnachtsfeiertagen? und Sollen wir dem Kind zuliebe ein gemeinsames Weihnachtsfest arrangieren? Im letzten Jahr hatte die Familie den Heiligabend bei der Mutter verbracht. Die Tochter schlage jetzt vor, gemeinsam beim Vater zu feiern, was sich die Mutter allerdings nicht vorstellen könne. Wie soll nun eine gerechte Variante aussehen? Unsere Empfehlungen gehen in Richtung Schutz vor emotionaler Überforderung, Akzeptanz der eigenen Grenzen und einer, der aktuellen Familiensituation angemessenen, klaren Regelung. Herr Esche verzichtet auf den Anspruch, die Tochter am Heiligabend zu sehen. Die Eltern entscheiden, dass die Tochter am 2. Feiertag zum Vater wechseln und dort über Silvester bleiben wird.
4
Erziehungsberatung – Wo schläft das Kind? Die Eltern kommen zu Beginn des neuen Jahres wieder zur Beratung.
B: Was hat in der Zwischenzeit funktioniert?
V: Ja, die Wechsel von unserer Tochter sind so umgesetzt worden wie hier besprochen.
M: Die Tochter hat sich nicht beklagt und den Ablauf der Feiertage und Ferien an den verschiedenen Orten gut verkraftet. Die Übergabe an der Wohnungstür, die sich durch die Feriensituation ergab, verlief unproblematisch. Ich bevorzuge allerdings die Übergabe über die Schule, fühlt sich für mich entspannter an.
V: Das kann ich nur bestätigen. Mich hat allerdings das Telefonat am Heiligabend sehr verärgert. Ich kann nicht verstehen, wie du das machen konntest. Überhaupt gibt es einiges, was infrage zu stellen ist. Zur Beraterin gewandt: Sie sieht überhaupt nicht, wie es ihrer Tochter geht, kann sich weder in sie geschweige denn in mich hineinversetzen.
Die Mutter setzt zur Widerrede an.
B: Wenn ich Sie kurz stoppen darf? Ich würde vorschlagen, dass Sie sich vorerst nur auf mich beziehen und nicht aufeinander. Die Frage »Wie gehen wir in der Zukunft mit gegenseitigen Anrufen um?« nehmen wir mit in den Themenkatalog auf. Sie berührt die Frage, wie es gelingen kann, sich gut abzugrenzen und gleichzeitig in ausreichendem Kontakt zu sein.
Beide Elternteile beruhigen sich wieder und stimmen dem Vorgehen zu.
B: Um welches Thema soll es heute gehen?
Der Vater möchte sich über Erziehungsfragen austauschen, im Besonderen zu der Frage: Wo soll unser Kind schlafen? Die Mutter lässt sich darauf ein.
Die Eltern beschreiben die Situation. Seit der Trennung komme die Tochter nachts wieder gehäuft ins elterliche Bett bzw. schlafe bei der Mutter sogar in diesem ein.
Herr Esche vertritt die Meinung, dass die Tochter im eigenen Bett schlafen soll, fühlt sich aber in der Durchsetzung dieses Anliegens durch die Mutter behindert, da diese der Tochter den Zugang zum Elternbett erlaube. Frau Esche räumt ein, dass sie im Zuge der Trennung oft nicht die Kraft für konsequentes Handeln der Tochter gegenüber besitzt, und beginnt zu weinen. Der Vater nimmt diese Aussage als Beweis für seine Vermutung, dass die Mutter nicht ausreichend in der Lage ist, gut für das Kind zu sorgen. Seine Kränkung zeigt sich deutlich: Du wolltest doch die Trennung, nun sieh, wie du klarkommst. Seine Stimme wird lauter.
Die Beraterin bezieht sich bei ihrem Abschlusskommentar auf beide Eltern als Team. Die Erregung des Vaters deutet sie in besorgtes Verhalten eines engagierten Vaters einer heranwachsenden Tochter um. Die Mutter wird für ihre Bereitschaft gelobt, sich in der Beratung zusammen mit dem Vater Gedanken zu machen, wie sie als Eltern ihrer Tochter helfen können, wieder im eigenen Bett zu schlafen. Das Verhalten der Tochter ordnet sie als Reaktion auf das Trennungsgeschehen ein. Die Beraterin plädiert dafür, nicht zu schnell Veränderungen anzuschieben. Sie empfiehlt, vorerst das Schlafplatzthema nicht mehr mit der Tochter zu besprechen. Stattdessen sollten die Eltern die Tochter unterstützen, Selbstvertrauen in anderen Bereichen (Schule, Freizeit) aufzubauen und ihre Selbständigkeit anzuregen. Die Eltern sollten erst dann handeln, wenn sie sich eine klare gemeinsame Haltung erarbeitet hätten.
