Erik Neutsch
Der Friede im Osten
Erstes, zweites, drittes und viertes Buch
ISBN 978-3-96521-075-2 (E-Book)
Die Druckausgaben erschienen erstmals 1974, 1978, 1985 und 1987
bei
Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Auf Wunsch des Autors wurde nicht auf neue Rechtschreibung umgestellt.
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Alte Dorfstraße 2 b
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Ich glaube, man muß in sozialen Dingen von einem absoluten Rechtsgrundsatz ausgehen, die Bildung eines neuen geistigen Lebens im Volke suchen und die abgelebte moderne Gesellschaft zum Teufel gehen lassen. Zu was soll ein Ding, wie diese, zwischen Himmel und Erde herumlaufen? Das ganze Leben derselben besteht nur in Versuchen, sich die entsetzlichste Langeweile zu vertreiben. Sie mag aussterben, das ist das einzig Neue, was sie noch erleben kann.
Georg Büchner (1835 in einem Brief an Karl Gutzkow)
Zeuch in die Mitternacht, in das entlegne Land,
das mancher tadelt mehr, als daß ihm ist bekannt!
Tu, was dir noch vergünnt der Frühling deiner Jahre!
Laß sagen, was man will! Erfahre du das Wahre!
Paul Fleming
(1634 in einem Gedicht auf Nishni Nowgorod)
Die Stadt Graubrücken liegt in einem Bogen der mittleren Elbe. Im Norden und Osten wird sie von dem grau und träge dahingleitenden Fluß begrenzt, dessen tückische Hochwasser allerdings früher nicht selten die Deiche zerbrachen und die Wiesen und Wälder an den Ufern überschwemmten. Hier erreicht man die Stadt nur über eine Brücke. Auf ihrer Landseite hingegen, die sich bis zu den kahlen Hügeln am Ende des einstigen Urstromtales erstreckt, besitzt sie, auch für das Auge, ungehinderten Zugang von allen Seiten.
Wir nähern uns ihr von dort. Und schon bald, aus dem Südwesten kommend, nachdem wir die F 71 frühzeitig verlassen haben, die Landstraßen zweiter Ordnung benutzen und durch mehrere Dörfer fahren, befinden wir uns genau auf der Route, die am 11. April 1945 auch die nordamerikanischen Truppen einschlugen, der Südkeil ihrer Neunten Armee, als sie in wenigen Tagen, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, wie man heute weiß, von ihrem Brückenkopf Wesel am Rhein bis an die Elbe vordrangen.
Um uns dehnt sich die Börde. Kultursteppe. Im Sommer flimmert die Luft darüber, ein leichter Wind streicht durch reifende Kornfelder, deren endlos scheinende Fläche nur hin und wieder von Obstbaumzeilen an Chausseen und Masten von Starkstromleitungen unterbrochen ist. Schon von weitem erkennt man, neben Kirch- und Wehrtürmen aus dem Mittelalter, die wohl die Silhouette einer jeden deutschen Stadt noch immer wie von Merian gestochen aus dem Himmel treten lassen, das Gradierwerk, eins der wenigen, die in Deutschland erhalten blieben. Friedrich II. befahl seinen Bau, nachdem der westliche, damals noch eigenes Stadtrecht genießende Teil des heutigen Graubrücken an Preußen geschlagen war, und konkurrierte mit ihm und einer Saline die denkfaule, sich jeder technischen Neuerung widersetzende Pfännerschaft nieder, die bis dahin so ziemlich allein über Salz und Siedlung geherrscht hatte. Der König war es auch, der in dieser Zeit den Grundriß für das heutige Stadtbild formte, indem er drei Orte mit Kolonistenstraßen verbinden ließ. Später wurde ein Teil des Gradierwerks von einem Orkan gestürzt, ein anderer brannte ab. Doch auch der Torso ist noch imposant. Von seinen bizarren, verkrusteten Wänden aus Schlehdornreisig strömt stets ein erfrischender Solatem. Und diesem Umstand, der Heilsamkeit seiner Luft, von ein paar findigen Knappschaftsärzten entdeckt, verdankt denn auch der dortige Ortsteil seinen heute gebräuchlichen Namen: Bad Solau, dazu die Kurhäuser in meist klassizistischem Stil und die Villen inmitten grüner Parks. Hier bäderte und wohnte einmal im Sommersitz die Hautevolee.
Ansonsten fällt an der Stadt nichts Besonderes auf. Die Industrie ist hier zu Hause, ursprünglich im Gefolge der Salzgewinnung entstanden, seit dem vorigen Jahrhundert jedoch mehr und mehr von chemischen Betrieben und Maschinenfabriken geprägt. Die meisten Straßen sind niedrig und grau, streckenweise noch immer der Katenkolonie der Sieder und Böttcher Friedrichs II. ähnlich, und ein höher als dreistöckiges Gebäude wie die Renaissance-Nachahmung des Kreisgerichts in der ehemaligen König- und jetzigen Leninstraße war, zumindest bis zum erst jüngst erfolgten Aufbau der Wohnstadt auf dem Malzmühlenfeld, eine Rarität.
Andere Ortsteile Graubrückens sind das im Norden, nach Magdeburg zu gelegene Nöte, urkundlich bezeugt aus dem Jahre 936 als Glied eines Burgenwalls gegen die Slawen und Wenden, mittlerweile ein unscheinbares Viertel um den Binnenhafen, weiterhin Laubholtz, das Ausflugsziel der Städter seit eh und je auf dem Ostufer der Elbe, und Felgen, das den Südosten einnimmt, zweifache Wüstenei in der Vergangenheit, einmal nach einer verheerenden Pest, ein andermal nach der Einäscherung durch kursächsische Söldner während des Dreißigjährigen Krieges, doch stets wieder zu neuem Leben erweckt und noch um die Jahrhundertwende eins der üblichen schmucklosen Dörfer der Börde. Als zwischen ihm und der Stadt, infolge der anwachsenden Industrie, mehrere Arbeitersiedlungen mit idyllischen Namen wie Sonnenschein, Edelweiß und Lerchenschlag entstanden, wurde es kurzerhand eingemeindet. Zu ihm gelangt man, wenn man am Ende des Gradierwerks in Bad Solau der scharfen Rechtskurve folgt und dann unmittelbar hinter dem Bahnübergang in eine Asphaltstraße einbiegt, die bald durch einen Rest Feldmark führt. Am Ortseingang, gleich zu Beginn der sogenannten Bauernstraße mit ihren bis auf den heutigen Tag wie Festungen wirkenden Vierkantgehöften, steht eine Windmühle, auf einen Hügel gebockt, doch außer Betrieb inzwischen, lahm-flügelig, halb verfallen.
