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Markus Hengstschläger

Die Lösungsbegabung

GENE SIND NUR UNSER WERKZEUG. DIE NUSS KNACKEN WIR SELBST!

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Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

1. Auflage

© 2020 Ecowin Verlag bei Benevento Publishing Salzburg – München, eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Gesetzt aus der Palatino, Cera Compact Pro

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

Umschlaggestaltung: kratkys.net

Lektorat: Maria-Christine Leitgeb

ISBN 978-3-7110-0279-2

eISBN 978-3-8974-1937-7

Für Elke

Um die Lesbarkeit des Buches zu verbessern, wurde darauf verzichtet, neben der männlichen auch die weibliche Form anzuführen, die gedanklich selbstverständlich immer miteinzubeziehen ist.

Inhalt

Vorwort – gegen die Mitmachkrise

WAS WIR WOLLEN – die Wünsche des Menschen an die Zukunft

Erfolg im Wandel der Zeit

Für die Zukunft Neues erschaffen

Sich für das Vorhersehbare und für das Unvorhersehbare rüsten

WAS WISSENSCHAFT (NICHT) KANN – vom ungerichteten zum gerichteten Menschen?

Die Verbesserung des Menschen?

Ein neuer Mensch durch Genoptimierung?

Der Mensch und die digitale Revolution

WAS DER MENSCH (NICHT) IST – Gene und Umwelt

Der lösungsbegabte, innovative Mensch

Der denkende Mensch

Der soziale Mensch

Der mutige Mensch

WAS ES BRAUCHT – Gegenwartskompetenz

Die richtige Mischung

Die nachhaltige Förderung von Mut

Gerichtete und ungerichtete Strategien

Die beflügelnde Wechselwirkung

Die Chance des Unvorhersehbaren

Die Zukunft der Gegenwart

WO ES ETWAS BRAUCHT – im Namen der Lösungsbegabung

Die Vielfalt von Wissen und Bildung

Talent- und Personalmanagement neu gedacht

Forschung mit fließenden Übergängen

Gesellschaft und Politik

Das alte und das neue Arbeiten

Die Renaissance des Sich-Einbringens

Exkurs

Danksagung

Literatur

Vorwort – gegen die Mitmachkrise

»Es ist nicht wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist viel Zeit, die wir nicht nutzen
(Seneca)

Große Herausforderungen unserer Zeit wie zum Beispiel der Klimawandel, der Einfluss disruptiver Technologien auf unser Leben im digitalen Wandel, Terrorismus, die Gefahr eines Atomkrieges oder die Flüchtlingskrise erinnern ganz augenscheinlich und täglich daran, wie dringend neue kreative Ideen und innovative Konzepte auf allen Ebenen gebraucht werden. Donald Trump ist wahrlich nicht das einzige, aber ein sehr präsentes Beispiel dafür, welche Gefahren gegenwärtig von politischem Populismus ausgehen. Anlässlich des Todes des Afroamerikaners Georg Floyd empörte sich die Welt vollkommen zu Recht wieder einmal darüber, dass Rassismus den Menschen auf diesem Planeten einfach schon zu lange begleitet. Und schließlich meldete sich noch ein anderer bekannter Begleiter der Menschheit wieder einmal zu Wort – eine Pandemie. Das SARS-CoV-2-Virus machte klar, wie unverzichtbar es ist, globale aktuelle Probleme anzugehen, zeigte aber auch, wie wichtig es plötzlich sein kann, kleine, vielleicht unter anderen Umständen banal wirkende Probleme lösen zu können.

Mit dem Blick auf all die vielen neuen und alten Herausforderungen manifestiert sich das Bewusstsein darüber, dass es nun einmal vorhersehbarere und unvorhersehbarere Anteile der Zukunft – mit allen Übergängen dazwischen – gibt. Die COVID-19-Pandemie ist ein Beispiel dafür, dass das, womit sich der Mensch auseinandersetzen muss, wofür Lösungen gebraucht werden, nicht immer einfach in zwei Zukünfte, eine vorhersehbare und eine unvorhersehbare, unterteilt werden kann. So klar es ist, dass Pandemien immer wieder kommen können, so unvorhersehbar ist es, welcher Erreger wann, wie und mit welchem Ausmaß die Welt heimsuchen wird. Für so manche bereits gut bekannte Herausforderungen der Menschheit ist es schon fünf vor zwölf. Und es kommen aber mit Sicherheit demnächst andere, heute noch gar nicht bekannte Problemstellungen dazu. Konsequenterweise ergibt sich die Frage, ob die Zukunft heute vorhersehbarer ist, als sie das früher einmal war, oder ob sie weniger vorhersehbar geworden ist. Wird die Zukunft in Zeiten digitaler Revolution und Industrie 4.0, durch globale Vernetzung, nahezu uneingeschränkte Daten- und Informationsverfügbarkeit, Big Data, Predictive Analytics, das Auswerten digitaler Fußabdrücke in sozialen Netzwerken, Internet of Things und künstliche Intelligenz immer kalkulierbarer? Oder zeigen uns überraschende Wahlergebnisse, exzentrische Politikerpersönlichkeiten, Finanzkrisen, gesellschaftliche Transformationsprozesse, Fukushima, 9/11, durch Klimawandel ausgelöste, extreme Wetterereignisse oder Virus-Pandemien immer öfter, wie VUKA (volatil, unsicher, komplex und ambivalent) die Welt geworden ist? Die einen argumentieren, dass in unserer heutigen digitalisierten Datenwelt der einzelne Mensch, Kommunen, Staaten und Unternehmen so transparent, durchschaubar und »gläsern« sind wie noch nie in der Geschichte unseres Planeten. Die anderen wiederum sprechen schon immer öfter vom völligen Verlust der Vorhersehbarkeit.

