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Bisher von Victoria Aveyard im Carlsen Verlag:
Die rote Königin – Band 1
Gläsernes Schwert – Band 2
Goldener Käfig – Band 3
Wütender Sturm – Band 4
Der Gesang der Königin
Rotes Netz

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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017
Originalcopyright © 2017 by Victoria Aveyard
Published by arrangement with Victoria Aveyard
Originalverlag: HarperTeen, an imprint of HarperCollins Publishers, New York
Originaltitel: King’s Cage
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Umschlaggestaltung: formlabor
Umschlagbilder: Trevillion Images © Susan Fox; shutterstock © Smiltenak /
© Sanit Fuangnakhon
Karte © 2017 by Victoria Aveyard. Illustriert von Amanda Persky.
Used with permission. All rights reserved.
Aus dem Englischen von Birgit Schmitz
Lektorat: Brigitte Kälble
Herstellung: Gunta Lauck
Lithografie: Margit Dittes, Hamburg
Satz und E-Book-Erstellung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN: 978-3-646-92726-9

Zweifle nie daran, dass Du wertvoll bist und stark und jede erdenkliche Chance und Gelegenheit verdienst, deine Träume zu verwirklichen.

HRC

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1

MARE

Ich versuche aufzustehen, als er mich lässt.

Er reißt die Kette ruckartig hoch und zieht an meinem Stachelhalsband. Die Spitzen bohren sich in meine Haut; nicht so fest, dass Blut kommt – noch nicht. Aber meine Handgelenke sind bereits blutig. Während langer Tage in bewusstloser Gefangenschaft haben die rauen, scheuernden Fesseln die Haut darunter langsam aufgeschürft. Meine weißen Ärmel sind voller dunkler und hellroter Blutflecken; zu den alten, verblassenden gesellen sich immer wieder frische hinzu und legen Zeugnis ab von meinem Martyrium. Zeigen Mavens Hof, wie sehr ich bereits gelitten habe.

Er steht mit undurchdringlicher Miene über mir. Mit der väterlichen Krone auf dem Kopf wirkt er größer; es sieht aus, als würden ihm die eisernen Zacken direkt aus dem Schädel wachsen. Die Krone funkelt, jede Spitze ist eine gewundene Flamme aus schwarzem Metall, in das sich Bronze und Silber mischen. Ich konzentriere mich ganz auf dieses mir so schmerzlich vertraute Ding, damit ich Maven nicht in die Augen schauen muss. Aber er kriegt mich trotzdem, indem er an einer anderen Kette zieht, die ich nicht sehen kann. Nur spüren.

Weiße Finger legen sich seltsam sanft um mein verletztes Handgelenk. Mein Blick schnellt unwillkürlich zu seinem Gesicht; ich kann es nicht verhindern. Sein Lächeln ist alles andere als freundlich. Dünn und scharf wie eine Rasierklinge ist es; jeder Zahn bohrt sich förmlich in mich hinein. Aber das Schlimmste sind seine Augen. Ihre Augen. Elaras Augen. Früher dachte ich, sie wären kalt, lebendiges Eis. Jetzt weiß ich es besser. Blaue Flammen sind die heißesten; seine Augen bilden da keine Ausnahme.

Der Schatten der Flamme. In ihm brennt das Feuer lichterloh, doch an seinen Rändern nagt Dunkelheit. Wie Blutergüsse umgeben schwarzblaue Flecken seine Augen, die von silbernen Adern durchzogen sind. Er hat nicht geschlafen. Er ist dünner, als ich ihn in Erinnerung habe, hagerer, grausamer. Seine Haare, die so schwarz sind wie das Nichts, reichen ihm nun bis zu den Ohren und kräuseln sich an den Spitzen; seine Wangen sind noch immer glatt. Manchmal vergesse ich, wie jung er ist. Wie jung wir beide sind. Das Brandmal auf meinem Schlüsselbein – ein »M«, das vom Kleid verdeckt wird – schmerzt.

Maven dreht sich rasch um und die Kette in seiner Faust zwingt mich, ihm zu folgen. Ein Mond, der um einen Planeten kreist.