Herr Esche zeigt sich enttäuscht vom Ergebnis der Sitzung.
5
Erziehungsberatung – Thema Schlafplatz: Am Anfang der Sitzung ist die Stimmung im Raum sehr angespannt. Der Vater zeigt sich unzufrieden und ärgerlich, auch über die letzte Sitzung. Die Mutter versucht, die Haltung zu bewahren. Sie berichtet, dass sie einige Anregungen aus der letzten Sitzung mitgenommen habe, um ihre Tochter zu stärken. Die Berater versuchen eine Orientierung für die Stunde zu bekommen: Wozu wollen Sie die Sitzung heute nutzen?
Das Gespräch darüber, wie die Tochter in ihr eigenes Bett kommt, soll fortgesetzt werden. Die Eltern können sich darauf einigen, dass der 8. Geburtstag ihrer Tochter als Anlass genommen werden soll, die Entwöhnung zu beginnen. Es bleibt ein Monat der Vorbereitung auf diesen Entwicklungsschritt – für die Tochter, die Mutter und den Vater. Im weiteren Verlauf der Sitzung kommen das Abendritual und die Neugestaltung des Schlafplatzes der Tochter in den Fokus des Gesprächs. Jeder Elternteil wird mit eigenen Worten der Tochter gegenüber die gleiche Linie vertreten. Die Eltern gehen mit einem gemeinsamen Plan aus der Sitzung.
6
Erziehungsberatung – Thema Fernsehen und Anrufzeiten: In der nächsten Sitzung berichten beide Eltern von mehr Gelassenheit, mehr innerer Ruhe. Herr Esche zeigt sich jedoch im Verlauf der Sitzung wieder zunehmend erregt und ärgerlich. Dem Vater fällt es schwer, die gemeinsame Position, welche die Eltern bereits gefunden hatten, als Erfolg zu werten, und formuliert immer wieder abwertende Äußerungen gegenüber der Frau und deren Kompetenz als Mutter. Der Berater erinnert ihn an die Gesprächsregeln.
Ein weiteres Thema ist der Fernsehkonsum der Tochter. Auch hier wird wieder die Kritik des Vaters der Mutter gegenüber deutlich. Nach kurzem Abgleich der Positionen finden die Eltern jedoch schnell zu einer gemeinsamen Haltung. Zusätzlich einigen sie sich in der Frage, wie oft das Kind angerufen wird, wenn es beim anderen Elternteil ist (siehe auch S. 98 f.). Zum Ende der Sitzung loben die Berater die Klienten für dieses Ergebnis.
7
Gegenseitige Würdigung als Eltern: Einen Monat später erzählen die Eltern in der Beratung vom gelungenen Kindergeburtstag ihrer Tochter, den sie zusammen gestaltet haben und bei dem sogar beide Großelternpaare aufeinandertrafen. Die Berater würdigen die Entwicklung. Der Vater berichtet außerdem von der Umsetzung ihres gemeinsam beschlossenen Vorhabens, die Tochter in ihr eigenes Bett zu bekommen, und gibt eine kleine Inkonsequenz zu (was wir in seinem Fall als Erfolg bewerten). Was hat diese Entwicklung möglich gemacht? Beide Eltern sind sich einig, dass es die bessere Abstimmung untereinander war.
Wir trauen uns an dieser Stelle, die Frage aus dem Themenkatalog: Was können wir tun, um uns in unserer Rolle als Eltern gegenseitig wieder mehr zu akzeptieren und wertzuschätzen?, in den Fokus zu rücken. Wir wählen die Form der gegenseitigen Würdigung (siehe auch S. 120 ff.). Es geht dabei um Fragen wie: Was kann der andere Elternteil gut? oder Was finde ich, gibt er der Tochter Gutes mit auf den Weg?
Frau Esche spricht davon, dass der Vater die Tochter gut versorge, ihr gegenüber aufmerksam sei und sehr liebevoll mit ihr umgehe. Er kümmere sich sehr um die Belange der Schule und könne gut mit der Tochter toben. Sie könne sich auf ihn verlassen.