Globale Einigkeit scheint aber darüber zu bestehen, dass Ausmaß und Geschwindigkeit der Veränderung enorm zugenommen haben. Das Ende der Linearität, exponentieller Wandel und permanent zunehmende Beschleunigung scheinen dazu zu führen, dass jeder täglich immer mehr vorhersehbare Dinge zu erledigen hat, aber sich auch immer öfter und immer mehr mit unvorhergesehenen Entwicklungen und Ereignissen konfrontiert sieht. Es scheint fast so, als würden in unserer schnelllebigen Welt sowohl vorhersehbare als auch unbekannte Fragestellungen immer öfter und immer schneller in unserem privaten und beruflichen Alltag aufschlagen. Das schafft für die Zukunft der Gegenwart natürlich Chancen, schürt aber auch Ängste.

Wir haben so viel erreicht! Die Welt ist so viel besser geworden! Ja, es gibt noch sehr viele ungelöste Probleme, und es kommen, oft vom Menschen selbst verschuldet, auch stetig neue dazu. Wir müssen also dranbleiben. In Anbetracht der vielen über die Medien permanent zeitgleich in jedes Wohnzimmer transportierten, globalen und lokalen Problemstellungen darf es aber nicht verwundern, dass Menschen sich und ihren Talenten immer öfter die Lösungen dafür nicht mehr zutrauen. Und unweigerlich taucht die Frage auf: »Was würde mein Beitrag schon daran ändern?« Dann nehmen politischer Frust, die Ablehnung jeglicher Andersdenkender, die Flucht in eine ausschließlich anonymisierte Beteiligung, psychische Überbelastungssyndrome und Ängste aller Art logischerweise zu. Und schon steckt man in der Mitmachkrise. Irgendwie scheint die weithin bekannte und kontinuierlich erfahrbare Tatsache, dass das Unergründbare dem Menschen mehr Angst macht als das Vorhersehbare, ja auch nachvollziehbar. Auf vorhersagbare Trends und Ereignisse kann man sich einstellen, man kann sich gerichtet auf die Fragen, die sich dabei ergeben, vorbereiten und dann die daraus abgeleiteten Leitlinien immer wieder bei solchen oder ähnlichen Situationen zum Einsatz bringen. Die Auffassung, das Unvorhersehbare entziehe sich vollkommen der Planbarkeit und man könne sich darauf nicht vorbereiten, hat sich aber ohne großen Widerspruch mehr oder weniger schleichend in die Liste der Begründungen für Untätigkeit eingereiht. Innere Widerstände gegen die Beschäftigung mit der Unvorhersehbarkeit, mit dem Unbekannten, basieren in Wirklichkeit oft auf einer übertriebenen Angst vor Kontrollverlust. Hier gilt es für das an sich vernunftbegabte Wesen Mensch, ein Konzept bereitzustellen, seine genetisch mitbestimmten evolutiv Jahrtausende alten Ängste zu überwinden. Die Vernunft weiß bereits, dass viele dieser instinktiven Ängste in unserer Zeit nicht nur ihren Nutzen verloren haben, sondern uns immer öfter einfach nur im Weg stehen. Aber für das tief verwurzelte, verinnerlichte Gefühl der Angst braucht es genauso wirkungsvolle Gegenmittel wie etwa für das Gefühl der Hilflosigkeit.

Natürlich spielen Gene bei der Entstehung von Gefühlen und dem Verhalten eine Rolle. Aber der Mensch ist bei all diesen Aspekten nicht auf seine Gene reduzierbar. Er ist das Produkt der Wechselwirkung von Genetik und Umwelt. Und die aktuellen Forschungsergebnisse auf dem Gebiet der Epigenetik, die die Brücke zwischen sozialen und biologischen Effekten schlägt, weisen darauf hin, dass der Mensch sein Leben und sein Verhalten, und gewissermaßen auch das seiner Nachkommen, noch mehr als früher angenommen, selbst in der Hand hat. Es ist richtig, dass die wissenschaftlichen Entwicklungen, die technologischen Möglichkeiten zur Veränderung von Genen betreffend, in den letzten Jahren große Schritte gemacht haben. Aber die Utopie, dass sehr bald durch Genoptimierung ein immer glücklicherer und viel leistungsstärkerer Mensch kreiert werden kann, der Lösungen für alle Probleme der Menschheit aus dem Ärmel schütteln wird, entbehrt zum aktuellen Stand der Forschung jeglicher ernsthaften wissenschaftlichen Grundlage. Wir müssen also wirklich dranbleiben. Aber wir können es ja auch.

»Ich kann, weil ich will, was ich muss
(Immanuel Kant)

Ob im Kleinen oder im Großen, für die Lösung eines ganz bestimmten Problems bedarf es zuerst einmal des Erwerbes des dafür entsprechenden Wissens und des Aneignens der dafür spezifisch relevanten Kompetenzen. Das allein führt aber noch nicht zu einer neuen Idee oder einer kreativen Lösung. Dafür muss der wissende Mensch neue Wege beschreiten, motiviert Extra Miles gehen und schließlich auch entsprechend handeln. Die Voraussetzungen dafür entstehen allerdings immer nur dann, wenn das wichtigste angeborene und genetisch mitbestimmte Potenzial des Menschen – seine Lösungsbegabung – entwickelt und laufend abgerufen werden kann. Lösungsbegabung setzt sich aus vielen, auch genetischen Komponenten zusammen, die nichts wert sind, wenn wir sie nicht durch die entsprechende Umwelt zur Entfaltung bringen und im Team anwenden. Der Mensch ist einerseits das wohl lösungsbegabteste Wesen des Planeten und andererseits die alternativlose Chance auf dem Weg in eine erfolgreiche, humane, lebensbejahende Zukunft. Wie kann es also gelingen, bei uns und unseren Kindern das zum Erblühen zu bringen, was die Menschheit im Innersten zusammenhält: das mutige, kreative und kooperative Sich-Einbringen jedes Einzelnen?

