Falsches Spiel

 

Daniel verschloss sorgfältig seinen Aktenkoffer und sah sich ein letztes Mal in dem schlichten Hotelzimmer um. Die Abfalltüten sowohl aus dem Bad als auch aus dem eigentlichen Aufenthaltsraum hatte er zusammen mit dem Putzzeug in einen blauen Sack gepackt, der jetzt in einem billigen, braunen Koffer darauf wartete, entsorgt zu werden. Und die gelben Handschuhe hatte er nach der Putzaktion sofort gegen schwarze aus Leder eingetauscht. Er hatte an alles gedacht. Zeit, zu gehen und dieses Schwein zu töten.

 

Joachim schwitzte. Die Rede kannte er auswendig, ein paar einstudierte Gesten, sein gewinnendes Lächeln und er hätte das Publikum im Sack. Nein, Lampenfieber war es nicht, das ihm den Schweiß aus den Poren trieb. Es war seine Schwiegermutter. Oder vielmehr die Tatsache, dass sie mit einem gebrochenen Bein im Krankenhaus lag. Deshalb konnte Evelyn die Kinder nicht zu ihr bringen und ihn auf seiner Wahlkampftour begleiten. Deshalb musste sie zuhause bleiben, ohne ihn, und hielt sich hoffentlich daran, seinem Arbeitszimmer fern zu bleiben. Nicht auszudenken, wenn sie … Ein Schweißtropfen glitt von seiner Stirn über die Nasenwurzel bis zur Nasenspitze, wo er zitternd hängen blieb. Joachim holte ein Taschentuch hervor und wischte den Schweiß aus seinem Gesicht. Ruhig bleiben. Er dachte an sein wundervolles kleines Mädchen und an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, bevor er fortging. Lächelnd betrat er die Bühne.

 

Sarah hockte in einem Hauseingang, suchte Schutz vor dem Regen und zitterte vor Hunger, Kälte und Einsamkeit. Wie töricht war sie gewesen zu glauben, er könnte ihr ein besseres Leben bieten, fernab von Kleinbürgermief und Religionsfimmel. Was gäbe sie jetzt für ein spießiges Mittagessen in der warmen Küche, wo neben dem röhrenden Hirsch das Kreuz mit dem Rosenkranz hing.

Mühevoll stand sie auf und stakste die zwei Eingangsstufen hinunter. Vielleicht konnte sie ja doch noch mal zurück, ein letztes Mal um Verzeihung bitten. Alles war besser als ein Freund, der im Suff den Körper seiner Freundin beim Pokern verschacherte und mit der Videokamera danebenstand, wenn der Siegreiche seinen Gewinn einlöste und anschließend noch großzügiger Weise die anderen Mitspieler ebenfalls „drüber rutschen“ ließ. Jeder Schritt tat weh, ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen und sie sehnte sich nur noch nach Hause.

 

So eine dämliche, blöde, gottverdammte Kuh! Tommy trat vor einen Kieselstein, der gegen ein am Bordstein parkendes Auto flog, und schoss gleich noch einen größeren Stein hinterher. Lächerlich hat sie ihn gemacht, gedemütigt. Wegen dieser Schlampe war er jetzt die Lachnummer in seiner Pokerrunde. Und da die das Maul eh nicht halten konnten, würde es bald jeder von seinen Kumpeln wissen. Da konnte auch das Video nix reißen, zumal die nur da gelegen hatte wie ’n totes Stück Holz. Nicht einem seiner Kollegen hat sie einen geblasen. Hat sich angestellt wie ’ne Jungfrau, dabei wusste er doch genau, was für ’ne geile Sau sie war. Und als die Jungs fertig waren, ist sie aufgesprungen, hat ihm ’ne Ohrfeige verpasst, ihm gleichzeitig ihr Knie voll in die Eier gerammt und ist mit ihren Klamotten abgerauscht wie die Königin persönlich. Scheiße, hat das weh getan! Und alle haben gegrölt vor Lachen. Diese Schlampe! Als hätte es ihr keinen Spaß gemacht.

Ein Stück die Straße runter lag die Stadthalle, aus der gerade ziemlich viele Menschen strömten. Und auf halber Höhe entdeckte er sie, neben einem Typen in schwarzer Lederjacke ging sie Richtung Stadthalle. Na warte – jetzt war sie fällig! Er begann zu laufen.

 

Sarah lief ohne Blick für ihre Umgebung, sie sah nur den Bürgersteig und ihre Füße, und als sie dann doch einmal hochsah, stellte sie fest, dass sie einen völlig falschen Stadtteil erreicht hatte. Ihr Zuhause lag nämlich genau in entgegengesetzter Richtung. Sie wollte gerade umdrehen, als ihr Blick auf ein Plakat fiel, die Ankündigung für eine Veranstaltung in der Stadthalle. Ein Politiker war darauf zu sehen, der anwesend sein würde, und sie starrte fassungslos auf das Foto. Dieses Gesicht – sie schluckte trocken, drängte die aufkeimende Übelkeit zurück und biss sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuschluchzen. Zehn Jahre waren eine lange Zeit, aber nicht lange genug, um DAS vergessen zu machen. Dafür reichte selbst ein ganzes Leben nicht aus.