»Seht euch diese Gefangene an, diesen Sieg!«, ruft er mit gestrafften Schultern der Menschenmenge vor uns zu. Mindestens dreihundert Silberne, Adelige und Zivilisten, Wachen und Offiziere stehen dort. Ich bin mir der Königswächter am Rand meines Blickfeldes schmerzlich bewusst, ihre feuerroten Roben erinnern mich permanent an meinen schnell schrumpfenden Käfig. Auch meine Arven-Wächter sind nie außer Sichtweite, ihre weißen Uniformen blenden, ihre Stiller-Fähigkeiten lähmen mich. Der Druck ihrer Anwesenheit raubt mir den Atem.

Die Stimme des Königs hallt über den imposanten Cäsarplatz und wird von der Menschenmenge mit Zustimmung und Jubel aufgenommen. Irgendwo muss es Mikrofone und Lautsprecher geben, die die bitteren Worte des Königs in die Stadt tragen und zweifellos auch in den Rest des Königreichs.

»Das hier ist Mare Barrow, die Anführerin der Scharlachroten Garde.« Trotz meiner misslichen Lage schnaube ich beinahe. Anführerin. Dass seine Mutter nicht mehr lebt, tut seinen Lügen keinen Abbruch. »Eine Mörderin, eine Terroristin, eine Feindin unseres Königreichs. Und jetzt kniet sie vor uns, entblößt bis aufs Blut.«

Er reißt wieder an der Kette und ich stolpere nach vorn, die Arme ausgestreckt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Meine Reaktionen sind träge, meine Augen niedergeschlagen. Was für ein Schauspiel. Wut und Scham durchströmen mich, als mir bewusst wird, was dieser simple Akt für die Scharlachrote Garde bedeutet, wie sehr er ihr schaden wird. Rote in ganz Norta werden sehen, wie ich an Mavens Fäden zappele. Sie werden glauben, dass wir schwach sind und besiegt, weder ihrer Aufmerksamkeit noch ihrer Mühe oder Hoffnung wert. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Aber ich kann nichts tun, nicht jetzt, nicht hier, während mein Leben auf Messers Schneide steht und ich voll und ganz von Mavens Gnade abhänge. Ich frage mich, was mit Corvium ist, der Militärstadt, die wir auf unserem Weg zum Todesstreifen brennen sahen. Nach der Ausstrahlung meiner Videobotschaft ist es zu Aufständen gekommen. War es das erste Aufflammen der Revolution – oder ein letztes Aufbäumen? Ich habe keine Ahnung. Und ich bezweifle, dass sich jemand die Mühe machen wird, mir eine Zeitung zu bringen.

Cal hat mich vor der Gefahr eines Bürgerkriegs gewarnt, schon vor langer Zeit, bevor sein Vater starb und er plötzlich mit nichts als der hitzigen Blitzwerferin dastand. Rebellion auf beiden Seiten, hatte er gesagt. Doch während ich hier stehe, angeleint vor Mavens Hof und seinem Silber-Königreich, sehe ich keinerlei Anzeichen für irgendwelche Abspaltungsbewegungen. Obwohl ich den Silbernen von Mavens Gefängnis erzählt habe, obwohl ich ihnen gesagt habe, dass er ihre Liebsten geraubt hat, dass der König und seine Mutter sie alle verraten haben, betrachten sie weiterhin mich als ihren Feind. Ich möchte schreien, besinne mich aber eines Besseren. Mavens Stimme wird immer lauter sein als meine.

Sehen Ma und Pa gerade zu? Der Gedanke erfüllt mich mit neuem Kummer und ich beiße mir fest auf die Lippe, damit nicht noch mehr Tränen fließen. Ich weiß, dass Videokameras in der Nähe und auf mein Gesicht gerichtet sind. Auch wenn ich sie nicht mehr spüren kann, ist mir das sonnenklar. Maven würde sich niemals die Gelegenheit entgehen lassen, meinen Sturz zu verewigen.

Werden sie mich gleich sterben sehen?

Das Halsband sagt mir, dass dem nicht so ist. Warum sollte er dieses Spektakel inszenieren, wenn er mich einfach nur töten wollte? Andere fänden diesen Gedanken erleichternd, aber mir wird kalt vor Angst. Er wird mich nicht töten. Maven nicht. Das sagt mir seine Berührung. Seine langen, bleichen Finger liegen noch immer um mein Handgelenk, während die andere Hand die Leine hält. Selbst jetzt, wo ich auf schmerzhafte Weise ihm gehöre, lässt er mich nicht los. Ich würde den Tod diesem Käfig, dieser perversen Obsession eines verrückten jungen Königs vorziehen.