Noch im Frühjahr 1945 befand sich ihr gegenüber ein mehrstöckiges Wohnhaus. Jetzt ist dort eine Spielfläche angelegt, umgrenzt von quaderförmig gestutzten Ligusterhecken, Jasmin und Flieder. Unter die Büsche sind Bänke gestellt, auf den Rasen Turngeräte, und so erinnert nichts mehr daran, daß jenes Haus buchstäblich in der letzten Schrecksekunde Graubrückens in Schutt und Asche gelegt wurde.
Denn zwischen ihm und der Mühle war, wie auf allen Zufahrtsstraßen der Stadt, eine Panzersperre errichtet. Ein tiefer Graben zog sich quer über den Asphalt, bewehrt mit Geröll und Kies und einen Steinwurf entfernt von einem Gestrüpp pyramidal zusammengeschweißter und in den Boden gerammter Eisenbahnschienen. Hier kauerte in den frühen Morgenstunden des elften April, mit Panzerfäusten und Karabinern bewaffnet, ein Trupp von etwa zwei Dutzend Volkssturmmännern und Hitlerjungen, Krüppel, Greise, Kinder, die meisten wohl auch entschlossen, dem Führerbefehl bedingungslos zu gehorchen und dem Feind bis zum letzten Blutstropfen Widerstand zu leisten.
An der Grabenwand lehnte ein Junge von vierzehn Jahren. Mitternacht mußte vorbei sein. Doch genau wußte er es nicht, er besaß keine Uhr. Wiederum nahm er sich vor, sich als erstes, sobald er die Lehre antreten und selbst Geld verdienen würde, eine Armbanduhr zu kaufen, aus Edelstahl und mit Leuchtziffern, als zweites einen Packen Bücher, Werke von Schiller und Körner. Forsteleve wollte er sein, an Lagerfeuern Geschichten erzählen und den Tieren, dem Eisvogel besonders, den er noch nie gesehen hatte, bis in die Bruthöhlen folgen. Doch weiter kam er mit seinen Zukunftsträumen nicht.
Scheinwerferblitze durchzuckten von fernher die Dunkelheit und nahmen ihn wieder in Anspruch. Oder waren es Mündungsfeuer? Bis in den späten Abend hinein war das dumpfe Grollen einer Kanonade nach Felgen gedrungen. Es konnte nicht anders sein, als daß sich irgendwo die Entscheidungsschlacht anbahnte. Vielleicht sogar hier. In der Ebene zwischen der Elbe und dem Harz. Kimbern und Teutonen. Der Führer würde die Wunderwaffe einsetzen. Gott sei mein Richter, wenn die Feinde Großdeutschlands mich dazu zwingen, soll er gesagt haben, die Vergeltung wird furchtbar sein.
Der Junge spielte nervös am Schloß des Karabiners, den er am Abend zuvor empfangen hatte, spannte Feder und Bolzen. Irgend etwas mußte er tun. Das Warten war gräßlich. Worauf aber wartete er? Ein Volkssturmmann murrte. »Kein Spielzeug für Kinder.« Der Junge legte die Waffe zurück in die Scharte. Und obwohl die Kammer noch leer war, wagte er nach den Worten des Alten nicht, den Abzugshahn zu drücken.
Ein seltsames Gefühl beschlich ihn. Kälte, die von der frisch aufgeworfenen Erde durch seine Uniform kroch, und dieses Gefühl. Angst? Nein. Seine Sinne waren überreizt. Es sollte etwas geschehen. Die Dunkelheit weichen, die Sonne sich zeigen, ganz einfach der Himmel sich auftun ...
»Mensch, Achim, du zitterst ja«, hörte er Lutter sagen, der neben ihm lag. »Wie damals, als ich dein Blut zapfte.«
»Ich friere«, entgegnete Achim. Seine Stirn brannte heiß unter dem Stahlhelm.
Frank war sein Vorgesetzter, Fähnleinführer, und Kamerad. Ihre Freundschaft hatte im letzten Winter begonnen, in einer Schule am Fuße der Roßtrappe. Auf - nieder! Auf - nieder! Mit seinen Kommandos hatte ihn Frank über den schneebedeckten Sportplatz gejagt. Ich ziehe dir die Hammelbeine lang, wenn du nicht wiederholst: Hagen ist ein Held. Er antwortete keuchend: Hagen ist ein Meuchelmörder. Auf - nieder! Auf - nieder! Wiederholen: Katte ist ein Verräter. Antwort: Friedrich der Große ebenfalls. Wiederholen: Unsere Ehre heißt Treue. - Unsere Ehre heißt Treue.
Dieser Wahlspruch der Gebietsführerschule, an ihrem Giebel in Stein gemeißelt, versöhnte sie wieder, nachdem Achim seinem Ausbilder Frank Lutter wegen der Haltungen Hagens und des Thronfolgers Friedrich widersprochen hatte. Nein. Das werde ich niemals verstehen. Beides ist ungerecht. Siegfried wurde nicht Auge in Auge besiegt sondern hinterrücks. Und wenn Katte enthauptet wurde, so kann nicht der andere für dasselbe Vergehen, Fahnenflucht, nur weil er der Sohn des Königs ist, am Leben bleiben. Frank scheuchte ihn daraufhin, doch ohne Erfolg. Schließlich ließ er die Jungen antreten und befahl Achim, ausgepumpt und bleich, vor die Front. Wegen Gehorsamsverweigerung wirst du zum Pimpfen degradiert. Doch wegen deiner Standhaftigkeit, Pimpf Steinhauer, arischer Tugend, befördere ich dich mit sofortiger Wirkung zum Jungzugführer. Er legte ihm selber die grüne Schnur an.
Noch am selben Abend krochen sie in eine Felsschlucht am Ufer der Bode, ritzten sich mit Fahrtenmessern die Haut auf und tranken einander ihr Blut.
Seitdem wußte er, daß er sich stets auf seinen Blutsbruder würde verlassen können. Sie waren Soldaten des Führers. Sie trugen das Ehrenkleid seiner Jugend und seiner Hoffnung. Sollten die Panzer nur kommen. Ach, kämen sie doch. Das Gefühl, nur warten und untätig sein müssen, zermürbte.
Erst viel später wurde bekannt, was sich während des Bombardements in der folgenden Stunde auch anderenorts ereignet hatte. Im Osten war soeben ein erster fahler Glanz aufgedämmert, als aus der Höhe des Sternenhimmels ein Summen erklang. Motorengeräusch. Und obwohl es zunächst kaum vernehmbar war, vom Wind im Wechsel ferngerückt und nähergetragen, wirkt es doch, wie wohl seit langem jeder Laut am Himmel, bedrohlich. Die Gründe allerdings dafür, weshalb der Pilot da oben in dieser kritischen Nacht einen Alleinflug wagte, ob er die Flucht ergriffen oder sich nur verirrt hatte, werden wir nie erfahren.
