Arthur Schnitzler
Reigen
Arthur Schnitzler gilt als einer der bedeutendsten Vertreter der Wiener Moderne. Er wurde am 15. Mai 1862 in Wien geboren, sein Vater war Arzt, und auch Arthur Schnitzler studierte nach der Matura Medizin an der Universität Wien. Neben seiner Tätigkeit als Arzt und Verfasser von Publikationen im medizinischen Bereich begann Schnitzler bereits früh, auch literarische Texte und Gedichte zu verfassen.
Arthur Schnitzler schrieb zahlreiche Theaterstücke, Novellen und Erzählungen. Deren zentrales Thema sind häufig Vorgänge in der Psyche der auftretenden Personen. Seine erste Veröffentlichung erfolgte im Jahr 1880, als sein „Liebeslied der Ballerine“ in der Zeitschrift „Der freie Landbote“ erschien. Schnitzler pflegte eine enge Freundschaft mit Hugo von Hofmannsthal, Hermann Bahr und Richard Beer-Hofmann und war auch mit Sigmund Freud bekannt.
Etwa zeitgleich mit dem Begründer der Psychoanalyse brachte Schnitzler in seinem Werk Tabus der bürgerlichen Gesellschaft zur Sprache, die etwa Sexualität, heimliche Begierden oder den Tod betreffen. Die Uraufführung seines bekanntesten Bühnenstücks „Reigen” am 23. Dezember 1920 am Kleinen Schauspielhaus in Berlin führte zu einem Prozess wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses. In den Jahren danach zog Schnitzler sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück.
Im Jahr 1925 erschien die stark erotisch aufgeladene „Traumnovelle“, das heute populärste Werk von Arthur Schnitzler, das auch in der ofd edition erschienen ist. Die Erzählung wurde 1969 mit Karlheinz Böhm in der Hauptrolle verfilmt, dreißig Jahre später erfolgte die berühmteste Adaption des Stoffes: Der amerikanische Regisseur Stanley Kubrick drehte den Film „Eyes Wide Shut" mit Nicole Kidman und Tom Cruise in den Hauptrollen.
Arthur Schnitzler starb am 21. Oktober 1931 im Alter von 69 Jahren an einer Hirnblutung und liegt auf dem Wiener Zentralfriedhof begraben.
Schauspielerin: Es ist sehr heiß hier, findest Du nicht?
Graf neigt sich und küsst ihren Hals.
Schauspielerin: Oh, Herr Graf, das ist ja gegen Ihr Programm.
Graf: Wer sagt denn das? Ich hab' kein Programm.
Schauspielerin zieht ihn an sich.
Graf: Es ist wirklich heiß.
Schauspielerin: Findest Du? Und so dunkel, wie wenn's Abend wär'... Reißt ihn an sich. Es ist Abend... es ist Nacht... Mach die Augen zu, wenn's Dir zu licht ist. Komm!... Komm!...
Das Theaterstück „Reigen“ erschien erstmals im Jahr 1900 als Privatdruck, den Schnitzler in seinem Freundeskreis verteilte. Die erste öffentliche Ausgabe brachte der Wiener Verlag 1903 auf den Markt. Eine Welle der moralischen Empörung („Schweinerei“) war die Folge. Sie führte dazu, dass das Werk 1904 in Deutschland und später auch in Polen verboten wurde. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Zensur wurde das Buch schnell ein Erfolg und erreichte eine Auflage von 40.000 Exemplaren.
Die Uraufführung des „Reigen“ erfolgte am 23. Dezember 1920 im Kleinen Schauspielhaus in Berlin. Kurz vor der Premiere wurde die Vorstellung vom Kultusministerium verboten. Trotzdem fand die Aufführung statt und das ausgesprochene Verbot wurde Anfang Januar 1921 gerichtlich aufgehoben. Allerdings kam es bei den folgenden Aufführungen – vor allem in Berlin und Wien – zu Tumulten und schweren Ausschreitungen. Schließlich untersagte Schnitzler nach einem nervenaufreibenden Gerichtsprozess (der sogenannte „Reigen-Prozess“) weitere Aufführungen seines Stückes. Dieses Verbot blieb bis zum 1. Januar 1982 in Kraft.