Ich erinnere mich an seine Briefe, die alle mit demselben seltsamen Lamento endeten.

Bis zum nächsten Wiedersehen.

Er redet weiter, aber seine Stimme dringt nur gedämpft zu mir durch, wird zum Sirren einer Hornisse, die mich umschwirrt und alle meine Nerven vibrieren lässt. Ich schaue über die Schulter. Mein Blick schweift über die Menge der Höflinge hinter uns. Stolz und voller Niedertracht stehen sie da in ihrer schwarzen Trauerkleidung. Lord Volo aus dem Haus Samos und sein Sohn Ptolemus sind prächtig herausgeputzt in ihrer tiefschwarz glänzenden Rüstung mit den silbernen Schärpen von der Hüfte bis zur Schulter. Beim Anblick von Ptolemus sehe ich Rot, scharlachrotes, zorniges Rot. Ich unterdrücke den Impuls, nach vorn zu stürzen und Ptolemus die Haut vom Gesicht abzuziehen, ihm das Herz zu durchbohren, so wie er es bei meinem Bruder Shade gemacht hat. Mein Wunsch steht mir offenbar deutlich im Gesicht geschrieben, denn Ptolemus besitzt die Frechheit, mich selbstgefällig anzugrinsen. Würden das Halsband und die Stiller-Wachen mich nicht all dessen berauben, was ich bin, würde ich seine Knochen in rauchendes Glas verwandeln.

Seltsamerweise schaut mich seine Schwester, die so viele Monate meine Feindin war, gar nicht an. In ihrem mit schwarzen Kristallen gespickten Kleid ist Evangelina der glitzernde Stern dieser grausamen Konstellation. Da sie die Verlobung mit Maven schon so lange ausgehalten hat, wird sie vermutlich bald Königin. Ihr Blick ruht auf dem Rücken des Königs, ihre dunklen Augen fixieren seinen Nacken. Eine aufkommende Brise bringt den glänzenden Vorhang ihrer silbernen Haare in Bewegung, hebt ihn von ihren Schultern, doch sie zuckt mit keiner Wimper. Erst nach einem langen Moment scheint sie zu bemerken, dass ich sie anstarre. Doch selbst dann schwenkt ihr Blick nur kurz zu mir hin. Bar jeden Gefühls. Ich bin ihrer Aufmerksamkeit nicht mehr würdig.

»Mare Barrow ist eine Gefangene der Krone. Auf sie wartet das Urteil der Krone und der Ratsversammlung. Ihre zahlreichen Verbrechen müssen geahndet werden.«

Aber wie?, frage ich mich.

Die Menge grölt und bejubelt seine Ankündigung. Das sind Silberne, aber »gewöhnliche« Silberne, ohne adelige Herkunft. Während sie Mavens Worte feiern, zeigt sein Hof keinerlei Reaktion. Tatsächlich werden einige der Hofangehörigen grau im Gesicht, ihre Mienen versteinern, wirken wütend. Besonders die Mitglieder des Hauses Merandus, deren Trauerkleidung von Dunkelblau, der vermaledeiten Farbe der toten Königin, durchzogen ist. Während Evangelina mich nicht wahrgenommen hat, starren sie mir mit beunruhigender Intensität ins Gesicht. Flammend blaue Blicke treffen mich aus allen Richtungen. Ich warte darauf, ihr Flüstern in meinem Kopf zu hören, rechne damit, dass sich ein Dutzend Stimmen durch ihn hindurchwühlen wie Würmer durch einen faulen Apfel. Aber stattdessen – Stille. Vielleicht sind die Arven-Offiziere rechts und links von mir ja nicht nur meine Gefängniswärter, sondern auch Beschützer, vielleicht unterdrücken sie nicht nur meine Fähigkeiten, sondern auch die jedes anderen, der seine Fähigkeiten gegen mich einsetzen will. Auf Mavens Befehl hin, vermute ich. Hier wird mir niemand anders wehtun.

Niemand anders als er.