Scheinwerferstrahlen sprangen auf und zerteilten mit einem Schlage die Dunkelheit. Sie schwenkten und kreisten, kreuzten und verknoteten sich, lösten sich wieder, trafen sich erneut im Bündel und hielten plötzlich in ihrer Lichtfaust den blinkenden Leib eines Flugzeugs. Deutlich war der Typ zu erkennen. Balkenkreuze an Tragflächen und Rumpf. Eine Ju 88. Sie flog in westliche Richtung, dorthin, wo bereits die amerikanischen Stellungen vermutet wurden.
Eine Salve krachte, abgefeuert von den Batterien, die verschanzt in den Wäldern am jenseitigen Elbufer lagen. Warnschüsse. Kleine, grellrote Fontänen zerspritzten vor der Maschine. Der Pilot aber änderte kaum ihren Kurs. Er stieß sie nur merklich tiefer, versuchte, mit solchem Manöver dem Strahlenbündel zu entkommen. Doch es gelang ihm nicht. Der Bomber klebte im Licht wie ein Insekt. Die Flak begann zu hämmern. Wütend, mörderisch. Der fahle Glanz im Osten war längst vor den Mündungsfeuern verblaßt.
Da wurde der Rumpf von einer Granate getroffen. Eine Rauchfahne quoll auf. Und nun drehte das Flugzeug ab, zog eine Schleife und raste mit heulenden, blackernden Motoren auf die Stadt zu.
Detonationen erdröhnten. Vielleicht hoffte der Pilot, sein Leben zu retten, indem er die tödliche Last abwarf. Vielleicht handelte er auch nur im letzten Aufbegehren seiner Angst.
Die Bomben fielen.
Sie krepierten in einem Zug von Häftlingen, der aus dem Konzentrationslager Dora kam, sich seit Tagen vom Harz herab durch die Börde schleppte, seinen Weg mit Leichen säumte, zu Tode gequälten Bündeln aus Haut und Knochen, und noch vor dem Morgengrauen über die Elbbrücke getrieben werden sollte. Die Gefangenen und ihre Peiniger wurden in Stücke gerissen, zerfleischt, Blutlachen beendeten ihren Marsch. Die Wachhunde winselten, klagten wie Menschen, die Menschen schrien wie Tiere, und die SS-Posten, selber sterbend, mähten mit ihren Maschinenpistolen noch diejenigen nieder, die, heil geblieben oder nur leicht verwundet, über die Äcker hetzten und sich befreien wollten.
Die Bomben durchschlugen das Dach einer Turnhalle, die zum Lyzeum in Bad Solau gehörte und in welcher Greise und Kinder schliefen, völlig erschöpft nach dem langen Treck aus Danzig und Pommern, so daß nicht einmal die scharfen Schüsse der Flak vermocht hatten, sie zu wecken. Tausend grausam verstümmelte Glieder wurden gegen die Wände geschleudert, ehe auch die zusammenbrachen. Sie schütteten ein Massengrab zu, über dem später ein hohes steinernes Kreuz errichtet wurde, eingraviert an die hundert Namen der Opfer, hinter den Namen die Geburtsjahre und unter allem der Tag des Todes, Mittwoch nach Quasimodogeniti, betet: Denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen.
Sellier & Bellot wurde getroffen, eine der ältesten chemischen Fabriken der Stadt, in der auch in dieser Nacht noch Zündhütchen für Geschosse produziert wurden. Ein Munitionsdepot explodierte, und die furchtbare Druckwelle zertrümmerte alle Fenster im Umkreis, zerriß Frauen und Lehrlingen, die in der Nähe arbeiteten, die Lungen und wirbelte packenweise Flugblätter auf die Straßen, aus der Direktion des Werkes Durchhalteparolen, aus einem Versteck im Ersatzteillager der Dreherei Losungen des antifaschistischen Widerstands. Volksgenossen Graubrückens, versetzt den Plutokraten und Bolschewisten den Todesstoß! Bürger Graubrückens, hißt die weißen Fahnen!
Und schließlich stürzte das Flugzeug mit dem Rest seiner Bomben auf die Straße, die vor Felgen lag, und zerbarst keine hundert Schritte entfernt von der Panzersperre.
Wrackteile flogen durch die Luft. Das Mietshaus gegenüber der Mühle wurde halbiert. Die Erde brannte, der Asphalt zerschmolz. Und der Himmel darüber tat sich auf, wie Achim Steinhauer es vor kurzem noch herbeigesehnt hatte.
Vater und Mutter, Feuer und Untergang, alles ist aus. Frank Lutter lag im Sand, den Mund voll Sand. Denkfetzen schossen durch sein Gehirn. Er rang nach Atem, spuckte und schrie, aber er wußte nicht, ob er selber es war, der schrie. »Nieder! Deckung!« Achim, Kamerad, hörst du mich noch? Mit beiden Händen drückte er den Kopf des Freundes tief in die lehmige Erde. Er spürte den Helm, das kalte Metall, und wünschte, daß in diesem Augenblick der schützende Stahl wie die Hornhaut Siegfrieds über ihre Körper wüchse.
Ein ohrenbetäubender Lärm, die Glutwelle der Explosion zischte über den Grabenrand, warf Gesteinsbrocken auf die Brüstung. Dann war Stille, unheimliche Stille. Nicht einmal mehr das Raunen des Windes war zu hören.
Wie um Gewißheit zu haben, daß er noch lebte, wagte Frank eine Bewegung. Er zog die Beine an, sie gehorchten ihm, kniete sich hin. Sand rieselte von seiner Uniform. Neben sich erblickte er das blasse, verzerrte Gesicht Steinhauers, schwarze, feucht glänzende Flecke darin. Er erschrak. Blut. Wir bluten. Seit sechs Jahren, solange der Krieg dauerte, nein, länger, von Kindheit an war er daran gewöhnt worden, an Blut und Ehre, Tod und Ruhm. In der Gebietsführerschule im Harz hatte er auf blutgefüllte Schläuche schießen müssen, Abhärtung, der Dienst verlangte es, doch nun sah er zum ersten Mal sich selbst inmitten der Kinobilder und Lesebuchtexte, sah sich an allen Gliedern verstümmelt. Der Soldat stirbt. Mölders und Prien. Er fühlte sich naß. Schweiß, Blut. Der derbe Stoff seiner Überfallbluse klebte ihm auf der Haut, es roch süßlich, wie das Schweineblut, das aus den Schläuchen gequollen war. Er betastete sich. Eine warme, breiige Flüssigkeit blieb an seinen Fingern haften. Auch die Fähnleinführerschnur an seiner linken Schulter war durchtränkt.