Schnitzlers Bühnenwerk besteht aus zehn erotischen Dialogen, die nach dem Prinzip eines Reigen-Tanzes aufgebaut sind. Dabei reicht gleichsam immer eine Figur des jeweiligen Dialogs einer neuen Person für die nächste Szene die Hand. Nach jedem Dialog wird also ein Partner ausgetauscht und die gesellschaftliche Schichtung durchlaufen – von Dirne, Soldat und Stubenmädchen über junger Herr, Ehefrau, Ehemann und süßes Mädel bis zum Dichter, der Schauspielerin und dem Grafen, der am Schluss wieder auf die Dirne trifft und so den „Reigen“ abschließt.
In jedem Dialog kommt es zum Beischlaf, der allerdings nicht beschrieben, sondern nur im Text mit Gedankenstrichen angedeutet wird. Da alle sozialen Schichten porträtiert werden, zeichnet das Stück die gesellschaftliche Moral des Fin de siècle nach und thematisiert aus unterschiedlichen Perspektiven die Phänomene Macht, Betrug, Sehnsucht, Verführung und Begierde.
Hier liegt die Textfassung von Schnitzlers Bühnenstück in einer neu bearbeiteten Fassung vor. Wie bei allen Werken der ofd edition wurde der Text der aktuellen Rechtschreibung angepasst, in der allerdings Besonderheiten der österreichischen Ausdrucksweise des Originals erhalten bleiben.
Zehn Dialoge
Personen:
Die Dirne
Der Soldat
Das Stubenmädchen
Der junge Herr
Die junge Frau
Der Ehegatte
Das süße Mädel
Der Dichter
Die Schauspielerin
Der Graf
Spät abends. An der Augartenbrücke. Soldat kommt pfeifend, will nach Hause.
Dirne: Komm, mein schöner Engel.
Soldat wendet sich um und geht wieder weiter.
Dirne: Willst Du nicht mit mir kommen?
Soldat: Ah, ich bin der schöne Engel?
Dirne: Freilich, wer denn? Geh, komm zu mir. Ich wohn' gleich in der Näh'.
Soldat: Ich hab' keine Zeit. Ich muss in die Kasern'!
Dirne: In die Kasern' kommst immer noch zurecht. Bei mir is besser.
Soldat, ihr nahe: Das ist schon möglich.
Dirne: Pst. Jeden Moment kann ein Wachmann kommen.
Soldat: Lächerlich! Wachmann! Ich hab' auch mein Seiteng'wehr!
Dirne: Geh, komm mit.
Soldat: Lass mich in Ruh'. Geld hab' ich eh keins.
Dirne: Ich brauch' kein Geld.
Soldat, bleibt stehen. Sie sind bei einer Laterne: Du brauchst kein Geld? Wer bist denn Du nachher?
Dirne: Zahlen tun mir die Zivilisten. So einer wie Du kann's immer umsonst bei mir haben.
Soldat: Du bist am End' die, von der mir der Huber erzählt hat. –
Dirne: Ich kenn' kein' Huber nicht.
Soldat: Du wirst schon die sein. Weißt – in dem Kaffeehaus in der Schiffgassen – von dort ist er mit Dir z' Haus 'gangen.
Dirne: Von dem Kaffeehaus bin ich schon mit gar vielen z' Haus 'gangen... oh! oh! –
Soldat: Also gehn wir, gehn wir.
Dirne: Was, jetzt hast's eilig?
Soldat: Na, worauf soll'n wir noch warten? Und um zehn muss ich in der Kasern' sein.
Dirne: Wie lang dienst denn schon?
Soldat: Was geht denn das Dich an? Wohnst weit?
Dirne: Zehn Minuten zum gehn.
Soldat: Das ist mir zu weit. Gib mir ein Pussel.
Dirne, küsst ihn: Das ist mir eh das Liebste, wenn ich einen gern hab'!
Soldat: Mir nicht. Nein, ich geh' nicht mit Dir, es ist mir zu weit.
Dirne: Weißt was, komm morgen am Nachmittag.
Soldat: Gut is. Gib mir Deine Adresse.
Dirne: Aber Du kommst am End' nicht.