Herr Esche betont ebenfalls die gute Grundversorgung durch die Mutter und die Bedeutung der Mutter für die weibliche Identifikation der Tochter.
Frau Esche empfindet es als versöhnlich, wenn der Vater eine ruhige unaufgeregte Tonlage am Telefon hat, sie weniger Vorwürfe zu hören bekommt und er mehr von dem erzählt, was gut gelaufen ist. Ihn befriedet, wenn er Anerkennung von Frau Esche erhält und seine Leistung durch sie gewürdigt wird. Und, wenn er merkt, dass die Mutter etwas mit ihm abstimmt, z. B. mit der Frage: Was meinst du dazu? Versöhnlich stimmt den Vater weiterhin, wenn die Mutter zeitnah ausstehende Kosten begleicht.
Die Eltern erhalten eine Beobachtungsaufgabe für zu Hause: Achten Sie bitte in nächster Zeit darauf, welche Momente Sie im Alltag entdecken, die ansatzweise in die richtige Richtung gehen.
8
Emotionaler Scheidungstermin: In der nächsten Sitzung berichtet das Elternpaar, dass sich die Beobachtungsaufgabe nicht umsetzen ließ. Stattdessen erzählen sie vom amtlichen Scheidungstermin in der vergangenen Woche. Die Beratungssitzung wird zum emotionalen Scheidungstermin. Herr Esche äußert seinen Ärger über die Trennung und deren Verlauf. Der Berater interpretiert das Geschehen als einen »Verdauungsprozess« und wertet die Heftigkeit als notwendig, um voneinander loszukommen. Die Traurigkeit beider Eltern wird deutlich spürbar.
Die Beobachtungsaufgabe nehmen wir zurück, bewerten sie als überfordernd in der aktuellen Situation. Es deutet sich die Frage nach dem passenden Informationskanal zwischen beiden an. Auf Vorschlag der Berater werden Einzeltermine vereinbart, um die emotionale Betroffenheit auf beiden Seiten abzufangen.
9
Einzelgespräch mit dem Vater: Herr Esche nutzt das Gespräch, um noch einmal ausführlich seine Version der Trennungsgeschichte zu erzählen und seine daraus resultierende Position deutlich zu machen. Es zeigt sich, dass er in der Beziehung weit über seine Grenzen gegangen ist, sich verausgabt hat und dafür keinen Dank erhielt, sondern eher die Botschaft, seine Partnerin eingeengt zu haben. Der Klient kann in dem geschützten Rahmen des Einzelgesprächs mithilfe des Beraters dieses Thema als ein eigenes identifizieren und sich eingestehen, dass die erfahrene Kränkung noch verdaut werden muss (siehe auch S. 40 ff.). Der Berater tippt die Themen an: Was heißt zu viel des Guten in Bezug auf die Tochter? Wie kann sie sich gut weiterentwickeln? Welche Signale braucht sie von den Eltern, um beruhigt zu sein? Der Vater kann die Fragen hören, aber ihnen nur bedingt nachgehen. Vielleicht ist er zu einem späteren Zeitpunkt offener dafür.
10
Gemeinsame Sitzung in zwei Einzelgespräche umgewandelt: Die Einzelsitzung mit Frau Esche war aufgrund von Krankheit der Beraterin ausgefallen. Die Klientin bittet deshalb zu Beginn der gemeinsamen Beratungsstunde um die Aufteilung in Einzelsitzungen. Da die Beratung im Co-Team stattfindet, ist dies leicht möglich. Die Berater gehen mit jeweils einer Person in unterschiedliche Räume.
Gespräch mit der Mutter: Im Einzelkontakt berichtet die Mutter, dass sich die Situation zwischen den Eltern nicht wirklich verbessert hat und der Ton rau und verletzend bleibt. Die Bewältigung des Schlafthemas ist gelungen. Die Tochter schläft bis auf wenige Ausnahmen bei beiden Elternteilen in ihrem eigenen Bett. Die Beraterin würdigt diesen Erfolg. Im Moment gestalte sich die Übergabesituation der Tasche in der Firma schwierig. Frau Esche möchte mit dem Vater weniger per Telefon und mehr über E-Mail kommunizieren, um die Tonlage nicht hören zu müssen und sich auf den sachlichen Inhalt konzentrieren zu können. Sie möchte weniger Beratungssitzungen, da sie das Gefühl hat, dass sich im Moment nicht mehr entwickeln könne. Die Mutter fühlt sich durch die Sitzungen belastet und wie in der Beziehung bevormundet und eingeengt.