Aber es war nicht sein eigenes Blut, das ihn besudelt hatte. Im Licht der Scheinwerfer, die noch immer die Nacht erhellten, sah er reglos einen Volkssturmmann liegen. Ein Wrackteil des Flugzeugs war ihm zwischen Hals und Brust gedrungen. Dort steckte es noch wie eine Axt. Der Mann war tot. Aus seinen Mundwinkeln sickerten dünne Fäden Blut. In seinen erstarrten Augen spiegelte sich das Licht.
Frank stand auf, wankte. Ein Würgen verschnürte ihm die Kehle. Er steckte den Finger in den Schlund. Das ist nun die Front, dachte er, die Stunde der Männer, einen Meter nur weiter, näher, und es hätte nicht den Alten erwischt, Großvater, Tattergreis, sondern uns, Achim und mich, kurz vor Toresschluß, und wir haben noch keine Frauen, keine gehabt haben wir, und wer weiß, ob das alles hier noch einen Sinn hat, nein, ich will nicht sterben ... Bei diesem Gedanken jedoch zuckte er zusammen. War er ein Feigling? Da bemerkte er, daß auch Achim sich erhob. Der bebte, schluchzte mit verbissenen Zähnen in sich hinein. Und die Verstörtheit des Freundes, der zwei Jahre jünger war als er, machte ihm wieder Mut. Jetzt brauchte er nur noch einen Befehl, mußte Überlegenheit spüren, um die eigene Angst zu vertreiben. Er straffte sich und befahl: »Reiß dich zusammen, Mensch, Achtung!« Zugleich versperrte er ihm die Sicht auf den Toten. Eine Führernatur zeichnet sich dadurch aus, daß sie stärker ist als andere. Er umarmte ihn, drückte ihn an sich und flüsterte: »Bleib tapfer, Hagen von Tronje, und halte die Wacht.«
Die Scheinwerfer erloschen. Hauptmann Kadig, im Zivilberuf Lehrer am Lyzeum, inspizierte die Sperre. Ein Alter erstattete Meldung. Zwei Tote. »Gefallen für Führer, Volk und Vaterland ...« Kadig unterbrach ihn. »Muß von einem Dichter sein, fällt mir jetzt erst auf. Hören Sie nicht? Gefallen für Führer, Volk und so weiter. Unverkennbarer Stabreim. Fa Fü Vo Va.« Er ließ die Leichen aus dem Graben und aus dem Mietshaus bergen, verteilte Zigaretten und Munition. Frank Lutter gab er einen Feldstecher und schickte ihn auf die Mühle. »Da, halten Sie Ausschau nach den Amis, Kamerad. Wenn sie kommen - was heißt überhaupt: wenn - dann über die Endmoränen, direkt aus der Eiszeit sozusagen. Erinnern Sie sich? Quartär, Diluvium ... Oder alles schon wieder verlernt?« Er lachte meckernd, wartete, daß auch Frank lachte. Doch als der keine Miene verzog, sich in ein Geradeausgesicht versteckte, wie er es nannte, winkte er ab und ging.
Frank bezog seinen Posten. Unter dem First der Mühle schichtete er Mehlsäcke übereinander, verbarrikadierte sich, lud den Karabiner und schob ihn durch eine Luke. Wenn er sich doch wenigstens von der Bluse befreien könnte! Das fremde, inzwischen zu Schorf verkrustete Blut auf seiner Kleidung stank. Wieder spürte er Übelkeit. Bald jedoch, allein in dieser Höhe und nach den Anstrengungen dem Schlaf oft näher als dem Wachen, tauchten Traumbilder vor ihm auf. Glücklicher Aufstand des germanischen Riesengeschlechts. Die Wunderwaffe, der Hammer Thors, wurde bis nach Amerika geschleudert, fiel über die Wolkenkratzer und übte furchtbare Rache für die Trümmer Magdeburgs und Berlins, aller deutschen Großstädte. Ein andermal setzte er seine Hoffnungen in die Japaner, die sich freiwillig, wie in den Zeitungen stand, in den Tod stürzten, Harakiri machten oder so ähnlich, selber zur Bombe wurden, um treffsicher, wie bei Pearl Harbour, die feindlichen Schiffe zu versenken. Ja, er wollte leben. Sein Kopf war voller Überlebenschancen. Doch wenn nichts dergleichen geschähe, was dann? Bei dem Gedanken, daß es keine Rettung mehr geben könnte, überlief ihn ein Zittern, reizte die Nerven, drängte in seine Lenden. Er dachte an das Leben, das er noch leben wollte, noch nicht gelebt hatte, ging in eine Ecke und entblößte sich.
Der erste Sonnenstrahl, orangegelb über der Elbe, beruhigte ihn dann. Im Licht fühlte er sich den dunklen Mächten weniger hilflos ausgeliefert. Wind kam wieder auf, klopfte in Böen an die hölzerne Mühlenkuppel und zerrte an den Flügeln, die abends zuvor fest verkettet und stillgelegt worden waren. Durch das Fernglas betrachtete er das Land. Schwarz, von den Flammen rußig, klaffte das Loch, das das abgestürzte Flugzeug in die Straße gerissen hatte. Verkohlte Wrackteile lagen verstreut umher, der ausgebrannte Rumpf steckte steil im Trichter. Den Platz im Graben, auf dem der Volksgrenadier verblutet war, bedeckte jetzt gelber Sand, dunkler gefärbt an den Stellen, in die sich das Blut gesaugt hatte. Daneben kauerte Achim Steinhauer. Frank richtete sein Glas auf ihn. Gab es denn keinen Ausweg? Nur den Untergang der Nibelungen? Bleib tapfer, Hagen von Tronje. Der Getreue des Königs war trotz der Warnungen der Meermädchen in Etzels Reich gegangen. Hagen hatte sogar das Fährschiff über die Donau zerstört. Der Schicksalsspruch war endgültig. Keine Rückkehr. So groze missewende. Der Zweifel, der verdammte Zweifel, daß hier alles keinen Sinn mehr hatte. Durch den Feldstecher sah er das Gesicht des Freundes dicht vor sich. Nur die Wimpern, die sich schwarz und lang wie bei einem Mädchen von den blassen Wangen abhoben, bewegten sich manchmal. Achims Augen, schien ihm, glänzten wie graue Seide.