Für das uneingeschränkte Erblühen der Lösungsbegabung braucht es in Zukunft eine neue Gegenwart. Es braucht eine neue duale Gegenwartskompetenz mit der Bereitschaft, sich permanent gleichzeitig mit bereits voraussagbaren, aber auch mit noch unvorhersehbaren zukünftigen Fragestellungen zu beschäftigen. Sowohl gerichtete, also fokussierte, orientierte, zielstrebige Strategien als auch ungerichtete, also flexible, ergebnisoffene Strategien sollen dabei laufend parallel zur Anwendung kommen. Das richtige Mischungsverhältnis dieser beiden Vorgehensweisen immerzu an sich ändernden Rahmenbedingungen zu reiben und dadurch zu optimieren, ist eine unverzichtbare Komponente einer von individuellem mutigem Einsatz geprägten, zukunftsorientierten Gegenwart. Erst aus der Umsetzung solch eines dualen Ansatzes entstehen die fünf Fundamente für die Entfaltung der Lösungsbegabung: 1) Mut aus Sicherheit, 2) die gegenseitig beflügelnde Wechselwirkung der Instrumente gerichteter und ungerichteter Strategien, 3) das Fördern von Schnittstellen zwischen verschiedenen Disziplinen und Kulturen, 4) ein gesteigerter Kreativitätsprozess und 5) das Aufrechterhalten der Chancen für Serendipität, also auch etwas finden zu können, was man nicht gesucht hat. Solch ein Konzept soll Einzug halten in der Bildung, im Talent- und Personalmanagement, in Wissenschaft und Forschung, der Politik, der Arbeitswelt und unserem Privatleben. Das Ziel ist, dass jeder Einzelne seine Lösungsbegabung entfalten kann und sich damit kooperativ für Lösungen aktueller Problemstellungen einbringen kann.

1)Es braucht Mut, sich durch gerichtete Konzeptplanung auf zwar vorhersagbare, aber eben noch nicht gelöste Fragen der Zukunft vorzubereiten. Und es braucht noch viel mehr Mut, sich auf das Unbekannte vorzubereiten. Wenn ich weiß, was kommt, bereite ich mich gewissenhaft und zielgerichtet darauf vor, um dadurch eine sehr wahrscheinliche und realistische Chance auf Erfolg zu nutzen. Das schafft Sicherheit und dadurch gleichzeitig die Basis für den Mut und die Risikobereitschaft, auch den bisher bewährten Weg immer wieder einmal in andere Richtungen zu verlassen. Für das Unvorhersehbare muss ich in der Gegenwart durch höchstmögliche Individualität, Flexibilität und Diversität Konzepte und Strategien entwickeln und bereithalten, um auch Antworten auf Fragen zu ermöglichen, die ich heute noch gar nicht kenne. Man kann und soll sich für beides rüsten, um beides zu gestalten. Und das sollte man immer machen und immer jetzt machen.

2)Es gibt kein noch so bewährtes Handeln, das nicht auch noch verbesserbar ist. Es gibt keine noch so sichere Strategie, die nicht noch inkrementell optimierbar ist. Wenn man parallel immer wieder ungerichtete Strategien, vielleicht sogar mit der Hoffnung auf radikale Ansätze, verfolgt, können die dabei entstandenen Erfahrungen, die dabei gefundenen Lösungen und die dabei gemachten Fehler unglaublich befruchtend für den »bisher so erfolgreichen Lebensweg« und »das noch so bewährte Handeln« sein. »Es war schon immer so« und »So hat es immer funktioniert« heißt nicht, dass sich die Zeiten nicht ändern können oder dass es nicht noch besser geht. Umgekehrt bilden all das Wissen, all die Erfahrungen und all das Können aus den Kernbereichen der sicheren bewährten Strategien einen mächtigen Pool an (Human-)Ressourcen, Netzwerken und Handwerkszeug, um die Erfolgswahrscheinlichkeit neuer, vielleicht riskanterer Strategien zu beflügeln.

3)Die der menschlichen Natur grundsätzlich innewohnende Neugier auf andere Disziplinen beziehungsweise Kulturen soll stimuliert werden. Berührungsängste gegenüber anderen gilt es zu schmälern. Auch hierbei müssen dem wissenden Menschen unbedingt entsprechende Erfahrungen als Basis für sein zukünftiges Handeln ermöglicht werden. Schließlich bergen Ideen, die an den Schnittstellen zwischen verschiedenen Fachgebieten und Kulturen geboren werden, höchstes Potenzial dafür, neue Lösungen und Innovationen zu initiieren. Genau solche Ideen entstehen gern dann, wenn man in seiner eigenen Disziplin mutig gerichtet und ungerichtet gestaltet und sich gleichzeitig auch mit anderen Fachbereichen, Ansichten und Herangehensweisen beschäftigt, um zu lernen und um sich zu rüsten.

4)Auch ein kreativer Prozess entspringt der Wechselwirkung zwischen Genen und Umwelt. Er ist die Quelle für neue Problemlösungsansätze mit bisher nicht bedachten Mitteln. Um etwas Neues zu erschaffen, muss unterschiedliches Wissen miteinander verknüpft werden, beziehungsweise müssen bereits bestehende Lösungsansätze in anderen Zusammenhängen gedacht und schließlich angewendet werden. Das Erarbeiten solcher Neukombinationen beziehungsweise bisher noch nicht erkannter Verflechtungen setzt einerseits den Zugang zu verschiedenen Eindrücken, Informationen, Erfahrungsschätzen und Lösungskonzepten voraus und baut andererseits auf der Bereitschaft, der Motivation, der Flexibilität und auch dem Mut auf, solche neuen Zusammenhänge zu denken. Kreative Ansätze folgen einem dialektischen Prinzip, das im Wechselspiel zwischen Bekanntem und Unbekanntem, zwischen Wissen und Fantasieren, zwischen diszipliniertem Denken und Experimentierfreude, zwischen Struktur und Freiraum, zwischen der eigenen Kernkompetenz und einem Out-of-the-box-Denken erblüht. Das Hin- und Hergehen zwischen gerichteten und ungerichteten Strategien macht aus den Menschen Querdenker, steigert die Möglichkeiten für Inspirationen und fördert kreative Prozesse.

