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Für all meine Katzen, die ich später als Katzenomi besitzen und so mit Katzenminze vollstopfen werde, dass sie gar nicht mehr wissen, wo oben und unten ist. Und für meinen Dad, weil er halt doch irgendwie cool ist.

KAPITEL 1

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Ich werde heute nicht sterben.

Angst schnürte mir meine Kehle zu, als ich die Schatten wahrnahm, die mir hinterherjagten. Ich riss mir das Klebeband vom Mund und warf es beiseite. Sofort schmeckte ich etwas Metallisches. Wahrscheinlich hatte der Kleber meine Lippe aufgerissen. Hektisch sah ich mich um. Ich stand an einer Wegkreuzung. Vor mir breiteten sich drei weitere Gänge aus und alle schienen in komplette Dunkelheit zu führen.

Verdammt, wo geht es hier raus?

Ich blickte hastig hin und her, versuchte einen Ausgang am Ende der Gänge zu erspähen. Doch ich hatte keine Zeit mehr. Ich hörte ihre Stimmen. Sie kamen näher, suchten mich, aber ich wollte auf keinen Fall zurück! Sie waren schon zu nah. Mein Hals schnürte sich bei dem Gedanken zu und ich sah mich nach einem Versteck um.

Schnell huschte ich um die Ecke und drückte mich gegen die Wand. Hoffentlich verriet mich mein laut pochendes Herz nicht. Schritte. Leise, dennoch konnte ich sie deutlich hören.

Sekunden später packte mich jemand gewaltsam an den Schultern, drückte die Klinge eines scharfen Messers an meinen Hals.

»Na, meine Hübsche!«, raunte er mir ins Ohr und berührte es dabei mit seinen Lippen.

»Lass mich los!« Ich versuchte vergeblich, mich loszureißen, doch der Mann hatte eine Hand um mein Handgelenk geklammert und es schmerzte tierisch. Schließlich hatte ich mich gerade erst von den Fesseln befreit.

»Ihr Mund ist nicht mehr zugeklebt, Kyle«, bemerkte ein anderer und weitere Männer umstellten mich. Fürchteten sie sich vor mir?

»Das ist scheißegal! War wahrscheinlich nur, damit sie nicht zu laut schreit«, erwiderte der Typ, der mich festhielt, und grinste dreckig. »Aber der Chef sagte, sie sollte auf jeden Fall das Klebeband …«

»Halt jetzt die Klappe! Dann hätte er uns sagen sollen, was er mit der kleinen Göre hier vorhat. Notfalls bringen wir sie anders zum Schweigen. Hier, halt sie mal fest!«

Er schubste mich grob in die Arme des anderen, der mir Mund und Augen zuhielt und mich an sich drückte, sodass ich nicht sah, was mein Gegenüber vorhatte.

Panik kroch in mir hoch und nahm mir den Atem. Ich konnte mich nicht mehr kontrollieren, riss mich los und drehte mich blitzschnell um. Einen Augenblick später hatte ich sein tropfendes Herz in der Hand. Schockiert blickte ich auf und sah nur noch, wie der Typ zu Boden fiel.

»Du kleine …«, kreischte sein Kollege und wollte mich packen, doch ich schrie so laut ich konnte. Sofort fielen alle zu Boden, hielten sich die Ohren zu und krümmten sich. Irgendwann zuckten sie nur noch und starrten mich mit angsterfülltem Blick an.

Ich hob das zu Boden gefallene Messer auf und stach wie wild auf denjenigen ein, der mich zuvor noch hatte berühren wollen. Erst als auch sein Blut an meinen Händen klebte, hörte ich auf und wandte mich dem Nächsten zu.

»Was bist du?«, fragte er leise, seine Augen glasig vor Furcht.

»Dein schlimmster Albtraum«, flüsterte ich und holte aus.

***

Gerade als ich aus der alten Fabrik trat, hielt ein Truck in der Einfahrt. Mein Vater stürzte aus dem Auto und umarmte mich. Er hatte vor einiger Zeit extra einen Notknopf an meinem Handy eingerichtet, damit ich ihn sofort verständigen konnte, falls ich in Gefahr geriet. Er war ein ziemlicher Technikfreak. Doch er kam meistens zu spät.

Ich drückte mich an ihn und fing an zu weinen.