Er entsann sich seines Auftrags und prüfte den Horizont. Jeden einzelnen Balken des Gradierwerks erkannte er, jeden Baum an den Chausseen. Sonne sah er und Weite. Und plötzlich, auf der schnurgeraden Linie einer Landstraße, erspähte er auch eine Reihe graugrüner Gebilde. Panzer. Er spürte sein Herz bis zum Hals hinauf schlagen. Er sprang an die Tür, riß sie auf, sprang auf die Mühlentreppe und schrie: »Panzer! Feind in Sicht! Paaanzer!«
Von weitem knallten Schüsse. Erste Kämpfe vielleicht an der Stadtgrenze in Solau.
Er wollte die Treppe hinuntersteigen, aber die schnarrende Stimme Kadigs hielt ihn zurück: »Oben geblieben, Sie Loki! Oder fürchten Sie sich vor Walhalla?« Erst jetzt entdeckte er den Kommandeur. Der saß vor einer ausgebrannten Fensterhöhle im ersten Stock des Mietshauses, unter sich einen Teppich, der zum Teil über den zertrümmerten Fußboden hing, über sich eine plüschrote Lampe mit Fransen. »Was sehen Sie noch?«
Eine Fontäne schoß im Norden der Stadt in den Himmel. Die mächtigen Bögen der Elbbrücke sackten zusammen, und schwarzgelber, schwefliger Rauch verhängte die Silhouette Magdeburgs im Hintergrund, die beiden Türme des Doms. »Die Brücke«, antwortete Frank, aber zu leise, da er sich in der Erregung verschluckte.
»Wie?«
»Sie haben die Brücke gesprengt.«
Ein Alter mit Silberbart und viel zu großem Stahlhelm kletterte aus dem Graben. »Verloren, verloren«, keifte er. »Die SS läuft davon, läßt uns krepieren hier.«
Kadig riß seine Pistole aus dem Futteral. »Halt! Zurück! Oder ich mache kurzen Prozeß!« Und in die Höhe, an Lutter gewandt, rief er: »Die Lage, Kamerad. Wo die Panzer sind, will ich wissen.«
Frank richtete sein Fernglas auf Bad Solau und erblaßte. Auf den beiden Kirchtürmen, auf dem Gradierwerk, hier und da an den Häusern erschienen weiße Tücher. Er wollte schreien, aber er schwieg, stumm vor Enttäuschung. Ja, die SS floh. Durchhalten bis zum letzten Blutstropfen. Warum hielt sie nicht durch? Sah sie denn nicht wie er, daß sich schon die Feiglinge und Verräter wie Ratten aus ihren Schlupfwinkeln wagten?
»Was Sie sehen, Fähnleinführer, hören Sie, was Sie sehen ...«
Am anderen Ende der Straße fuhren die grauen Kolosse auf. Weiße Sterne. Geschützrohre, die drohend auf Felgen zielten.
»Wie viele sind es?«
Frank zählte. »Drei, vier, sechs …« Dann gab er auf zu zählen.
Nachdem die Panzer die Feldmark erreicht hatten, schwärmten sie aus, schleuderten Erdklumpen unter sich auf und zermalmten die grüne Saat. Sie kamen zu fünft in einer Linie, und dahinter wieder in einer Linie zu fünft, und auch dahinter waren noch Panzer. Der böige Wind blies vom Westen herüber, trug die Geräusche heran, das dumpfe Grollen der Motoren und, schon im Gegensatz dazu, das hellere Rasseln und Klirren der Raupen. Frank eilte zurück in die Mühle, floh hinter die Balustrade aus Mehlsäcken, legte den Karabiner schußbereit neben sich, wußte, daß jeder Schuß damit sinnlos sein würde, und griff wieder zum Feldstecher. Dicht vor dem bläulichen Glas tauchte ein Stahlleib auf. Der Geschützturm schwenkte. Neben der Kanone war ein schweres MG montiert. Als Frank hinunter in den Graben blickte, sah er Achim und einen anderen Jungen seines Fähnleins an Panzerfäusten hantieren, die Sicherungsstifte aus den Visieren ziehen. Sie verständigten sich durch Zuruf. Schießt nicht, dachte er, es hat keinen Sinn mehr. Einen trefft ihr, und die anderen werfen sich über euch. Er legte das Fernglas aus der Hand. Mit bloßem Auge hatte er bessere Übersicht. So nah waren die Panzer.
Einer kroch auf den Trichter zu, der die Straße gespalten hatte. Der verkohlte Rumpf und eine von der Hitze verbogene Tragfläche versperrten ihm den Weg. Er blieb stehen, ruckte nach links, ruckte nach rechts. Es sah aus wie der Tanz eines Sauriers. Aus dem Jura, Herr Lehrer. Doch entschlossen stieß er plötzlich in den Abgrund. Die Motoren brüllten. Mit unheimlicher Kraft schob er sich durch die Trümmer und wälzte sich auf der anderen Seite des Trichters wieder heraus. Steil stand für Sekunden sein Bug.
In diesem Augenblick zischte ein Geschoß über die Straße. Es kam aus dem Mietshaus, vielleicht von Kadig. Frank sah hinüber. Aber der Lehrer war verschwunden. Auch die Lampe. Der Teppich mit Persermuster rutschte über den Fußboden und riß einen Polsterstuhl mit.
Sofort spien die Panzer Feuer. Eine Salve harter, knallender Schläge ertönte. In den Verhau aus Schienen und T-Trägern wurde eine Bresche gesprengt. Eine Granate zerplatzte im Graben. Geschrei, Gewimmer. Frank hielt sich die Ohren zu. Achim, wo bist du? Rette dich!
Bevor er sich aber vergewissern konnte, ob der Freund noch lebte, wurde er gegen die Holzwand geschleudert. Mühsam hob er den Kopf, und ihm war, als bewegten sich unter dem First die Sparren. Die Mühle schien sich zu drehen, um ihre Achse, lautlos, gespenstisch. War ihm schwindlig? Er hörte nur noch die Detonationen. Heulen und Rasseln. Gewimmer und Schreie.
Sehen, dem Tod ins Gesicht sehen, nur nicht lebendig begraben werden. Er rappelte sich auf, sprang an die Luke. Nein, er hatte sich nicht geirrt. Ein Karussell. Die Flügel kreisten, schneller und schneller. Ihr Schatten huschte über das Lichtquadrat. Die Verkettung der Mühle mußte von einer Granate gelöst worden sein. In der Ferne tauchte das Gradierwerk auf, dann der dunkle Wald am Fluß. Einmal der Osten, einmal der Westen. Und überall im Wind weiße Tücher.