5)Um sich immer wieder einzubringen, bedarf es lebenslanger kontinuierlicher Bereitschaft, dazuzulernen und auszuprobieren. Das Erschaffen von neuen Lösungsansätzen ist kein einmaliges Ereignis, sondern eine immerzu fortlaufende Entwicklung. Gegenwart ist kein Event, sondern ein Prozess. Dafür muss sich jeder Einzelne auf den Weg machen, immer weitergehen und mit offenen Augen und Ohren wachsam bleiben, um Chancen und neue Lösungen erkennen zu können, wenn sie sich bieten. Wer im Heute konsequent in Bewegung ist, kann in Zukunft Dinge finden, die er nie gesucht hat.

Der 2017 verstorbene Gesundheitsstatistiker Hans Rosling bezeichnet in seinem letzten Buch Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist mit Possibilisten Menschen, die weder unbegründeten Hoffnungen anhängen noch sich durch unbegründete Befürchtungen ängstigen lassen, Menschen also, die sich konstant der überdramatischen Weltsicht widersetzen. Hans Rosling sagte über sich selbst: »I’m a very serious ›possibilist‹«. Machen wir doch uns und den nächsten Generationen das Angebot, Ermöglicher zu werden durch die Förderung des gegenwartskompetenten Einsatzes des wichtigsten Potenzials des Menschen – der Lösungsbegabung. Nach einem Vortrag kam einmal eine Zuhörerin zu mir und sagte: »Der Mensch hat doch eigentlich gar keine Ausreden – er muss für die Probleme unserer Zeit einfach Lösungen entwickeln!« Ich habe nicht widersprochen.

Markus Hengstschläger, Hinterbrühl, Kitzbühel, 2020

WAS WIR WOLLEN – die Wünsche des Menschen an die Zukunft

Erfolg im Wandel der Zeit

Man könnte argumentieren, dass man auf persönlicher Ebene dann Erfolg hat, wenn man die Ziele erreicht, die man sich selbst gesetzt hat. Und auch unternehmerisches Handeln könnte dann als erfolgreich gelten, wenn man die Unternehmensziele erwirtschaftet. Das ist selbstverständlich plausibel, wirft aber eine Reihe von Fragen auf. Wenn man sich in der Gegenwart Ziele setzt, die man dann in der Zukunft eben vielleicht auch erreicht, so setzt das voraus, dass man schon viel über die Zukunft beziehungsweise über das in Zukunft möglicherweise Erreichbare weiß beziehungsweise gewusst hat. Es ist zweifelsohne ausgesprochen wichtig und richtig, sich für die bereits bekannten Anteile der Zukunft Ziele zu setzen und auch Strategien zu entwickeln, die es nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich machen, dann auch erfolgreich zu sein. Der Begriff »erfolgreich« sollte aber aus drei Gründen weiter gefasst werden. Erstens hängen die gesetzten Ziele davon ab, womit man sich betreffend das Ergebnis seiner Bemühungen zufriedengibt. Und was, wenn man sich die Latte einfach zu niedrig legt? Zweitens könnte es sein, dass gesetzte Ziele bei genauerer Betrachtung in der Zukunft nicht den Wert haben, den man ihnen in der Gegenwart noch gibt. Hierbei bestehen außerdem auch große Unterschiede zwischen den Generationen. Ein hohes Einkommen, das Besitzen eines tollen Hauses, das Fahren eines exklusiven Autos, viele Follower (ob influenced oder nicht) oder das Erreichen eines hohen Betriebsergebnisses – all die Earnings before interest and taxes (EBIT) – werden von manchen mehr, von anderen weniger als Statussymbole gesehen. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Frage, ob sie noch als repräsentativ für erbrachte Leistungen gesehen werden. Sie sind aber sicher nicht immer und automatisch das Resultat »erfolgreichen« – im Sinne von »wertvollen« – Handelns. Und noch viel wichtiger: Sie verändern die Welt auch nicht notwendigerweise zum Besseren. Drittens sind viele individuelle Leistungen, viele große Errungenschaften und Innovationen in der Menschheitsgeschichte nicht das Resultat eines Planes mit gesetzten Zielen gewesen. Vor allem deshalb nicht, weil sie in der Gegenwart noch vollkommen unvorhersehbar gewesen sind. Gesetzte, konkrete Ziele sind meist nur Lösungen für bereits bekannte Probleme, aber tragen oft sehr wenig zur Bewältigung von Aufgaben bei, die wir heute noch gar nicht kennen.

Grundsätzlich wird Erfolg sehr individuell gesehen und folglich auch nicht einheitlich bewertet. Was für den einen schon erfolgreich ist, ist für den anderen Standard oder gar nicht von Interesse. Der Erfolg wird außerdem oft mehr an der Reaktion der sozialen Umgebung gemessen. Und das, obwohl die Ausgangsbasis doch eigentlich sehr ähnlich sein müsste. Die Beschreibung der Bedürfnisse und Motivationen des Menschen, nach der vom amerikanischen Psychologen Abraham Maslow entworfenen Bedürfnispyramide, könnte einmal als erster Ansatzpunkt genommen werden. Die fünf Ebenen mit all ihren fließenden Übergängen reichen von den Grundbedürfnissen (Ernährung, Atmung, Schlaf, Fortpflanzung etc.) über Sicherheitsbedürfnisse (Gesundheit, körperliche, seelische und materielle Sicherheit, Arbeit, Wohnung, Familie etc.), soziale Bedürfnisse (Liebe, Gruppenzugehörigkeit, Kommunikation etc.), Individualbedürfnisse (Erfolg, Unabhängigkeit, Freiheit, Ansehen, Wertschätzung etc.) bis hin zu den individuellsten Bedürfnissen nach Selbstverwirklichung (seine Kreativität, seine Talente und Potenziale ausschöpfen zu können, Persönlichkeitsentwicklung, seinem Leben einen Sinn zu geben).