Doch es tut schon alles weh. Es tut mir weh, zu stehen und mich zu bewegen, selbst das Denken schmerzt. Von dem Flugzeugabsturz, dem Echolot, dem erdrückenden Gewicht der Stiller-Wachen. Und das sind nur körperliche Wunden. Blutergüsse. Knochenfrakturen. Schmerzen, die mit der Zeit irgendwann aufhören werden. Was man von dem Rest nicht sagen kann. Mein Bruder ist tot. Ich bin eine Gefangene. Und ich weiß nicht, was wirklich mit meinen Freunden passiert ist, als ich – vor wie vielen Tagen auch immer – diesen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe. Was aus Cal, Kilorn, Cameron, meinen Brüdern Bree und Tramy geworden ist. Wir haben sie auf dieser Lichtung zurückgelassen, doch sie waren verletzt, außer Gefecht gesetzt, verwundbar. Maven kann jede Menge Mörder zu ihnen zurückgeschickt haben, um doch noch zu Ende zu bringen, was er begonnen hatte. Ich habe mich im Austausch für sie ausgeliefert, aber ich weiß nicht einmal, ob der Plan wirklich aufgegangen ist.

Maven würde es mir sagen, wenn ich ihn fragen würde. Ich sehe es ihm an. Zwischen jedem seiner abscheulichen Sätze, jeder Lüge, die er seinen untertänigen Anhängern auftischt, fliegt sein Blick zu mir hin. Um sicherzugehen, dass ich dabei bin, dass ich aufmerksam zuhöre, dass ich ihn anschaue. Er ist wie ein Kind.

Ich werde ihn nicht anbetteln. Nicht hier. Nicht so. Dafür habe ich noch zu viel Stolz.

»Meine Mutter und mein Vater sind im Kampf gegen diese Tiere gestorben. Sie haben ihr Leben hingegeben, um dieses Königreich zu erhalten, damit ihr in Sicherheit leben könnt.«

Auch wenn ich geschlagen bin, werfe ich Maven unwillkürlich einen wütenden Blick zu, begegne seinem Feuer mit einem Zischen meines eigenen. Wir erinnern uns beide an den Tod seines Vaters. Seine Ermordung. Die Flüsterer-Königin Elara hat sich damals einen Weg in Cals Kopf gebahnt und den geliebten Erben des Königs in eine tödliche Waffe verwandelt. Maven und ich waren dabei, als sie Cal gezwungen hat, zum Mörder seines Vaters zu werden; er musste dem König den Kopf abschlagen und verlor damit jede Chance, einmal selbst den Thron zu besteigen. Ich habe seitdem viele schreckliche Dinge gesehen, aber diese Bilder verfolgen mich noch immer.

Ich weiß nicht mehr viel von dem, was der Königin außerhalb der Gefängnismauern von Corros zugestoßen ist. Aber der Zustand ihrer Leiche war ein Zeugnis dafür, was ungezügelte Blitze mit einem menschlichen Körper anrichten können. Ich weiß, dass ich sie ohne den geringsten Zweifel, ohne Gewissensbisse und ohne Bedauern getötet habe. Mein verheerendes Blitzfeuerwerk wurde von Shades plötzlichem Tod genährt. Das letzte klare Bild, das mir von der Schlacht in Corros im Gedächtnis geblieben ist, zeigt ihn, wie er umfällt, weil Ptolemus’ Nadel aus kaltem, unnachgiebigem Stahl sein Herz durchbohrt hat. Ptolemus ist meiner Rache irgendwie entgangen, die Königin aber nicht. Wenigstens haben der Oberst und ich sichergestellt, dass alle Welt weiß, was mit ihr passiert ist, indem wir ihren Leichnam in unserer Videobotschaft zur Schau gestellt haben.

Ich wünschte, Maven besäße etwas von ihren Fähigkeiten, dann könnte er in meinen Kopf eindringen und genau sehen, welches Ende ich seiner Mutter bereitet habe. Ich will, dass er ihren Verlust ebenso schmerzlich empfindet wie ich den meines Bruders.

Sein Blick ruht auf mir, während er seine einstudierte Ansprache beendet, sein Arm ist ausgestreckt, damit die Kette, die mich an ihn fesselt, besser zur Geltung kommt. Alles, was er tut, hat Methode, wird um der Bilder willen ausgeführt.