»Daddy, sie … Sie haben mich angegriffen! Jetzt sind sie … Jetzt sind sie alle tot!«

Die Erkenntnis, was ich angerichtet hatte, kam meistens zu spät. Es war eine Art Trance, in die ich fiel, sowie mir jemand zu nahe kam und Panik meinen Verstand lähmte.

Mein Vater seufzte. Das war nicht das erste Mal, dass ich ein riesiges Blutbad angerichtet hatte. Und es war auch nicht das erste Mal, dass ich in der Gewalt irgendeines Fremden gewesen war. Kam ein normaler Mensch erst einmal hinter mein Geheimnis, war ich für ihn sehr wertvoll. Ein unerforschtes Experiment. Eine Todesfee. Und ich war nicht die einzige.

Vor vielen tausend Jahren waren Wesen der Anderswelt auf die Erde gekommen und hatten sich mit Menschen gepaart. Halbdämonen mit unterschiedlichen Fähigkeiten waren entstanden und von Zeit zu Zeit setzten sich bei einem Kind die Gene eines solchen Vorfahren durch und es wurde dadurch zu einem Halbdämon. Es war sehr selten und musste geheim gehalten werden. Eine Legende, an die nur diejenigen glaubten, die wussten, dass es keine Legende war.

Bis zu meinem sechsten Lebensjahr hatte ich auch nichts von meiner Abstammung gewusst. Doch als ein Mann es nicht gut mit mir gemeint hatte, streckte mein Panikschrei ihn nieder, und ich hatte die Möglichkeit zu fliehen. Seitdem behandelte mein Vater mich wie seinen Augapfel.

»Setz dich ins Auto. Ich erledige alles«, erwiderte mein Dad sanft, nahm einen Benzinkanister aus dem Kofferraum und ein Feuerzeug und verschwand in der Fabrik.

Ich erledige alles. Man könnte meinen, er wolle einkaufen gehen. Er war ein Meister darin, seine Gefühle zu überspielen. Egal wie beunruhigt er war, er zeigte es nie. Er verschwand immer schweigend und kehrte meistens auch ohne ein Wort zurück. Ich wusste nicht, wie er es tat oder was er tat. Wie er meine Spuren so verwischte, dass keiner etwas bemerkte. Verbrannte er die Leichen und warf die Asche einfach in den Mülleimer? Als ich mich umsah, erblickte ich nichts als Felder. Ich befand mich mitten im Nirgendwo. Die Abendsonne blendete mich, weswegen ich die Autotür aufmachte und mich auf den Beifahrersitz fallen ließ.

Ich klappte den Spiegel nach unten, nahm ein Tuch aus dem Handschuhfach, das dort schon lag, seit wir das Auto hatten, und begann das klebrige Blut von meinem Gesicht abzuwischen. Meine Augen leuchteten noch immer in einem intensiven Orange. Es dauerte immer eine Weile, bis sie wieder braun wurden. Normalerweise bekam ich neben meiner enormen Kraft und dem lähmenden Schrei auch dunkle, transparente Flügel. Sie bildeten sich aber nur, wenn ich mich wirklich konzentrierte, und das konnte ich mir in manchen Situationen einfach nicht leisten. Außerdem musste ich den Umgang mit ihnen noch lernen. Ich war eine Todesfee, die das Fliegen nicht beherrschte. Welche Ironie! Allerdings mochte ich Höhen noch nie sonderlich, weswegen ich es auch nie ausprobierte. Schließlich hatte ich mir meine Fähigkeiten nicht ausgesucht.

Ich fuhr mit einer Bürste durch meine verklebten, langen Haare, doch es brachte nichts. Durch das Schwarz konnte man das Blut glücklicherweise nicht sehen, aber fühlen konnte ich es, und es brachte mich zum Würgen, wenn ich nur daran dachte. Sowie ich fertig war, trommelte ich nervös mit den Fingerspitzen auf der Ablage.

Nach ungefähr einer Stunde wurde die Autotür geöffnet und mein Vater setzte sich zu mir.

»Es tut mir leid, Dad!«, flüsterte ich und blickte zu Boden. Ich spürte seinen Blick auf mir und erwiderte ihn. Seine braunen Augen sahen müde aus, sein dunkles, kurzes Haar wirkte ungepflegt. Als hätte er den gleichen Gedanken, fuhr er sich durch die Strähnen, sodass alles etwas ordentlicher aussah.