Die ersten vier sind Defizitbedürfnisse, die, wenn man sie nicht oder nur sehr eingeschränkt erfüllen kann, zu physischen oder psychischen Störungen führen. Und obwohl das auch für die Wachstumsbedürfnisse der Selbstverwirklichung zutrifft, können diese nie wirklich vollständig befriedigt werden. Maslow hat dieses Modell später noch erweitert und ist davon ausgegangen, dass die Befriedigung all dieser Bedürfnisse, und im Besonderen der Selbstverwirklichung, nur schwer und nicht von allen Menschen erreichbar sind. Am Rande sei erwähnt, dass auch eine maslowsche Bedürfnispyramide für den digitalen Wandel vorgeschlagen wurde, um die Werte zu beschreiben, die eine Welt der Interaktion von Menschen und Maschine auch im Zusammenhang mit dem Design digitaler Technologien prägen sollen (Spiekermann: Ethical IT Innovation, 2016). Einerseits findet man in der maslowschen Hierarchie den Begriff »Erfolg« unter den Individualbedürfnissen, gemeinsam mit dem Wunsch nach Wertschätzung, Prestige oder Ansehen. Ökonomischer Erfolg, das Haus, das Auto etc., wird oft deshalb angestrebt, weil sie dem Menschen zu Status, Anerkennung und Bewunderung verhelfen. Andererseits muss man aber auch die Frage stellen, ob nicht unter bestimmten Umständen, unter bestimmten Lebensbedingungen und Voraussetzungen das Stillen von Grund- und Sicherheitsbedürfnissen schon als erfolgreiches Leben angesehen werden muss, so bedauerlich das auch ist. Und noch viel bedauerlicher ist schließlich, dass die Erfüllung vieler, vor allem so wichtiger Bedürfnisse wie zum Beispiel Ernährung, Gesundheit oder Sicherheit immer noch viel zu oft nicht in den Händen des Individuums liegen. Jeder soll für sich selbst entscheiden, was sein gutes Leben ausmacht! Wie viel Arbeit in der Gegenwart und in der Zukunft liegt noch vor uns, um das Ziel zu erreichen, in einer so »gerechten« Welt leben zu können, in der dieser Appell endlich seine Naivität verliert?

Selbst Hans Rosling, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Menschen zu zeigen, wie sehr sich die Welt auch beim Befriedigen von Grund- und Sicherheitsbedürfnissen verbessert hat, hat stets zusätzlich darauf hingewiesen, dass noch sehr viel Luft nach oben ist (Rosling: Factfulness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, 2018). Bilder von hungernden Menschen, vom Bürgerkrieg in Syrien, vom Elend in Flüchtlingslagern oder auch von mit COVID-19-Erkrankten überfüllten Intensivstationen schüren zumindest für unsere Gegenwart noch den einen oder anderen Zweifel am Ausgangspunkt für die Homo-Deus-These. Yuval Noah Harari argumentiert, dass, nachdem Hunger, Kriege und Seuchen für die meisten Menschen ihre Bedeutung verloren haben, die nächsten Erfolgsebenen, die der Homo sapiens auf dem Weg zum Homo deus anstrebt, Unsterblichkeit und ewiges Glück sind (Harari: Homo Deus: A Brief History of Tomorrow, 2016). Auch wenn es vollkommen verständlich ist, dass in Zeiten einer Corona-Krise auch ge- und verzweifelt wird, so bleibt es doch ein Faktum, dass im Vergleich zu den letzten Jahrhunderten die Konsequenzen von Seuchen wie auch von Krieg und Hunger weltweit verhältnismäßig eingedämmt werden konnten. Und selbst, wenn im Speziellen im Silicon Valley unglaublich viel Geld in die entsprechende Forschung gepumpt wird, so ist es doch wissenschaftlich aktuell unumstritten, dass die Unsterblichkeit des Homo sapiens noch in keiner Weise unmittelbar vor der Tür steht.

»Aber wie steht es mit dem ewigen Glück, dem Glücklichsein? Vorausgesetzt, die grundlegendsten Bedürfnisse können gestillt werden, scheint gerade das Führen eines glücklichen Lebens immer öfter als Erfolgsparameter Nummer eins angesehen zu werden. Wer es schafft, ein glückliches Leben zu führen, hat es geschafft. Aber was ist das – ein glückliches Leben? Der emotionale Zustand der Deutschen zum Beispiel lässt sich wahrscheinlich mit Zufriedenheit auf hohem Niveau beschreiben. Selbst in Zeiten der Euro-Finanzkrise, der Euro-Schuldenkrise oder auch der polarisierenden Zuwanderungsdebatte nahmen die Lebenszufriedenheit und das gesamtdeutsche Glücksniveau zu. Ob nun das Glück im Augenblick oder das Glück, das man empfindet, wenn man sagt, sein Leben könne so wie jetzt eigentlich weiterlaufen, es ist stets von vielen Einflussfaktoren abhängig. Gern werden als die wichtigsten dafür Geld, Gesundheit, Gemeinschaft und genetische Disposition (angeborene Persönlichkeitsmerkmale) angegeben (Schlinkert, Raffelhüschen: Deutsche Post Glücksatlas, 2018).«