Soldat: Wenn ich Dir's sag'!
Dirne: Du, weißt was – wenn's Dir zu weit ist heut Abend zu mir – da... da... Weist auf die Donau.
Soldat: Was ist das?
Dirne: Da ist auch schön ruhig... Jetzt kommt kein Mensch.
Soldat: Ah, das ist nicht das Rechte.
Dirne: Bei mir is immer das Rechte. Geh, bleib jetzt bei mir. Wer weiß, ob wir morgen noch 's Leben haben.
Soldat: So komm – aber g'schwind!
Dirne: Gib Obacht, da ist so dunkel. Wennst ausrutschst, liegst in der Donau.
Soldat: Wär' eh das Beste.
Dirne: Pst, so wart nur ein bissel. Gleich kommen wir zu einer Bank.
Soldat: Kennst Dich da gut aus.
Dirne: So einen wie Dich möcht' ich zum Geliebten.
Soldat: Ich tät' Dir zu viel eifern.
Dirne: Das möcht' ich Dir schon abgewöhnen.
Soldat: Ha –
Dirne: Nicht so laut. Manchmal is doch, dass sich ein Wachter her verirrt. Sollt man glauben, dass wir da mitten in der Wienerstadt sind?
Soldat: Daher komm, daher.
Dirne: Aber was fällt Dir denn ein, wenn wir da ausrutschen, liegen wir im Wasser unten.
Soldat, hat sie gepackt: Ah, Du –
Dirne: Halt Dich nur fest an.
Soldat: Hab kein' Angst...
Dirne: Auf der Bank wär's schon besser gewesen.
Soldat: Da oder da... Na, krall aufi.
Dirne: Was laufst denn so –
Soldat: Ich muss in die Kasern', ich komm' eh schon zu spät.
Dirne: Geh, Du, wie heißt denn?
Soldat: Was interessiert Dich denn das, wie ich heiß'?
Dirne: Ich heiß' Leocadia.
Soldat: Ha! – So an' Namen hab' ich auch noch nie gehört.
Dirne: Du!
Soldat: Na, was willst denn?
Dirne: Geh, ein Sechserl für'n Hausmeister gib mir wenigstens! –
Soldat: Ha!... Glaubst, ich bin Deine Wurzen... Servus! Leocadia...
Dirne: Strizzi! Fallott! –
Er ist verschwunden.
Prater. Sonntagabend.
Ein Weg, der vom Wurstelprater aus in die dunklen Alleen führt. Hier hört man noch die wirre Musik aus dem Wurstelprater; auch die Klänge vom Fünfkreuzertanz, eine ordinäre Polka, von Bläsern gespielt.
Der Soldat. Das Stubenmädchen.
Stubenmädchen: Jetzt sagen S' mir aber, warum S' durchaus schon haben fortgehen müssen.
Soldat lacht verlegen, dumm.
Stubenmädchen: Es ist doch so schön gewesen. Ich tanz' so gern.
Soldat fasst sie um die Taille.
Stubenmädchen lässt's geschehen: Jetzt tanzen wir ja nimmer. Warum halten S' mich so fest?
Soldat: Wie heißen S'? Kathi?
Stubenmädchen: Ihnen ist immer eine Kathi im Kopf.
Soldat: Ich weiß, ich weiß schon... Marie.
Stubenmädchen: Sie, da ist aber dunkel. Ich krieg' so eine Angst.
Soldat: Wenn ich bei Ihnen bin, brauchen S' Ihnen nicht zu fürchten. Gott sei Dank, mir sein mir!
Stubenmädchen: Aber wohin kommen wir denn da? Da ist ja kein Mensch mehr. Kommen S', gehn wir zurück! – Und so dunkel!
Soldat, zieht an seiner Virginiazigarre, dass das rote Ende leuchtet: 's wird schon lichter! Haha! Oh, Du Schatzerl!
Stubenmädchen: Ah, was machen S' denn? Wenn ich das gewusst hätt'!
Soldat: Also der Teufel soll mich holen, wenn eine heut beim Swoboda mollerter1 gewesen ist als Sie, Fräul'n Marie.
Stubenmädchen: Haben S' denn bei allen so probiert?