Er suchte Halt. Für den Bruchteil einer Sekunde erblickte er Achim. Der lag noch im Graben, stemmte sich gegen die Brüstung. Auf der Schulter das Rohr einer Panzerfaust, zielte er durch das aufgeklappte Visierfenster.
Nicht schießen! Schieß doch nicht, Achim! Befehl! Das ist ein Befehl!
Die Mühle kreiste. Grüne Saat bis hinauf zu den Hügeln. Über die Straße, in Richtung der Gehöfte, liefen Männer und Jungen. Maschinengewehre knatterten. Ihre Garben schlugen Funken aus dem Gestein. Einer warf die Arme hoch und fiel kopfüber aufs Pflaster. Noch einer fiel. Schwarze Uniform des Jungvolks. Rainer, Führer des dritten Zuges. Richthofen, Schlageter … Bäume blühten, Forsythiensträucher.
Aber Frank konnte nichts mehr erkennen. Wie blind war er plötzlich, wie taub. Die Säcke waren aufgeplatzt. Der Raum füllte sich immer dichter mit staubigem Nebel. Mehl quoll ihm auf der Zunge. Er hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Flieh, wenn du davonkommen willst, flieh ... Er tastete sich zur Tür, verlor den Karabiner, ließ ihn zurück. Draußen auf der Treppe, im Kreisen der Mühle, prallte er gegen das Geländer. Holz splitterte. Er stürzte, fiel die Stufen hinunter.
Unsere Ehre heißt Treue. Nein. Auch die SS war geflohen. Auch Kadig, der Kommandeur. Er wollte am Leben bleiben wie sie. Mit betäubten Gliedern schleppte er sich in den Schutz der Gärten hinter den Bauernhäusern. Weiße Wolken segelten am Himmel. Und mit einem Male war auch kein Lärm mehr. Kein Schuß. Kein Gebrüll von Motoren. Nur die Mühle schwankte im Wind und knarrte.
Er fühlte sich leer, zerbrochen an seinem Glauben und an seiner Kraft, daß er nur noch weinen konnte. Er lag auf dem Bauch, preßte die Stirn ins Gras, und bei jedem Zucken seines Körpers spürte er Schmerzen entlang der Wirbelsäule, die von dem Sturz herrührten.
Erst der Gestank des fremden Blutes brachte ihn wieder zur Besinnung. Der Krieg war zu Ende, die letzte Schlacht geschlagen, das Reich der Nibelungen untergegangen. Es gibt keine Rückkehr mehr. Endgültig der Spruch der Nornen. Er hockte sich hin, riß sich Bluse und Braunhemd vom Leib. Als er aber beides in Händen hielt, reute ihn sein Entschluß. Noch einmal kam er sich vor, als habe er tausend Eide gebrochen, als verriete er alles, woran er bisher geglaubt hatte, als desertiere er vor sich selbst, und er überlegte, ob er nicht wenigstens die Rangabzeichen, Schnur und Sterne, vom Stoff trennen und für später aufheben sollte. Doch wozu? Was war später!? Die Leere, das Nichts, König Etzels Land. Er warf die Uniform und das Fahrtenmesser in eine Furche und scharrte Erde darüber. Dann ging er an eine Tonne mit Regenwasser, die er im Garten entdeckte, und wusch sich.
Das eigentliche Dorf, neben protzigen Gehöften meist mit windschiefen Katen bebaut, und die Arbeitersiedlungen trennt der von Norden nach Süden führende, langgestreckte Damm der Eisenbahnlinie Magdeburg-Leipzig. Zwischen ihm und dem anderen, der Panzersperre gegenüberliegenden Ende der Bauernstraße befindet sich nur noch ein Platz, bestanden von hohen und dichtverzweigten Linden vor zwei sich damals neidisch belauernden Gaststätten. Die eine ist heute Büro einer landwirtschaftlichen Kooperationsgemeinschaft, die andere, wo im März 1933, am Abend nach den letzten Reichstagswahlen, wie eine dort angebrachte Gedenktafel bekundet, der Funktionär des Metallarbeiterverbandes und Stadtrat der SPD Otto Höllsfahrt von SA-Schlägern ermordet wurde, das Kulturhaus von Felgen. Hinter dem Damm beginnen die ausgerichteten Reihen der Zwillingshäuser, mit Satteldächern gedeckt und von Obst- und Gemüsegärten umgeben. Zur Straße hin von Blumenrabatten, Flieder und anderen Zierpflanzen eingefaßt, schließt sich an die Rückfront der Häuser stets ein Hof an, den auf des Nachbarn Seite Ställe für Hühner, Ziegen und, jedenfalls bis in die Nachkriegszeit üblich, auch für Schweine begrenzen, auf der Gartenseite eine Waschküche und eine mannshohe Mauer unter Spaliergehölzen und sonstigem Buschwerk.
Hier, in der Siedlung Lerchenschlag, wohnte Achim Steinhauer. Sein Vater, gelernter Glasbläser, später Former, war mitten im Kriege, wenige Monate nach der Schlacht bei Stalingrad, die er, schon auf dem Krankenbett, als den endgültigen Beweis für seine Behauptung genommen hatte, daß Hitlers Niederlage unausbleiblich sei, an Silikose gestorben. Seitdem lebte Achim mit der Mutter allein im Erdgeschoß, das aus dem nunmehr gemeinsamen Schlafzimmer, der guten Stube, so genannt, weil sie nur an Festtagen benutzt wurde, und der Wohnküche bestand. Eine der beiden Dachkammern, die bis dahin ihm gehört und zu der eine schmale und steile Treppe führte, war auf Geheiß der Behörden an ein dienstverpflichtetes Mädchen aus dem Ruhrgebiet vermietet worden. In der anderen Kammer hatte sein Bruder Lothar gewohnt, und obwohl er bereits kurz nach Kriegsausbruch, kaum zwanzigjährig, in Frankreich gefallen war, wohnte er eigentlich noch immer dort, ging sein Schatte darin um. Denn die Mutter bewahrte darin all seine Sachen auf, behandelte sie, als käme ihr Sohn noch einmal auf Urlaub und wünschte sie zu gebrauchen, getraute sich nicht, sie von ihrem Platz zu rücken, und konnte sich demzufolge auch nicht entschließen, das Zimmer für Achim zu räumen.