Nicht nur im Wandel der Zeit, sondern auch im Lauf eines Lebens ändert sich die Lebenszufriedenheit (Frey, Frey Marti, Glück: die Sicht der Ökonomie, 2010). Was man gern als die U-Kurve des Glückes bezeichnet, beschreibt, dass die Lebenszufriedenheit, ob bei Frauen oder Männern, in der Jugend hoch ist, Mitte 40 auf einen Tiefpunkt sinkt und dann wieder steigt. Der kanadische Psychoanalytiker Elliott Jaques hat den Begriff »Midlife-Crisis« geprägt. Kieran Setiya, Professor für Philosophie am Massachusetts Institute of Technology (MIT), vermutet hinter der »Mid-Career-Crisis« das Schwinden der Wahlmöglichkeiten, die Tyrannei der Projekte, die eines nach dem anderen abgeschlossen und durch neue ersetzt werden, das Fokussieren auf das Beheben von Problemen, anstatt Projekten von existenziellem Wert nachzugehen, und letztendlich auch das Wissen, dass ein kompletter Bruch mit dem Bestehenden zwar gut, aber nicht machbar sein könnte. »Die Zufriedenheit liegt immer entweder in der Zukunft oder in der Vergangenheit; kein Wunder, dass sich die Gegenwart leer anfühlt. Und was noch schlimmer ist: Wenn ein Projekt für Sie eine Bedeutung hat, dann ist nicht nur Ihre Befriedigung aufgeschoben, sondern Ihre Arbeit an dem Projekt zerstört seine Bedeutung.« (Setiya: Die Krise in der Karrieremitte, 2019). Man ist irgendwie geneigt zu hinterfragen, ob stetiger – um nicht zu sagen monotoner – Erfolg auf einem gewissen Niveau überhaupt glücklich macht. Der wahrgenommene Erfolg verliert vielleicht mit der Zeit an Kraft. Und so könnte auch die Zufriedenheit unter objektiv gleichbleibenden Rahmenbedingungen sinken. Es drängt sich der Verdacht auf, dass das stetige Arbeiten an sicheren, bekannten Projekten, ohne immer wieder einmal etwas Neues, etwas anderes zu machen, sogar unglücklich machen könnte.

Die Europäische Wertestudie (European Value Study) hat sich das Monitoring von Werthaltungen, Einstellungen und Wertewandel in der Gesellschaft schon seit Jahren zur Aufgabe gemacht. Zwischen 1990 und 2018 hat beispielsweise die Bedeutung von Freizeit, Familie und Freunden in der österreichischen Bevölkerung deutlich zugenommen. Im Jahr 2018 haben nur mehr knapp die Hälfte der Österreicher (48 Prozent) der Aussage zugestimmt, dass Arbeit im Leben sehr wichtig sei. Im Jahr 1990 waren es noch 62 Prozent. Wohingegen sich die Einstellung zu guter Bezahlung nicht wesentlich geändert hat, wird es immer wichtiger, im Beruf die Möglichkeit zu haben, eine eigene Initiative zu entfalten, die Arbeitszeiten mitgestalten zu können und einen Beruf mit Verantwortung auszuüben. All das unterstützt schon früher gemachte Beobachtungen, dass Arbeit als Teil der Persönlichkeitsentfaltung und Selbstverwirklichung fungiert (Aichholzer, Friesl, Hajdinjak, Kritzinger: Quo vadis, Österreich? Wertewandel zwischen 1990 und 2018, 2019). Arbeit ist also auch der Selbstverwirklichungsebene der maslowschen Bedürfnishierarchie zuzuordnen. Hoffentlich lässt sich das für immer mehr Menschen auch entsprechend umsetzen und mit der gleichzeitig steigenden Bedeutung von Freizeit, Familie und Freunden unter einen Hut bringen. Im Wandel der Zeit ändern sich also die Vorstellungen darüber, was das Leben lebenswert macht. Das ist nicht weiter verwunderlich. Wir leben allerdings in ein und derselben Gegenwart mit verschiedenen Generationen. Und hier scheint der Wandel über die Vorstellungen darüber, was Erfolg im Leben ist, immer wieder für Diskussionen zu sorgen.

»Es ist die Katastrophe. Die Haltung, nichts Wesentliches mehr ändern, nichts Großes mehr leisten, nichts Wegweisendes mehr erreichen zu wollen, breitet sich immer weiter aus. Und das, während die Menschheit vor großen Aufgaben steht. Oder vielleicht gerade deswegen? Weil man vor lauter Anforderungen lieber gar nicht mehr hinschauen will? Das Klima kollabiert, die Meere werden zugemüllt, die Populisten übernehmen Regierungen, die digitale Revolution bedroht Unternehmen und Arbeitsplätze – und jene, die sich der Probleme annehmen sollten, fragen erst einmal nach dem Handy, der Überstundenregelung und ihrer persönlichen Work-Life-Balance?«, schreibt die Betriebswirtschaftsprofessorin Evi Hartmann in ihrem 2018 erschienenen Buch Ihr kriegt den Arsch nicht hoch: Über eine Elite ohne Ambition. Vor Verallgemeinerungen gilt es natürlich zu warnen, und es gab und gibt solche und solche in allen Generationen in allen Gegenwarten. Aber auch die Vertreter der angesprochenen Generationen selbst plädieren dafür, dass sich die Unternehmen auf den Wertewandel in der Arbeitswelt einstellen müssen. Immer mehr junge Menschen wollen heute flexibler, freier und selbstbestimmter arbeiten – Freiheit und Freizeit ist ihnen wichtiger als Geld (Burkhart: Die spinnen, die Jungen! Eine Gebrauchsanweisung für die Generation Y, 2016). Nach über einem Vierteljahrhundert, das ich nun schon junge Menschen an Universitäten unterrichte, schließe ich mich mit meinem ganz persönlichen Eindruck Kerstin Bund, der Autorin des Buches Glück schlägt Geld. Generation Y: Was wir wirklich wollen, an: Die wollen arbeiten, nur eben anders.