Gespräch mit dem Vater: Herr Esche beschreibt, dass er seine Bemühungen von der Kindesmutter nicht gewürdigt sieht. Er hat das Gefühl, dass es kein gemeinsames Vorgehen als Eltern gibt und die Mutter ihrer Tochter gegenüber zu nachgiebig ist. Der Vater beschreibt den Impuls, mehr Verantwortung übernehmen zu wollen. Er denke darüber nach, das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu erkämpfen. Herr Esche weint vor Erschöpfung und Verzweiflung. Der Berater nimmt die Idee auf und geht, zusammen mit dem Klienten, in der Vorstellung den juristischen Weg entlang. Die Aussichtslosigkeit dieses Weges wird schnell deutlich. Der Berater wertet die Idee als Ausdruck der Sehnsucht nach Ruhe und Abstand zur ehemaligen Partnerin. Die Möglichkeiten und Grenzen der Beratung kommen zur Sprache. Der Berater geht auf die Sorge um die Tochter ein und schlägt vor, für sie einen Einzeltermin einzurichten. Er würde sich einen Eindruck von der Tochter verschaffen und den Eltern daraufhin eine Rückmeldung geben können. Außerdem informiert der Berater über die Möglichkeit, dass die Tochter an einer Gruppe für Kinder aus Trennungsfamilien teilnehmen könnte. Auch wird angeboten, das praktizierte Wechselmodell auf den Prüfstand zu stellen. Er orientiert den Vater darauf, diese Ideen in die nächste gemeinsame Sitzung einzubringen. Weiterhin ist zu klären, ob, und wenn ja, wie lange die Beratung weitergeführt werden soll. Die Anzahl der vereinbarten Sitzungen ist bereits überschritten. Die Verarbeitung der Trennung gehört eher in die eigene Therapie, die er inzwischen begonnen hat.
11
Standortbestimmung im Beratungsprozess: In der darauffolgenden Sitzung erzählen die Eltern nichts Konkretes aus den Einzelsitzungen, sodass die Berater vorschlagen, gemeinsam den Stand im Beratungsprozess zu erkunden (siehe auch S. 196 f.). Ziel ist es, eine gemeinsame Orientierung für den weiteren Verlauf der Beratung zu bekommen. Herr Esche bringt zum Ausdruck, dass sie sich als Eltern, seiner Meinung nach, noch am Anfang der Beratung bewegen würden. Frau Esche sieht sie als Elternpaar fast am Ende des Beratungsprozesses. Auf Nachfrage haben es beide ungefähr so voneinander erwartet.
Herr Esche verbindet mit dem, was mithilfe der Beratung schon geschafft wurde, dass er in der Abstimmung gemeinsamer Erziehungsfragen etwas gelassener geworden ist, d. h. nicht erwartet, dass beide Eltern immer genau übereinstimmen. Konkret äußert sich das darin, dass er Unterschiede im Vorgehen der Eltern der Kindesmutter gegenüber schon mal unkommentiert lassen kann und sich weniger aufregt. Bezüglich der Abstimmung zwischen den Eltern sieht der Vater weiterhin großen Handlungsbedarf, da er sonst das Wohl der Tochter gefährdet sieht.
Frau Esche sieht wichtige Fortschritte. Sie hat das Gefühl, von ihm mehr in Ruhe gelassen zu werden, und meint, dass beide Eltern mit ihren Erziehungsprinzipien gar nicht so weit auseinander liegen. Sie fühlt sich selbst sicherer im Umgang mit ihrer Tochter, die inzwischen unproblematisch in ihrem eigenen Bett schläft. In der Frage, wie sie sich als Eltern gegenseitig wieder mehr akzeptieren und entspannter miteinander kommunizieren können, sieht die Mutter kein Vorankommen. Für sie wäre ein guter nächster Schritt, wenn Herr Esche die Abwertung ihres Verhaltens gegenüber ihrer Tochter unterlassen könnte, da sie damit das Wohl des Kindes gefährdet sieht. Insgesamt plädiert sie für eine Beratungspause.