»Es ist schon gut«, sagte er schließlich und tätschelte liebevoll mein Bein. »Aber so geht es einfach nicht weiter.«

Ohne mir richtig zu erklären, was er meinte, startete er den Motor und wir traten den Heimweg an. Die einsame Fabrik ließen wir hinter uns.

***

Das Wasser prasselte auf meinen Nacken und entspannte meine Muskeln. Es tat gut, all die Schuld, den Schmutz und die letzten Spuren der Berührungen dieser widerlichen Leute von mir abwaschen zu können. Ich rieb meine Handgelenke, die blau geworden waren. Sie würden schnell verheilen. Wir Halbdämonen heilten immer rasch. Zum Glück war Kera nicht zu dem gekommen, was er anscheinend mit mir vorgehabt hatte. Ich hatte schon viele Experimente und Folterungen ertragen und mittlerweile nagte es an meinem Verstand. Kera war derjenige, dem ich diese blauen Flecken zu verdanken hatte. Er hatte mir nach der Schule aufgelauert und mich in diese Fabrik verschleppt. Als ich aufgewacht war, waren meine Arme und Beine an eine Liege gefesselt gewesen. Dazu wurde mir Blut abgenommen und davon nicht zu wenig. Was Kera mit mir vorgehabt hatte, hatte ich nicht mehr herausgefunden, da ich die erste Gelegenheit genutzt hatte, um zu fliehen. Und nun war ich wieder zurück. In Sicherheit. Wenn man das so nennen konnte.

Während ich unter der Dusche stand, hörte ich meine Eltern laut diskutieren. Ich stellte das Wasser ab, wickelte mir ein Handtuch um und verließ das dampfende Bad. Kühle Luft schlug mir entgegen, als ich in den Flur tippelte, und ließ mich frösteln. Ohne ein Geräusch lehnte ich mich gegen das Treppengeländer und versuchte die Worte meiner Eltern zu verstehen.

»Du kannst sie nicht einfach dort hinschicken! Du weißt, wie sie auf so etwas reagiert«, hörte ich meine Mutter sagen.

»Diese Schule kann unsere Tochter besser beschützen, als wir es können. Sie haben extra ausgebildete Bodyguards, die ausschließlich für sie zuständig sind. Und so lernt Ezra endlich andere ihrer Art kennen. Das wird diesem kleinen Sturkopf guttun.«

»Du weißt doch, wie sie ist«, erwiderte meine Mom. »Sie kommt nie gut mit Fremden zurecht. Wer weiß, ob sie sich dort unter Kontrolle hat!«

»Ich gehe nirgendwo hin! Was fällt euch ein, mich von Zuhause wegzuschicken?« Ich stürzte die Treppen hinunter, das Handtuch fest umklammert. Meine Eltern starrten mich erschrocken an.

»Ezra, du bist siebzehn. Da kannst du durchaus auch mal alleine leb…«

»Ganz genau! Ich bin siebzehn! Und ich will nicht weg von hier!«

Der Blick meines Vaters verwandelte sich von purer Gutherzigkeit in eine steinharte Fassade.

»Ezra, du wirst auf dieses Internat gehen. Ich habe schon mit Mike gesprochen. Er ist der Schulleiter der Forest High. Hier bist du einfach nicht sicher!«

»Ich bekomme doch dort nur einen Platz, weil ich deine Tochter bin und Mike wieder irgendein Freund von dir ist, der dir in den Arsch kriechen will!«

»Ezra!«, rief meine Mutter entsetzt.

»Du gehst«, zischte mein Vater und ließ mich und Mom allein im Flur stehen.

KAPITEL 2

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Wütend warf ich die Kleider in meinen Koffer. Vor zwei Wochen hatte Dad beschlossen, mich auf ein Internat weit weg von meinem Zuhause zu schicken. Natürlich hatte Mike Harries alle nötigen Formulare unterschrieben und mein Vater hatte keine Kosten gescheut, um mir das Bestmögliche bieten zu können. Wir waren nichts Besonderes, aber wir hatten, dank der Firma meines Vaters, Geld wie Heu. Viel mitnehmen konnte ich nicht. Meine Eltern hatten mir versichert, dass sie mir alles nachschicken würden, was ich brauchte, oder dass ich in den Ferien mehr Kleidung holen könne.