Einer erfüllenden Arbeit nachzugehen, ist ohne Zweifel für viele Menschen ein wesentlicher Parameter für ein glückliches und »erfolgreiches« Leben. Es muss angesprochen werden, dass die Gruppe jener Menschen, die unfreiwillig keine Arbeit haben, in der Gesellschaft keine Stimme hat, sich eventuell zurückzieht und dann empfänglich für populistische Strömungen werden kann. Für gar nicht wenige wird ihre Arbeit aber dieser Vorgabe auch nicht gerecht. Und für wieder viele Menschen stehen die Erfolgserlebnisse, die sie als ihre größten aufzählen würden, in gar keinem Zusammenhang mit Arbeit. Das macht natürlich auch Sinn. Erfolge kann man in vielen Zusammenhängen feiern. Erfreulicherweise ist für viele eine Leistung auch dann ein anzustrebendes Ziel, wenn sie nicht zu für jedermann sichtbaren, quantifizierbaren Erfolgsergebnissen führt. Unglaublich vieles wird auf dieser Welt geleistet, was zu selten oder oft gar nicht von Erfolg im quantifizierbaren Sinn gekrönt ist. Es zählt einfach zu den größten Leistungen und Erfolgen der Menschheit, einem traurigen Menschen Trost zu spenden, einem Pflegebedürftigen bei ganz alltäglichen Dingen zu helfen, einem Menschen auf der Flucht ein Zuhause zu bieten, einem einsamen Menschen Zeit zu schenken, für einen Fragenden eine Antwort zu finden oder einem Kind Geborgenheit zu geben. Die Liste all dieser so wichtigen, primär sinnstiftenden Leistungen wäre unendlich erweiterbar.

»Also was ist Erfolg? Was bedeutet es, ein gutes, erfolgreiches Leben zu leben beziehungsweise leben zu können? Eine allgemeingültige Antwort darauf kann es nicht geben. Ich persönlich kann dem Ansatz der Mitglieder des Redaktionsteams der Philosophie-Zeitschrift Hohe Luft, Tobias Hürter, Rebekka Reinhard und Thomas Vašek einiges abgewinnen. Zum einen geht es um die Unterscheidung von drei Arten von Erfolg, die aber natürlich auch Überlappungen aufweisen. Der ökonomische, quantifizierbare Erfolg, der aus Leistung genauso wie aus Zufall resultieren kann, wird vom ästhetischen Erfolg unterschieden, der mit kreativen Tätigkeiten wie Kochen, Musizieren, Schreiben, Tanzen und vielem mehr im Zusammenhang steht und natürlich einem subjektiven Urteil unterliegt. Und schließlich gibt es noch eine dritte Erfolgsart – den sogenannten ethischen Erfolg, der für das objektiv Gute steht und zum Beispiel der Wissenschaft oder der Ökologie dient. Die Autoren schlagen aber vor allem vor, statt vom ›Erfolg‹ eines Menschen, von seinem ›Werk‹ zu sprechen. Dieser Begriff beschreibt sowohl das Tätigsein selbst (am Werk sein) als auch das Ergebnis, ein Werk mit Bestand, das den Tag überdauert. Das Werk, das Lebenswerk, ob nun künstlerisches, wissenschaftliches oder unternehmerisches Tun, soziales Engagement oder die Erziehung der Kinder, macht zu Recht stolz, weil es das Ergebnis unseres Wirkens und nicht des Zufalls ist (Hürter, Reinhard, Vašek: ›Das Märchen vom Erfolg‹, 2015).«

»Es ist nicht ein biologischer Antrieb oder unser Belohnungs- und Bestrafungs-Trieb, sondern es ist einfach unser Wunsch, unser Leben voll Sinn zu führen, es selbst zu gestalten und dabei unsere Fähigkeiten zu erweitern
(Pink: Drive: Was Sie wirklich motiviert, 2010).

Natürlich kann man nichts dagegen haben, dass Menschen gern glücklich sind. Der Ansatz, es sei Erfolg genug, wenn man selbst nur glücklich und zufrieden ist, muss allerdings aus verschiedenen Gründen hinterfragt werden. Und einen Zusammenhang zwischen Glück und Erfolg kann man ohnedies nur bedingt ausmachen, wohl wissend, dass es in der Kunst, der Wissenschaft, dem sozialen Engagement, der Wirtschaft und vielem mehr schon so oft und so viele beeindruckende Lebenswerke von unglücklichen beziehungsweise unzufriedenen Menschen gegeben hat. Das schließt umgekehrt aber natürlich wiederum nicht aus, dass ein erfolgreiches Lebenswerk auch glücklich machen kann und soll. Es sagt aber auch nicht, dass eine in Aussicht gestellte Erfolgsgarantie glücklicher macht. Und die Geschichte hat noch etwas gezeigt: Ob ein Werk unter – im finanziellen, politischen oder gesellschaftlichen Sinn – »sicheren«, zielgerichteten Bedingungen durchgeführt wurde, oder ob »unsicher« ans Werk gegangen wurde, lässt nicht unbedingt Voraussagen über seinen Erfolg zu. Es ist selbstverständlich in vielen Zusammenhängen notwendig und sinnvoll, sich Ziele zu setzen, auf die man hinarbeiten kann. Und ohne Extra Miles kein Erfolg. Das gilt für das persönliche Leben genauso wie für das strategische, unternehmerische Handeln. Das Arbeiten mit dem vorhersehbaren Ziel und Resultat vor Augen macht aber weder unbedingt glücklicher, noch ist es notwendigerweise erfolgreicher als ein Streben, ohne automatisch auf einen bekannten Endpunkt zuzusteuern. Das ist eine Tatsache, die jeder, der in der Grundlagenforschung arbeitet, kennt und sogar schätzt. Es ist aber auch klar, dass viel ungerichtetes »Am-Werk-Sein« letztendlich irgendwann und immer wieder einmal zu ganz konkreten Produkten und in weiterer Folge Innovationen führen kann. Und umgekehrt dienen viele endliche Ansätze (einzelne Projekte) großen Konzepten und Ideen (ganzen Prozessen), so wie etwa die Entwicklung konkreter Solargeräte den Anstrengungen gegen den Klimawandel dient, oder ein einzelnes Geschäft dem Wachstum des Unternehmens nutzt.