»Ich schwöre, dass ich dasselbe tun werde. Dass ich der Scharlachroten Garde und Monstern wie Mare Barrow das Handwerk legen oder bei dem Versuch sterben werde.«

Dann stirb, möchte ich schreien.

Das Brüllen der Menge übertönt meine Gedanken. Hunderte bejubeln ihren König und seine Tyrannei. Ich habe bei meinem Gang über die Brücke geweint, weil ich an so vielen vorbeikam, die mir die Schuld am Tod ihrer Lieben gaben. Ich spüre die Tränen noch, die auf meinen Wangen trocknen. Jetzt möchte ich erneut weinen, nicht aus Traurigkeit, sondern vor Wut. Wie können sie das nur glauben? Wie halten sie diese Lügen nur aus?

Ich werde von dem Anblick weggezogen wie eine Puppe. Mit letzter Kraft verrenke ich mir den Hals und blicke über die Schulter zurück, in die Kameras, in die Augen der Welt. Schaut mich an, bettele ich. Schaut, wie er lügt. Ich presse die Kiefer aufeinander, ziehe die Augen zusammen und hoffe inständig, dadurch ein Bild des Widerstands, der Rebellion und der Wut zu bieten. Ich bin die Blitzwerferin. Ich bin ein Gewitter, eine Naturgewalt. Es fühlt sich an wie eine Lüge. Die Blitzwerferin ist tot.

Aber es ist das Letzte, was ich für unsere Sache tun kann und für die Menschen, die ich liebe und die noch da draußen sind. Sie sollen mich in diesem letzten Augenblick nicht straucheln sehen. Nein, ich werde aufrecht stehen. Und auch wenn ich keine Ahnung habe wie, muss ich weiterkämpfen, selbst hier, im Bauch des Ungeheuers.

Ein erneutes Zerren an der Kette zwingt mich, mich abzuwenden, dem Hof zu. Ich sehe Silberne, deren Haut von blauen, schwarzen, violetten und grauen Tönen durchzogen ist, die kalt und leblos wirken, mit Adern aus Stahl und Diamanten anstelle von Blut. Ihre Augen sind nicht auf mich gerichtet, sondern auf Maven. Und in ihnen finde ich meine Antwort. Denn es steht Gier darin.

Für den Bruchteil einer Sekunde bekomme ich Mitleid mit dem Jungen, der allein auf seinem Thron sitzt. Doch dann spüre ich tief in mir das Aufkeimen von Hoffnung.

Oh, Maven. In welchem Schlamassel du steckst.

Die Frage ist nur, wer als Erster zuschlagen wird.

Die Scharlachrote Garde – oder diese Lords und Ladys, die darauf lauern, Maven die Kehle aufzuschlitzen und alles an sich zu raffen, wofür seine Mutter gestorben ist.

Sobald wir die Stufen des Whitefire-Palastes hinter uns gelassen haben und in der riesigen Eingangshalle stehen, reicht er meine Leine an einen der Arvens weiter. Seltsam. Er war so darauf fixiert, mich zurückzubekommen, mich in seinen Käfig zu sperren, aber jetzt wirft er meine Ketten weg, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Feigling, sage ich mir. Wenn es nicht um die Außenwirkung geht, kann er sich nicht überwinden, mich anzuschauen.

»Hast du Wort gehalten?«, frage ich atemlos. Meine Stimme krächzt, weil ich sie tagelang nicht benutzt habe. »Stehst du zu deinem Wort?«

Er antwortet nicht.

Der Rest des Hofs folgt uns in einer genau festgelegten Ordnung und Reihenfolge, die auf den komplizierten Feinheiten von Status und sozialem Rang basiert. Nur ich bin nicht an der richtigen Stelle, sondern die Erste nach dem König, nur wenige Schritte hinter ihm, wo eigentlich eine Königin gehen sollte. Von diesem Titel könnte ich jedoch nicht weiter entfernt sein.