Seufzend ließ ich mich auf mein Bett sinken, sah mich in meinem Zimmer um und versuchte mir die Einzelheiten noch einmal einzuprägen. Das Morgenlicht fiel durch das große Fenster neben mir und beschien die lila Wand und den flauschigen Teppichboden. Ich musste mich von niemandem verabschieden. Es gab keine Person, die mich vermissen würde. Außer vielleicht Cary-Ann, aber auch sie hatte nur selten etwas mit mir unternommen. Ich konnte nicht bestreiten, dass ich eine Einzelgängerin war, ob ich wollte oder nicht. Vielleicht wäre es wirklich ganz gut, von hier wegzukommen und Leute kennenzulernen, die mich besser verstehen würden als die gewöhnlichen Menschen in meiner Umgebung. Auch wenn ich nicht sonderlich gut darin war, Freundschaften zu schließen.

***

Eine Stunde später saß ich mit gepacktem Koffer neben meiner Mom im Auto und wir machten uns auf den Weg zum Bahnhof. Sie begleitete mich noch bis zum Gleis und verabschiedete sich dann von mir.

»Es tut mir leid, mein Schatz! Wir werden dich besuchen, sobald es geht, okay? Bald sind Herbstferien, dann kommst du schon wieder heim«, wisperte sie. Es klang eher, als wollte sie sich selbst überzeugen.

»Ist gut, Mom.« Ich umarmte sie fest. »Hab dich lieb.«

Es schien, als wollte sie mich gar nicht mehr loslassen, doch letztendlich ließ sie von mir ab und winkte mir schweren Herzens hinterher.

»Pass auf dich auf, verstanden? Und mach keinen Unsinn. Sei nett zu den Lehrern und versuch, nicht so zickig zu sein.«

»Mom! Ich schaffe das schon.« Ich rollte gespielt genervt mit den Augen und lächelte, bevor ich ihr einen letzten Kuss auf die Wange gab und in den Zug stieg.

»Schreib mir, wenn du da bist!«, rief sie, dann schlossen sich die Türen.

Jetzt war ich wohl oder übel auf mich allein gestellt. Ich suchte mir schnell einen Sitzplatz und machte es mir gemütlich. Es war elf Uhr am Vormittag und der Zug daher nicht sonderlich voll, sodass ich mit Leichtigkeit einen Fensterplatz fand. Die Landschaft zog an mir vorbei, die Bäume verschwammen irgendwann zu einem großen grünen Balken.

Schon bald hatte ich Wolfeboro hinter mir gelassen und befand mich auf dem Weg nach Cape Elizabeth. Siebzig Meilen entfernt von meiner Heimatstadt. Ich hatte Schlimmeres befürchtet. Meine Gefühle waren gemischt, aber trotzdem war es mir nicht allzu schwergefallen, mich von meinen Eltern zu trennen. Meine Mom und ich redeten nie sonderlich viel. Und Dad? Ich atmete einmal tief durch und kramte meine Kopfhörer aus der Tasche. Mit Musik verging die Zeit meist viel schneller.

***

Am Nachmittag erreichte ich endlich Cape Elizabeth und konnte nach einer gefühlten Ewigkeit endlich wieder aufstehen. Dabei hatte die Zugfahrt nur zweieinhalb Stunden gedauert. Ich stieg aus, hievte meinen Koffer aus dem Zug und sah mich um. Der Bahnhof war recht klein und sauber, nur wenige Menschen waren zu sehen.

»Sind Sie Miss Kuhn?« Ein kleiner älterer Mann kam in mein Sichtfeld, der auf dem Bahnsteig umherrannte und jedem jungen Mädchen mit Koffer ein Schild mit der Aufschrift »Ezra Kuhn« vor die Nase hielt.

Ich seufzte und ging zu ihm.

»Hallo, Sir, ich bin Ezra Kuhn.«

Er musterte mich kurz, doch sein kritischer Blick verwandelte sich dann gleich in ein warmes Lächeln.

»Jaja, sie sehen ihrer Mutter sehr ähnlich.«

Bevor ich ihn fragen konnte, woher er meine Mutter kannte, kam er ein Stück näher und ergänzte: »Zum Glück ähneln sie nicht ihrem Vater!«

Er lachte über seinen eigenen Witz und stellte sich schließlich vor: »Ich bin Luis Wid, Chauffeur an der Forest High. Mein Auftrag ist, Sie sicher in die Schule zu bringen.«

Ich folgte ihm argwöhnisch. Seit wann hatten Schulen einen Chauffeur? Verblüfft blieb ich vor der Limousine stehen, die uns am Straßenrand erwartete.