Er nahm ihr Gehabe hin, fand für sich bald eine neue Unterkunft, die er, je mehr er sie nach seinem Geschmack einrichtete, für weit romantischer hielt als die Kammern im Dachgeschoß. Er hatte sich auf dem Heuboden über den Ställen einen Verschlag gebaut. An die Wand roher Bretter, hinter der das ganze Jahr über Wiesenheu duftete, waren der Buntdruck einer Szene, die Major Schill mit seinen Offizieren im Biwak zeigte, und colorierte Postkartenfotos seiner Helden gepinnt, Rommel, der Wüstenfuchs, Prien, der U-Boot-Kommandant, und Mölders vor seiner Messerschmitt. Unter der mittleren Pfette, vor einer tarnfarbigen Zeltbahn, die, da das Ziegeldach an manchen Stellen darüber durchlässig war, vor Regen und Wind schützte, hingen mehrere Waffen, ein Kleinkalibergewehr, ein blitzender Finnendolch, ein Dragonerdegen, dessen Klinge schon arg zerschartet war, und ein Krummsäbel unbestimmter Herkunft, mit vergoldetem Griff, getauscht einmal gegen ein Paar alter Schlittschuhe. Auch die Wimpel der von ihm befehligten Jungschaften, bestickt mit den Namen von Gotenkönigen, Teja, Alarich und Dietrich von Bern, hatte er in den letzten Tagen dort aufgereiht. Zugleich diente ihm der Balken als Bord für die wenigen Bücher, die er besaß, Karl May und Löns (natürlich, er wollte ja Förster werden), eine Sammlung von Gedichten, Zöberleins »Glaube an Deutschland«, Hitlers »Mein Kampf«, in schwarzem Leinen mit Goldschrift. Diesen Band hatte er erst vor wenigen Tagen, anläßlich seiner Jugendverpflichtung im flaggengeschmückten Lichtspieltheater »Astoria« geschenkt bekommen. Gelesen aber war er noch nicht, im Gegensatz zu einem dünnen, rötlichbraunen Reclamheft, das nur noch aus losen Blättern bestand. In einem unbemerkten Augenblick hatte er es Mathilde, der Stenotypistin aus Dortmund, aus dem Zimmer gestohlen, sich an den flammenden Reden des Räubers Karl Moor darin, die er inzwischen auswendig kannte, berauscht, und es daraufhin zu seiner Kriegstrophäe erklärt, was soviel hieß, daß er sich fortan nicht mehr als Dieb fühlte. Ein Feldbett, eine selbstgezimmerte Bank und ein Gartentisch, über den statt einer Decke eine Hakenkreuzfahne gespannt war, vervollständigten das Inventar. Genau im Schnittpunkt des Kreuzes, vom Licht aus der Dachluke beschienen, lag, wie eine Reliquie, ein Messingmedaillon mit dem Bildnis des Bruders.
In diesen Raum zog es ihn jetzt, nachdem die Panzer ihn überrollt hatten. Er wollte allein sein, sich nur seinen Gefühlen hingeben, denken, träumen und ... und ... Doch er wußte keine Antwort auf dieses Und, wußte nicht, wie es nun weitergehen sollte. Schießen, jetzt schießen, das war sein letzter klarer Gedanke gewesen. Er lag im toten Winkel und hielt den Panzer im aufgeklappten Visierfenster. Wie nach Vorschrift. Aber er zögerte. Ihm zitterte die Hand. Auf allen vieren, sah er, kroch Hauptmann Kadig über den Teppich und floh. Widerstand bis zur letzten Patrone. Hatte nicht so noch gestern der Führerbefehl gelautet? Die Volkssturmmänner sprangen aus dem Graben, gefolgt von den Jungen, auch von Rainer, der wie er die grüne Schnur trug. Die Stellungen verteidigen bis zum letzten Blutstropfen. »Feiglinge!« schrie er, »Feiglinge!«, immerzu »Feiglinge!«. Im Getöse der Explosionen gingen seine Schreie unter. Die Mühle kreiste. Auf ihrer Treppe erschien Lutter, prallte gegen das Geländer, stürzte in die Tiefe. War er getroffen, verwundet, tot? Wilder Haß ergriff Achim. Doch er wußte nicht, wen er am meisten haßte. Den Feind oder die Deserteure. »Feiglinge!«. Er verschaffte sich Luft. »Verräter!« Der stählerne Leib des Panzers bäumte sich vor ihm auf, wälzte sich über ihn. Er drückte sich in den Graben. Geröll und Kies prasselten auf ihn nieder. Er hörte das Mahlen und Malmen der Ketten. Auch ihm versagten die Hände. Er mußte doch aber schießen, schießen ... Er hatte nicht geschossen.
Nachdem es still geworden war, wühlte er sich aus der Erde wie aus einem Grab. Das Dröhnen der Panzermotoren erklang nur noch von weitem. Auf der Straße lagen Leichen. Er wagte nicht, in ihre erstarrten Augen zu blicken, zu sehen, ob auch Frank Lutter darunter war. Nicht einmal seinem Vater, der im offenen Sarg in der guten Stube gelegen hatte, von weißen Chrysanthemen bedeckt, hatte er damals in das tote Antlitz schauen können. Sogar Chrysanthemen waren ihm seitdem zuwider. Ihr Geruch erinnerte ihn an den Tod, und ihn schauderte, wenn er nur an sie dachte.
Unter den fortgeworfenen Waffen fand er eine Walther, prüfte das Magazin und sah, daß es gefüllt war. Er steckte die Pistole in die Tasche und schlich sich durch die Gassen des Dorfes. Hin und wieder hörte er einen Hund jaulen. Sonst rührte sich nichts.
An den Bahndamm gelangt, nahm er den Weg über die Äcker, die sich hinter den Siedlungsgärten, hier noch unbestellt, braun und kahl bis an den Horizont erstreckten, bis zu den fernen Türmen einer Stadt und den dunklen Wäldern am Fluß. Er mied die Straßen, wollte niemandem begegnen. Niemand sollte seine Verzweiflung sehen, seine unendliche Traurigkeit, niemand, auch nicht die Mutter. Deutschland, sein Glaube und seine Liebe, war es vernichtet? Die Leute aus Lerchenschlag würden entweder frohlocken oder ihn nur bedauern. Ach, Achim, du bist ja ein Kind noch. Nein, spätestens heute nacht war er zum Manne gereift. Gestern abend, eine Ewigkeit her, hatte er sich aus den Armen der Mutter gerissen. Ihr rotes, vom vielen Weinen aufgedunsenes Gesicht schreckte ihn ab. Du bist doch mein Letzter, Einziger, und wenn ich auch dich verliere, greif ich zum Strick … Ihr Gejammer vertrug er nicht.