Ich werfe einen Blick auf den größeren meiner beiden Gefängniswärter in der Hoffnung, an ihm Anzeichen für etwas jenseits blinder Loyalität zu finden. Er trägt eine kugelsichere weiße Uniform, deren Reißverschluss bis zum Kinn hochgezogen ist. Und glänzende Handschuhe. Nicht aus Seide, sondern aus Plastik – Gummi. Ich zucke zusammen bei diesem Anblick. Trotz ihrer Stiller-Fähigkeiten gehen die Arvens kein Risiko mit mir ein. Selbst wenn ich es irgendwie schaffen könnte, an ihrer Gabe vorbei einen Funken zu produzieren, werden die Handschuhe ihre Finger schützen und es ihnen erlauben, mich weiter gefangen, angekettet und eingesperrt zu halten. Der große Arven schaut nicht zu mir hin, sondern blickt mit geschürzten Lippen konzentriert geradeaus. Der andere macht genau dasselbe, während er in perfektem Gleichschritt mit seinem Bruder oder Cousin neben mir herschreitet. Ihre glänzenden kahlen Schädel erinnern mich an Lucas Samos. Meinen freundlichen Wächter, meinen Freund, der hingerichtet wurde, weil ich existiere und weil ich ihn für unsere Zwecke eingespannt habe. Ich hatte Glück, dass Cal damals einen so anständigen Silbernen zu meiner Bewachung abgestellt hat. Und mir wird klar, dass ich auch jetzt Glück habe. Wärter, mit denen mich nichts verbindet, kann ich leichter töten.

Denn sterben müssen sie. Irgendwie. Irgendwann. Wenn ich fliehen will, wenn ich meinen Blitz zurückgewinnen will, sind sie die Ersten, die mir im Weg stehen. Wer die anderen Hindernisse sind, ist leicht zu erraten: Mavens Königswächter, die anderen überall im Palast postierten Wachen und Offiziere, und natürlich Maven selbst. Ich werde diesen Ort nicht verlassen, ohne ihn umgebracht zu haben – es sei denn, er tötet mich zuerst.

Ich stelle mir vor, wie ich ihn töte. Wie ich meine Kette um seinen Hals lege und das Leben aus seinem Körper quetsche. Das hilft mir, den Umstand zu ignorieren, dass mich jeder Schritt tiefer ins Innere des Palastes führt, über weißen Marmor und an hohen, vergoldeten Mauern vorbei, unter einem Dutzend Kronleuchtern mit kristallenen Flammen hindurch. Der Palast strahlt dieselbe kalte Pracht aus, die ich in Erinnerung habe. Er ist ein Gefängnis mit goldenen Schlössern und diamantenen Gitterstäben. Wenigstens muss ich seine grausamste und gefährlichste Wärterin nicht mehr fürchten. Denn die alte Königin ist tot. Und doch überläuft mich bei dem Gedanken an sie, an Elara Merandus, noch immer ein Schauder. Ihr Schatten geistert durch meinen Kopf. Sie hat einst meine Erinnerungen durchwühlt. Jetzt ist sie eine von ihnen.

Eine Gestalt in Rüstung schiebt sich in mein Blickfeld. Sie gleitet an meinen Wärtern vorbei und pflanzt sich zwischen den König und mich. Sie hält Schritt mit uns, ist aufmerksam und vorsichtig wie ein Königswächter, auch wenn sie nicht deren Robe und Maske trägt. Vermutlich weiß der Mann, dass ich mit dem Gedanken spiele, Maven zu erdrosseln. Ich beiße mir auf die Lippen und wappne mich für die schmerzhafte Attacke eines Flüsterers.

Aber nein, er ist nicht aus dem Haus Merandus. Seine Rüstung ist schwarz wie Obsidian, seine Haut bleich wie der Mond, seine Haare sind silbern. Und seine Augen, als er über die Schulter zu mir hinblickt, sind leer und schwarz.

Ptolemus.

Blindlings stürze ich mich auf ihn, versuche meine Zähne in ihn zu schlagen. Mir ist alles egal, solange ich nur eine Spur hinterlasse. Ich frage mich, ob Silberblut anders schmeckt als das von Roten.

Aber eine Antwort bekomme ich nicht.

Mein Halsband reißt mich nach hinten und zerrt so heftig an mir, dass mein Rücken sich verbiegt und es mir fast das Genick bricht. Ich falle und mein Schädel knallt so hart auf den Marmor, dass sich mir alles dreht. Aber das hält mich nicht am Boden. Ich rapple mich hoch, sehe nur noch die gepanzerten Beine von Ptolemus, der sich zu mir umdreht. Wieder stürze ich mich auf ihn, und wieder werde ich an meinem Halsband zurückgezogen.

»Genug jetzt«, zischt Maven.