Soldat: Was man so merkt, beim Tanzen. Da merkt man gar viel! Ha!
Stubenmädchen: Aber mit der blonden mit dem schiefen Gesicht haben S' doch mehr 'tanzt als mit mir.
Soldat: Das ist eine alte Bekannte von einem meinigen Freund.
Stubenmädchen: Von dem Korporal mit dem aufdrehten Schnurrbart?
Soldat: Ah nein, das ist der Zivilist gewesen, wissen S', der im Anfang am Tisch mit mir g'sessen ist, der so heis'rig red't.
Stubenmädchen: Ah, ich weiß schon. Das ist ein kecker Mensch.
Soldat: Hat er Ihnen was 'tan? Dem möcht' ich's zeigen! Was hat er Ihnen 'tan?
Stubenmädchen: Oh nichts – ich hab nur gesehn, wie er mit die andern ist.
Soldat: Sagen S', Fräulein Marie...
Stubenmädchen: Sie werden mich verbrennen mit Ihrer Zigarrn.
Soldat: Pahdon! – Fräul'n Marie. Sagen wir uns Du.
Stubenmädchen: Wir sein noch nicht so gute Bekannte. –
Soldat: Es können sich gar viele nicht leiden und sagen doch Du zueinander.
Stubenmädchen: 's nächste Mal, wenn wir... Aber, Herr Franz –
Soldat: Sie haben sich meinen Namen g'merkt?
Stubenmädchen: Aber, Herr Franz...
Soldat: Sagen S' Franz, Fräulein Marie.
Stubenmädchen: So sein S' nicht so keck – aber pst, wenn wer kommen tät!
Soldat: Und wenn schon einer kommen tät, man sieht ja nicht zwei Schritt weit.
Stubenmädchen: Aber um Gottes willen, wohin kommen wir denn da?
Soldat: Sehn S', da sind zwei grad wie mir.
Stubenmädchen: Wo denn? Ich seh' gar nichts.
Soldat: Da... vor uns.
Stubenmädchen: Warum sagen S' denn: zwei wie mir? –
Soldat: Na, ich mein' halt, die haben sich auch gern.
Stubenmädchen: Aber geben S' doch Acht, was ist denn da, jetzt wär' ich beinah g'fallen.
Soldat: Ah, das ist das Gatter von der Wiesen.
Stubenmädchen: Stoßen S' doch nicht so, ich fall' ja um.
Soldat: Pst, nicht so laut.
Stubenmädchen: Sie, jetzt schrei' ich aber wirklich. – Aber was machen S' denn... aber –
Soldat: Da ist jetzt weit und breit keine Seel'.
Stubenmädchen: So gehn wir zurück, wo Leut' sein.
Soldat: Wir brauchen keine Leut', was, Marie, wir brauchen... dazu... haha.
Stubenmädchen: Aber, Herr Franz, bitt' Sie, um Gottes willen, schaun S', wenn ich das... gewusst... oh... oh... komm!
Soldat, selig: Herrgott noch einmal... ah...
Stubenmädchen: Ich kann Dein G'sicht gar nicht sehn.
Soldat: A was – G'sicht. Ja, Sie, Fräul'n Marie, da im Gras können S' nicht liegen bleiben.
Stubenmädchen: Geh, Franz, hilf mir.
Soldat: Na, komm zugi.
Stubenmädchen: Oh Gott, Franz.
Soldat: Naja, was ist denn mit dem Franz?
Stubenmädchen: Du bist ein schlechter Mensch, Franz.
Soldat: Ja, ja. Geh, wart ein bissel.
Stubenmädchen: Was lasst mich denn aus?
Soldat: Na, die Virginier werd' ich mir doch anzünden dürfen.
Stubenmädchen: Es ist so dunkel.
Soldat: Morgen früh ist schon wieder licht.
Stubenmädchen: Sag wenigstens, hast mich gern?
Soldat: Na, das musst doch g'spürt haben, Fräul'n Marie, ha!
Stubenmädchen: Wohin gehn wir denn?
Soldat: Na, zurück.
Stubenmädchen: Geh, bitt' Dich, nicht so schnell!
Soldat: Na, was ist denn? Ich geh' nicht gern in der finstern.