Der Garten war weithin kenntlich an einer Kastanie, die seinen Zaun überwucherte. Sie war einem Samen entwachsen, den hier sein Bruder einmal im Sand verspielt hatte, und er war oft in ihre Krone gestiegen und hatte im Spätwinter den Grünlingen und im Herbst den Rotschwänzen nachgerufen: Bleibt oder nehmt mich mit. Bleibt oder nehmt mich mit. Vogelzug stimmte ihn traurig. Doch noch nie hatte er sich so verlassen und traurig gefühlt wie jetzt.
Die Mutter schien nicht zu Hause zu sein. Vielleicht hatte die Angst um ihn sie hinausgetrieben, nach Felgen, an die Sperre. Wenn sie die Spuren des Kampfes entdeckte, wie würde ihr dann zumute sein? Er spürte Mitleid, doch bevor es ihn tiefer ergriff, fiel sein Blick auf den Giebel. Aus dem Fenster über der Treppe wehte ein weißes Bettlaken. Von allen Nachbarhäusern leuchteten weiße Tücher. Kapitulation. Deutschland vernichtet. Der Gedanke schmerzte ihn mehr als alles andere. Er vergaß die Mutter. Sein Herz krampfte sich wie von einer eiskalten Faust umklammert zusammen. Wann endlich konnte er sich von diesem Gefühl, diesem Nichtweiterwissen, diesem UND, für das er keine Fortsetzung wußte, befreien? Die Antwort! Vielleicht fand er sie in seinem Verschlag.
Unbemerkt kam er in den Heuboden, verriegelte die Tür hinter sich und warf sich auf das Feldbett. Die Dinge an den Wänden, Waffen und Wimpel, Bilder und Bücher waren ihm vertraut und beruhigten ihn vorerst. Sein Verhältnis zu ihnen war wie zu lebendigen Wesen. Manchmal hatte er die Verse von Schiller und Theodor Körner laut deklamiert, manchmal hatte er Zwiesprache mit seinen Helden gehalten. Er wollte nach dem Reclamheft greifen. Eine Zeile Moors kam ihm plötzlich in den Sinn: ... dieses Opfer bin ich selbst. Ich selbst muß für sie des Todes sterben … Doch hatten sie ihn nicht schon alle verlassen? Rommel und Mölders, Prien und Lothar. Vielleicht auch Frank Lutter? Er entsann sich, daß er noch nie in dem schwarzen Band gelesen hatte, nahm ihn vom Bord und blätterte darin. Eine Kapitelüberschrift erregte seine Aufmerksamkeit: Der Starke ist am mächtigsten allein. Ein anderer Satz fiel ihm in die Augen: Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht ... War das die Antwort? So sehr er auch suchte, weiter fand er nichts, was seinen Gefühlen entsprochen hätte. Juden, Sozialdemokratie, Marxismus. Nichts.
Ratlos lag er auf dem Bett, fühlte die Pistole in seiner Tasche, legte sie auf den Tisch. Das Medaillon blitzte ihn an. Sein Bruder, zweifelte er nicht, war als Held gestorben. Warum aber hatte er nicht geschossen?
Der Starke ist am mächtigsten allein. An der Front kann man sterben. Als Deserteur muß man sterben. Sätze des schwarzen Buches. War nicht auch er desertiert? Allein sein, sich nur seinen Gefühlen hingeben und ... Wie weiter? Was kommt nach diesem UND? Bleibt oder nehmt mich mit. Kalt, unheimlich kalt glänzte der schwarze Lauf der Pistole. Feigling. So schieß doch, schieß endlich, schieß ...
Hanna Steinhauer kam zurück. Ihre Holzpantinen klapperten über den Hof. »Wo is mien Junge, mien armer Junge?« rief sie.
Frank Lutter entgegnete: »Wissen denn Sie nicht, wo er ist?«
»Du häst'n vorführt, du. Wie de Deiwel löppst de hinner ihn her.«
Wenn die Mutter erregt war, verfiel sie besonders stark in ihr Bördeplatt.
Deutlich vernahm Achim die Stimmen. Schon hörte er, wie die Holme der Leiter gegen das Teerpappendach krachten. Er sprang vom Bett, schob den Riegel auf. Frank lebte. Sein Blutsbruder lebte. Die Freude darüber brachte sein Blut zum Wallen. Höher schlug ihm wieder das Herz.
Das war die Antwort. Kameraden wollen wir sein, nicht länger allein. Noch hatte er einen Freund, ein Frontschwein inzwischen wie er. Und sie würden weiterkämpfen.
Er stieß die Tür auf. Auf dem Dach stand Frank. Als die Mutter ihren Sohn erblickte, bei heilen Gliedern, entrang sich ihrer Brust ein heiserer, gurgelnder Schrei. Alle durchlittene Qual der letzten Stunden preßte sie aus sich heraus. Kopflos vor Glück rannte sie in das Haus. »Ick mak juch wat tau eten. Hungrich mutt ju sin. Ach, ihr Lusbengels, ihr jieprigen Wölfe.«
Achim jedoch erstarrte. Frank stand in Zivil vor ihm. Die blonden Haare sauber gescheitelt. Sauber das Hemd, die Hose, der blaue Sweater. Nichts mehr an ihm, was an den Kampf erinnerte, nicht einmal an den heiligen Schwur der Blutsbrüderschaft in der Höhle am Bodeufer, an Mölders und Prien und Hagen von Tronje. Ein anderer Mensch ohne Uniform. Er entsann sich nicht, ihn jemals in Zivil gesehen zu haben. Und er zweifelte nicht, daß auch Frank desertiert war.
Mehr noch als seine Trauer schmerzte ihn der Verrat. Er fühlte sich verraten wie nie zuvor.
Frank ahnte, was seinem Freund durch den Kopf schoß. Er sah es ihm an. Weit aufgerissen die Mädchenaugen. Ein unsägliches, fassungsloses, unbegreifliches Staunen darin. Er ging auf ihn zu und sagte: »So hör mich doch erst mal an …«
Aber Achim, als fürchtete er, sich anzustecken, wich sofort zurück. »Feigling!« zischte er. Dann spie er ihm ins Gesicht.
Mit den Fäusten schlugen sie aufeinander ein, wütend und grob, jeder nur darauf bedacht, dem anderen Schmerz zuzufügen, um den eigenen Schmerz, die eigene Enttäuschung nach diesem schmählichen Ende zu vergessen. Wie Tiere verbissen sie sich, wälzten sich über das ächzende Dach, drohten abzustürzen, schienen sich nicht mehr zu kennen, kannten sich selbst nicht mehr, schlugen bis sie bluteten, aus Nase und Mund, bis sie erschöpft abließen, nebeneinanderlagen und kein Wort mehr über ihre wunden Lippen brachten.