Sie beschleunigte ihre Schritte.

 

Daniels Hand schloss sich fest um den Griff der Pistole. Jetzt kamen die ersten Besucher der Wahlveranstaltung nach draußen, es konnte also nicht mehr lange dauern, bis auch er die Halle verließ. Er musste nur noch näher ran.

Er verließ seinen Beobachtungsposten neben einer alten Linde und steuerte auf die langsam anwachsende Menschenmenge zu.

 

Als Joachim aus der Tür trat, fühlte er sich großartig. Es war alles glatt gegangen, er hatte mit dem Publikum gescherzt, hatte ihnen aber auch Interesse für ihre Sorgen und Nöte bekundet – und schon hatten sie ihm aus der Hand gefressen. Es musste schon mit dem Teufel zugehen, wenn er die Bürgermeisterwahl nicht für sich entscheiden konnte.

Applaus brandete auf, als er sich anschickte, die Stufen hinabzusteigen. Ein hübsches, junges Mädchen kam auf ihn zu, er lächelte, und plötzlich ging alles ganz schnell …

 

Tommy wollte gerade losspurten, um Sarah noch einzuholen, als der Mann mit der Lederjacke sich unvermittelt an eine Hauswand drückte und etwas aus seiner Jackentasche zog. Jäh hielt Tommy inne, denn er hatte erkannt, was dieses Etwas war: eine Pistole!

Er starrte hinüber zur Stadthalle, in die Richtung, in die der Typ zielte, sah Sarah die Stufen hinauflaufen, auf einen Kerl zu, den er kannte. Was zum Teufel ging hier vor sich? Er zog sein Springmesser aus der Hosentasche, als der Schuss fiel.

 

Joachim sah dieses Mädchen, das immer näherkam, blanken Hass in den Augen, und blieb stehen, irritiert, schuldbewusst, obwohl er sie gar nicht kannte. Oder doch? Etwas in ihren Augen, ihrem Gesicht, er zögerte, grübelte und sah ihren Kopf explodieren, bevor er den Schuss hörte.

 

Daniel zielte sorgfältig, auch wenn er sicher war, dass in dieser Brust nichts schlug, das die Bezeichnung Herz verdiente, wollte er genau die Stelle treffen, wo üblicherweise eins saß. Er hielt die Luft an und drückte ab.

Er hörte sich selbst schreien, denn da war auf einmal dieses Mädchen, auf der Stufe vor diesem Schwein, ihr Kopf in Höhe seiner Brust. Als die Kugel traf, platzte ihr Schädel.

Ein Schatten neben ihm, wie aus dem Nichts, Feuer brannte in seinem Bauch, etwas rann warm über seine Beine. Er blickte fragend den jungen Mann neben sich an, starrte auf die Hand, die das Messer in seinem Leib bewegte, verstand nicht und starb.

 

Tommy hielt das Messer krampfhaft in seiner blutüberströmten Hand, registrierte aus den Augenwinkeln, wie der Typ zusammenklappte und sah doch nichts anderes als das Bild, das sich für die Ewigkeit in seine Netzhaut gebrannt hatte. Sarah.

 

Joachim wich entsetzt zurück, stolperte, die Menschen schrien durcheinander, und er hatte nur noch einen Gedanken: Weg! Alles in ihm schrie dieses eine Wort, seine Beine bewegten sich ohne sein Zutun, rannten, nach links, nur weg, die Treppe runter, auf die Straße, kopflos, panisch. Und so sah und hörte er den Lastwagen nicht, spürte nicht den Zusammenstoß und war schon tot, bevor er wieder auf dem Pflaster aufschlug.

 

Scheiße, jetzt war dieser Wichser vor einen Laster gelaufen, das durfte doch nicht … FUCK! Tommy sah aufgeregte, wütende Menschen auf sich zu kommen und ergriff die Flucht. Doch er kam nicht weit, stolperte über ein Bein des Lederjackenfritzen und schlug der Länge nach hin, während das Messer, das er immer noch umklammerte, seine Brust durchstieß, knapp an einer Rippe vorbeischrammte – und mitten in sein Herz traf.

 

Jenseits von Zeit und Raum und irgendwo dazwischen, ohne Anfang und ohne Ende, immerwährend und längst vergangen. Grauer Nebel leuchtete schwach in der Dunkelheit, diffuses Licht, das nichts erhellte.

Stille, als hielte die Welt den Atem an …

 

 

„Kann mir mal einer verraten, was der Scheiß hier soll? Und wo kommt auf einmal der verdammte Drecksnebel her?“

„Tommy! Was machst du denn hier? Und wo ist hier überhaupt?“

„Sarah, du Schlampe! Wo bist du? Ich mach dich fertig!“

„Dazu musst du mich erst mal kriegen …“

„Du Miststück, du …“

„Ähm, Entschuldigung, aber könnte mir eine der hier anwesenden Personen bitte mal erklären, wie ich hierhergekommen bin?“

„Halt’s Maul! Ich muss meiner Perle erst mal klarmachen, wo der Hammer hängt. – Komm sofort her, Sarah!“

„Ach, fick dich doch ins Knie, Tommy.“

„Komm sofort her, du Sau! Ich mach dich kalt!“

„Leck mich.“

„Ähem, ich finde …“