Am Ende der Sitzung besteht ein Konsens darin, dass es für die Tochter eine Einzelsitzung beim Berater geben soll, der sie kennenlernt, sich einen Eindruck darüber verschafft, wie es ihr geht, und dazu ein Auswertungsgespräch mit den Eltern führt (siehe auch S. 132 ff.). Weiterhin wollen die Eltern ihre Tochter in der Gruppe für Kinder aus Trennungsfamilien anmelden, um ihr einen Raum zu bieten, in welchem sie sich kindgemäß mit ihrer Lebenssituation auseinandersetzen kann. Es gibt insgesamt eine Beratungsverlängerung, vorerst aber eine Sommerpause. Danach sollen noch drei Elternpaarsitzungen stattfinden, um z. B. das bestehende Wechselmodell unter die Lupe zu nehmen.
12
Einzelsitzung mit Tochter: Es erscheint eine aufgeschlossene Achtjährige mit gutem Selbstvertrauen. Im diagnostischen Spiel zeigt sie sich überdurchschnittlich intelligent, hoch motiviert und sehr leistungsorientiert. Sie äußert Traurigkeit über die Trennung der Eltern und formuliert ihren Wunsch, dass beide wieder zusammenkommen mögen. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Tochter sich in einem Loyalitätskonflikt befindet, sehr sensibel die jeweiligen Kränkungen der Elternteile wahrnimmt und sie versucht auszugleichen. Sie vermeidet den Konflikt mit den Eltern und ist sehr bemüht, es beiden recht zu machen. Hoffentlich schaffe ich das alles mit der Trennung ist ein Satz von ihr in der Sitzung.
13
Auswertungssitzung: In der Sitzung mit den Eltern formuliert der Berater den Eindruck, den er von der Tochter gewonnen hat, und weist auf die Tatsache hin, dass sie sich in einem massiven Loyalitätskonflikt befindet. Herr Esche beginnt sofort die Schuld bei der Mutter zu suchen. Der Versuch, ihn für die Situation der Tochter zu sensibilisieren, schlägt fehl. Erst die Aussage, dass die derzeitige Qualität der Elternbeziehung für die Entwicklung der Tochter bedenklich erscheint, erreicht ihn. Der Berater versucht Möglichkeiten aufzuzeigen, wie die Eltern die Verantwortung für ihren Konflikt wieder übernehmen und das Kind entlasten können. Dazu gehöre z. B., dass die Eltern über den Aufenthaltsort des Kindes entscheiden und nicht das Kind gefragt werde, wo es gerade sein möchte. Günstig wäre auch, wenn Informationen direkt von einem zum anderen Elternteil gelangen könnten und so das Kind nicht ausgefragt werden müsste. Der Vater fühlt sich kaum in der Lage, in diese Richtung zu denken. Es wird deutlich, dass es den Eltern schwerfällt, eine kooperativere Beziehung zu entwickeln.
14
Einzelgespräch mit der Mutter: Frau Esche hatte sich vor dem ersten gemeinsamen Gespräch nach der Sommerpause ein Einzelgespräch gewünscht. Sie beschreibt wiederholt schwierige Situationen zwischen den Eltern, einen Streit um die Aufteilung der Urlaubstage und eine Androhung gerichtlicher Regelung, die dann nicht stattgefunden habe. Sie vermutet, dass der Vater ein Residenzmodell anstrebe, bei dem das Kind seinen Lebensmittelpunkt bei ihm haben würde und die Mutter nur besucht. Die Beraterin verweist auf das Vorhaben, das Wechselmodell im Detail anzuschauen, und berichtet von der Möglichkeit des integrierten Wechselmodells (siehe auch S. 92 ff.). Die Mutter macht sich Sorgen um ihre Tochter, die in letzter Zeit sehr nachdenklich wirke und besonders durch die vereinbarten Telefonzeiten gestresst sei. Es habe auch einen Rückfall gegeben, was die Schlafsituation betreffe. Die Themen werden auf die nächste gemeinsame Sitzung verschoben, und die Mutter erhält Lob und Würdigung dafür, dass sie sich nicht so leicht verunsichern lässt.
15
Beratung am Ende: Die Atmosphäre der nächsten Beratungsstunde ist durch hohe Anspannung geprägt. Anschuldigungen gehen hin und her, die Eltern lassen sich gegenseitig kaum ausreden und belächeln die Aussagen des anderen. Die Berater stellen die Frage, ob Beratung an dieser Stelle überhaupt noch sinnvoll ist. Zwischen den Eltern scheint im Moment nicht mehr möglich zu sein, und der Versuch weiterzuarbeiten verkehrt sich eher ins Gegenteil. Die Mutter erhofft sich mehr Ruhe mit Beendigung der Beratung. Herr Esche bewertet ein Beratungsende zum jetzigen Zeitpunkt eher als Scheitern und findet es bedauerlich, dass sie als Eltern nicht in der Lage seien, die Dinge zu klären.