Erfolg zu haben, indem man sich auf die bekannte Zukunft strategisch einstellt, ist überlebenswichtig. Aber solch ein Vorgehen wird erst gemeinsam mit dem ergebnisoffenen Ausschauhalten nach dem Sinn, um sich selbst auch immer wieder einmal zu »etwas anderem« herauszufordern, um nicht nur den gängigen gesellschaftlichen Symbolen für Leistung entgegenzufiebern und um dem Unvorhersehbaren seine Chance zu geben, zu einem Ganzen, zu einem wirklich erfolgreichen Werk beziehungsweise Lebenswerk.

Für die Zukunft Neues erschaffen

Im Jahr 2010 gründeten wir den Thinktank Academia Superior – Gesellschaft für Zukunftsforschung, dessen wissenschaftlicher Leiter ich neben meiner universitären Hauptbeschäftigung seitdem bin. Dieser Think- und Dotank (www.academia-superior.at) wird von einem großen wissenschaftlichen Beirat unterstützt, in dem ein Nobelpreisträger für Medizin genauso vertreten ist wie zum Beispiel Historiker, Rechtswissenschaftler, Ökonomen, Mathematiker, Wirtschaftsjournalisten oder Physiker. Das Ziel von Academia Superior ist es letztendlich, klare Handlungsempfehlungen zu erarbeiten, die Chancen und Potenziale für die Gestaltung der Zukunft eröffnen sollen. Das zentrale Element dabei ist das seit zehn Jahren jährlich stattfindende Surprise-Factors-Symposium. Im Zuge dieser Symposien haben wir immer mit Gästen aus verschiedensten Disziplinen über die größten Entdeckungen, Entwicklungen und Überraschungen der letzten Jahre in ihren jeweiligen Fachbereichen diskutiert. Was war das Unvorhersehbare, das Unvorhersehbarste in der jeweiligen Disziplin? Wie geht man mit der unbekannten Zukunft um, und was lernt man daraus? Wie bereitet man sich auf die Zukunft vor? Neben vielen österreichischen Expertinnen und Experten haben wir diese Fragestellungen zum Beispiel mit dem US-amerikanischen Wirtschaftsjournalisten und ehemaligen Herausgeber des Harvard Business Review, Alan Webber, der US-amerikanischen Datenanalystin bei E-Bay, Gayatri Patel, dem US-amerikanischen Mathematiker John L. Casti, der dänischen Schriftstellerin Janne Teller, dem britischen Kybernetiker Kevin Warwick, dem deutschen Politiker Hans-Dietrich Genscher, der saudischen IT-Beraterin und Initiatorin von »Woman2Drive« Manal al-Sharif, dem polnischen Friedensnobelpreisträger Lech Wałȩsa, der britischen Sportadministratorin Susan Campbell, dem US-amerikanischen Gesundheitsexperten David Katz, der Schweizer Computergrafik-Wissenschaftlerin Nadia Magnenat Thalmann, dem Psychologen und Stanford-Professor Michal Kosinski oder der US-amerikanischen Kriegsfotografin Andrea Bruce (um nur einige zu nennen) diskutiert. Eine der wohl wesentlichsten Komponenten einer zukunftsorientierten Gegenwart, so die immer wieder geäußerte Ansicht, ist die grundlegende Bereitschaft, sich einzubringen und neue Wege zu beschreiten, um Lösungen zu finden.

Glück, Erfolg und das Betreten von unbekanntem Land haben sogar so manches gemeinsam. Sie sind zu Schlagworten der modernen Welt geworden, die sehr oft und, weil auch nicht ganz einfach zu präzisieren, sehr breit verwendet werden. Alle wollen es, niemand weiß so recht, wie es zu erreichen ist, aber alle sind sich sicher, ohne Kreativität und ohne eine ordentliche Portion harte Arbeit ist es nicht zu schaffen. Das Wichtigste aber ist die flächendeckend anzutreffende, tiefe Überzeugung, dass Glück, Erfolg und neue Wege zu gehen, zu den mächtigsten Elementen einer gestaltenden Gegenwart gehören. Ob das mit einem generalisierten Verständnis für die Bedeutung blühenden Fortschrittes für den Menschen zu tun hat, sei einmal dahingestellt.

»Unter philosophischen, politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder etwa medizinischen Aspekten betrachtet, Fortschritt entsteht immer durch Veränderung in menschlichen Gesellschaften und führt zu grundlegenden Verbesserungen. Sowohl in der neolithischen Revolution am Übergang von den Jägern und Sammlern zu den Siedlern und Ackerbauern, als auch in der industriellen oder der digitalen Revolution, die Schritte hin zum Besseren wurden durch gezielte, von Menschen gemachte Veränderungen befördert. Die entsprechende ethische Abwägung vorausgesetzt und eine manchmal blauäugige Fortschrittsgläubigkeit moderner Gesellschaften auch durchaus kritisch gesehen, haben aber sicher nicht alle, aber zumindest viele ›Fortschritte‹ der Menschheitsgeschichte im Kern das Ziel verfolgt, die Welt für den Menschen besser zu machen. Ja, so manche haben das nicht nur nicht erreicht, sondern sogar das Gegenteil bewirkt. Aber andererseits, was alles hat der Mensch in seiner Geschichte bewerkstelligt. Sowohl die Anzahl als auch das Ausmaß der Verbesserungen sind wahrlich beeindruckend. Ob in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Lebenserwartung, Chancengerechtigkeit, Sicherheit, Wohlstand, Freiheit und vielem mehr – es besteht kein Zweifel daran, dass es der Menschheit noch nie so gut ging wie heute. Und all das ist das Resultat des Fortschrittes (Rosling: Factfulness, 2018; Pinker: Enlightenment Now, 2018).«