Er ist stehen geblieben und verfolgt meine erbärmlichen Versuche, es Ptolemus heimzuzahlen. Der Rest der Prozession hat ebenfalls angehalten, und viele drängen nach vorn, um den aussichtslosen Kampf der irren Roten zu verfolgen.

Mein Halsband scheint enger zu werden, und ich greife mir würgend an die Kehle.

Maven hält den Blick auf das zusammenschrumpfende Metall gerichtet. »Ich sagte, genug jetzt, Evangelina.«

Trotz meiner Schmerzen drehe ich mich um und sehe sie hinter mir stehen. Mit geballter Faust starrt sie, wie er, auf mein Halsband. Es pulsiert, während es sich bewegt. Das muss der Rhythmus ihres Herzschlags sein.

»Erlaubt mir, sie loszumachen«, sagt sie und ich glaube, mich verhört zu haben. »Erlaubt mir, sie loszumachen, gleich jetzt und hier. Und schickt ihre Wärter weg, damit ich sie mitsamt ihrem Blitz auslöschen kann.«

Ich fauche sie an, wie das Tier, für das sie mich alle halten. »Versuchs doch mal«, sage ich zu ihr und wünsche mir von ganzem Herzen, dass Maven sie gewähren lässt. Trotz meiner Verletzungen, der Tage in der Gewalt der Stiller und der vielen Jahre des Trainings, die mir die Magnetor-Prinzessin voraus hat, will ich diesen Kampf. Ich habe sie schon mal geschlagen. Ich kann es wieder schaffen. Das ist wenigstens eine Chance. Eine bessere wird es kaum geben.

Mavens Blick fliegt von meinem Halsband zu seiner Verlobten, seine Miene versteinert und verfinstert sich. Er hat so viel von seiner Mutter in sich. »Möchten Sie die Befehle Ihres Königs infrage stellen, Lady Evangelina?«

Ihre Zähne blitzen zwischen ihren violett angemalten Lippen hervor. Der Schleier ihres vornehmen Getues droht zu fallen, aber bevor sie irgendetwas wahrhaft Vernichtendes sagen kann, bewegt ihr Vater sich ganz leicht, sodass sein Arm ihren streift. Seine Botschaft ist klar: Füge dich.

»Nein«, knurrt sie, meint aber Ja. Sie neigt ihr Haupt. »Eure Majestät.«

Mein Halsband lockert sich und nimmt seine alte Form an. Vielleicht ist es sogar ein bisschen weiter als zuvor. Glücklicherweise ist Evangelina nicht so perfektionistisch, wie sie sich gern den Anschein gibt.

»Mare Barrow ist eine Gefangene der Krone, und die Krone wird mit ihr verfahren, wie es ihr beliebt«, sagt Maven so laut, dass auch die es hören, die hinter seiner unberechenbaren Braut stehen. Mit einem Blick über seinen Hof stellt er klar: »Der Tod ist zu gut für sie.«

Durch die Menge der Adligen geht ein Raunen. Ich höre leisen Widerspruch, aber noch mehr Zustimmung. Seltsam. Ich hätte gedacht, dass sie alle mich gern auf die grausamste Art hingerichtet sähen – aufgehängt, um als Nahrung für die Geier zu dienen, um mit meinem Blut alles auszulöschen, was die Scharlachrote Garde bislang geschafft hat. Aber vermutlich wünschen sie mir noch Schlimmeres an den Hals.

Noch Schlimmeres.

Diese Formulierung hat Jon vor einigen Wochen gebraucht, als er in meine Zukunft geblickt hat. Er wusste, wohin mein Weg führte. Er wusste, dass das hier passieren würde, und hat es dem König erzählt. Hat sich mit dem Leben meines Bruders und mit meiner Freiheit einen Platz an Mavens Seite erkauft.

Ich suche und finde Jon in der Menschenmenge; die anderen halten einen deutlichen Abstand zu ihm. Seine Augen sind rot, sein Blick zornig, seine vor der Zeit ergrauten Haare hat er zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein weiteres Neublüter-Spielzeug für Maven Calore, nur trägt dieses keine sichtbaren Fesseln. Weil Jon Maven geholfen hat, unsere Mission zu stoppen, bevor sie überhaupt begonnen hat. Wir wollten eine Legion von Kindern retten. Doch Jon hat Maven von unseren Plänen und von unserer Zukunft erzählt. Er hat mich dem jungen König als Geschenk dargebracht. Und uns alle verraten.