Die Berater bestärken noch einmal die Idee der Eltern, die Tochter in einer Gruppe für Kinder aus Trennungsfamilien anzumelden. Das Elternpaar hatte sich bereits informiert und auch der Tochter den Vorschlag unterbreitet, die Interesse bekundet habe. Gemäß Beratungsvereinbarung wird ein Abschlussgespräch verabredet, zu dem beide einwilligen.
16
Abschlussgespräch: Das Abschlussgespräch (siehe auch S. 178 ff.) findet 14 Tage nach der letzten Sitzung statt. Das Elternpaar zeigt sich entspannt, kann sogar zum Ende der Sitzung miteinander scherzen. Sie berichten, dass es ihnen in den letzten zwei Wochen möglich war, kleine Nachrichten auf der Arbeitsstelle auszutauschen. Frau Esche ist froh, dass die Beratung zu Ende ist. Herr Esche ist eher enttäuscht und ratlos, nimmt es aber hin.
Wir fragen nach der Einordnung der zurückliegenden Zeit, in der die Beratung stattgefunden hat: Unter welcher Überschrift würde das letzte Jahr in Ihre Lebenschronik eingehen, wenn Sie diese später einmal schreiben sollten?
M: Auflösung
V: Zerfall der Familie
B: Was verbinden Sie damit?
M: Ich meine die Auflösung der Familie und meine eigene Auflösung, meine Unsicherheit bezogen auf den Umgang mit der Situation, mit der Tochter und mit der Wut von ihm.
V: Es ärgert mich, dass sie unsere Familie kaputt gemacht hat und ich nichts mehr machen konnte.
B: Wenn Sie in fünf Jahren an die Beratung zurückdenken, an was glauben Sie, werden Sie sich erinnern?
M: Ich werde mich an die innere Aufregung vor den gemeinsamen Treffen erinnern und daran, wie unwohl ich mich in den Sitzungen gefühlt habe.
V: Ich erinnere mich wahrscheinlich an das Gefühl, die Frau nicht erreichen zu können, auf verlorenem Posten zu stehen und die Endgültigkeit der Trennung, weil ich die Beziehung jetzt selber nicht mehr will.
B: Was wird in der Zukunft die Möglichkeit, wie hier in diesem Rahmen Dinge zu besprechen, in minimaler Form ersetzen können?
Die Eltern einigen sich auf einen kurzen Absprachetermin dienstags am Telefon zur Organisation des Musikunterrichtes der Tochter und wollen ein Verbindungsheft anlegen, wo sie die wichtigsten Infos vermerken. Dieses Heft soll die Tochter bei sich tragen, wenn sie von einem zum anderen wechselt.
B: Welchen Satz wollen Sie sich jeder für die nächste Zeit selbst mit auf den Weg geben, als Erinnerungsstütze?
M: Es ist, wie es ist, und es kommt, wie es kommt, leben und leben lassen.
V: Nimm die Menschen, wie sie sind, es gibt eh keine anderen.
Lachen.
Bei diesem Praxisbeispiel wurde ein typischer Einstieg in die Beratung mit getrennten Eltern beschrieben: Ein Elternteil hat die Idee zur Beratung, der andere ist skeptisch, kann sich auf Einladung durch die Beraterin aber dann doch darauf einlassen.
Oft kann danach, wie bei diesem Elternpaar, ein Beratungsprozess beginnen. Die Situation zwischen den Eltern war von Anfang an sehr angespannt, die Tendenz, den anderen Elternteil infrage zu stellen, sehr hoch. Die Dynamik, welche das Paar vermutlich schon in ihrer Beziehung belastend erlebt hatte, setzte sich nach der Trennung fort und wurde im Beratungskontext deutlich spürbar. Als Berater damit einen Umgang zu finden, ist oft sehr kräftezehrend und verlangt viel Geduld.
Die Beratung fand bei Familie Esche innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Trennung und über den offiziellen Scheidungstermin hinweg statt und flankierte damit eine der schwierigsten Phasen im Trennungsprozess. Eine grundlegende Befriedung zwischen den Eltern ließ sich nicht erreichen, jedoch konnte eine weitere Eskalation, einschließlich eines Gerichtsprozesses, verhindert werden.