Jon starrt natürlich schon zu mir hin. Ich erwarte keine Entschuldigung für das, was er getan hat, und ich bekomme auch keine.

»Wie wäre es mit einem Verhör?«

Diesen Vorschlag macht jemand links von mir, dessen Stimme ich nicht kenne. Sein Gesicht dagegen schon.

Samson Merandus. Ein Arenakämpfer, ein brutaler Flüsterer, ein Cousin der toten Königin. Ich zucke unwillkürlich zusammen, als er sich einen Weg zu mir bahnt. In einem anderen Leben habe ich mit angesehen, wie er seinen Gegner in der Arena dazu zwang, sich selbst zu erstechen. Kilorn saß damals jubelnd und grölend neben mir, die letzten Stunden seiner Freiheit genießend. Dann starb sein Meister und unsere Welt wurde komplett auf den Kopf gestellt. Unsere Wege änderten sich. Und jetzt liege ich frierend und blutend zu Füßen eines Königs auf makellosem Marmorfußboden, weniger wert als ein Hund.

»Ist sie zu gut für ein Verhör, Eure Majestät?«, fährt Samson fort und zeigt mit seiner weißen Hand auf mich. Dann packt er mein Kinn und zwingt mich aufzublicken. Ich unterdrücke das Bedürfnis, ihn zu beißen, um Evangelina nicht erneut einen Grund zu geben, mich zu würgen. »Bedenkt, was sie alles gesehen hat. Was sie weiß. Sie ist ihre Anführerin – und der Schlüssel, um hinter das Geheimnis ihrer unseligen Meute zu kommen.«

Er hat unrecht, aber dennoch bekomme ich Herzrasen. Ich weiß genug, um großen Schaden anrichten zu können. Sofort blitzt Tuck vor meinen Augen auf, der Oberst und auch die Zwillinge aus Montfort. Die Infiltration der Legionen. Die Städte. Die Pfeifer überall im Land, die jetzt Flüchtlinge in Sicherheit bringen. Wertvolle, gut gehütete Geheimnisse, die schon bald enthüllt werden könnten. Wie viele werden durch mein Wissen in Gefahr gebracht? Wie viele werden sterben, wenn er mich zwingt, all diese Informationen preiszugeben?

Und das sind nur die militärischen Informationen. Noch schlimmer sind die dunklen Regionen meines eigenen Kopfes. Die Ecken, in denen ich meine schlimmsten Dämonen aufbewahre. Maven ist einer von ihnen. Der Prinz, wie ich ihn kannte und liebte und von dem ich wünschte, er wäre real. Und dann ist da noch Cal. Das, was ich getan habe, um ihn zu halten; das, was ich ignoriert habe, und die Lügen, die ich mir, seine Loyalität betreffend, selbst erzähle. Meine Schande und meine Fehler. Ich darf nicht zulassen, dass Samson – oder Maven – all das in mir findet.

Bitte nicht, möchte ich betteln. Meine Lippen bewegen sich nicht. Sosehr ich Maven auch hasse, sosehr ich ihn leiden sehen möchte – ich weiß, dass er die beste Chance ist, die ich habe. Doch wenn ich ihn vor seinen stärksten Verbündeten und seinen schlimmsten Feinden um Gnade anflehe, wird das den ohnehin schon schwachen König nur noch weiter schwächen. Also bleibe ich stumm, versuche Samsons Hand an meinem Kinn zu ignorieren und konzentriere mich ganz auf Mavens Gesicht.

Unsere Blicke begegnen sich für den längsten und den kürzesten Moment.

»Sie kennen Ihre Befehle«, sagt er knapp und nickt meinen Wärtern zu.

Sie packen mich entschlossen, aber nicht brutal, ziehen mich vom Boden hoch und führen mich mithilfe ihrer Hände und der Ketten aus der Menge heraus. Ich lasse sie alle hinter mir. Evangelina, Ptolemus, Samson und Maven.

Er dreht sich auf dem Absatz um und geht in die entgegengesetzte Richtung, auf das Einzige zu, was ihm geblieben ist, um sich zu wärmen.

Einen Thron aus erstarrten Flammen.