»Damit fahren wir?« Ich zeigte auf den schwarzen Wagen.

»Aber sicher. Ist sie Ihnen zu klein?«, ächzte Luis Wid, während er meinen Koffer im Kofferraum verstaute.

»Machen Sie Witze?«

Bevor ich den Türgriff erreichen konnte, hastete er vor mich und öffnete mir die Tür. Ich ließ mich auf die Rückbank sinken und verkniff mir ein Kichern.

Trotz meiner Zweifel fuhr Luis Wid mich zum Internat, wie ihm geheißen. Die Fahrt dauerte nicht sonderlich lang und es war ein schöner Weg. Viel Grün, wenige Straßen und Zivilisation. Irgendwann tauchte das Internat hinter dichten Bäumen auf. Ein großer Kasten, mit einer Unmenge an Blumen geschmückt und umgeben von einem dichten Wald. Es erinnerte mich an ein Hotel und vor dem großen Kiesweg, der zum Eingang führte, stand tatsächlich ein leuchtendes Schild mit der Aufschrift »Forest High«.

Meine Laune sank. Für mich sah dieser Platz eher wie ein Schnöselhotel aus als wie eine Schule. Was hatte Dad da nur wieder ausgesucht?

»Die Schule ist hochmodern und bietet jedem Schüler große Sicherheit. Ihnen wird es hier an nichts fehlen«, schwärmte Luis. »Die Einwohner von Cape Elizabeth wissen zwar, dass diese Schule existiert, aber sie ist doch recht abgelegen. Es verirren sich nur selten Menschen hierher.« Er fuhr die Auffahrt hinauf und hielt direkt vor dem Eingang, der mit Büschen gesäumt war, die menschlichen Gestalten ähnelten. Ein Diener kam auf uns zu, begrüßte uns höflich und trug meine Sachen ins Haus.

Wo zur Hölle war ich hier?

»Miss Kuhn«, meldete sich Luis Wid zu Wort und tippte auf meine Schulter. »Ich werde Sie noch schnell zum Direktor führen.«

Ich folgte ihm schweigend. Die Halle, die wir betraten, war riesig und pompös. Weiße, mit Gold verzierte Säulen ragten an den Wänden bis zur Decke. Die Vorhänge, die die großen ovalen Fenster etwas versteckten, waren aus dunklem Samt und sogar das Sofa, welches neben der Eingangstür stand, war mit hübschen Ornamenten bestickt. Trotzdem wirkte die Halle trotz ihrer Größe gemütlich. Der Chauffeur führte mich durch einen langen Gang bis zu einer dunkelbraunen Tür. Wie groß war eigentlich dieses Gebäude? Von außen sah es viel kleiner aus, aber hier drinnen kam es mir riesig vor. Luis verabschiedete sich höflich und klopfte noch für mich an, bevor er verschwand.

»Herein«, ertönte es.

Als ich den kleinen Raum betrat, hatte ich einen jungen Mann vor mir, der mich freundlich anlächelte.

»H… Hallo«, begrüßte ich ihn schüchtern und gab ihm die Hand.

Na, Ezra, wo ist dein Selbstvertrauen jetzt?

Er sah gut aus mit seinen blauen Augen, die mich an den kalten Atlantik denken ließen, und den pechschwarzen Haaren, die im Nacken etwas zu lang waren. Ich erwischte mich dabei, dass ich ihn anstarrte. Peinlich berührt sah ich rasch aus dem Fenster, als ich merkte, dass meine Wangen zu glühen begannen. Er sah ganz anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Man hätte denken können, dass er Mitte zwanzig war, aber ich war mir sicher, dass ich mich irrte. Denn das dämonische Alter konnte nicht allzu selten stark täuschen. Wir alterten erheblich langsamer und wurden deswegen um einiges älter als normale Menschen. So war es möglich, dass ein Fünfzigjähriger mit etwas Glück aussehen konnte wie Anfang zwanzig.

»Ich bin Mike Harries, der Direktor der Schule. Vielleicht erinnerst du dich noch an mich.«

Warum in Gottes Namen sollte ich dich kennen?

Aber ich wollte nicht unhöflich wirken. »Ich bin Ezra Kuhn, Sir. Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, woher ich Sie kennen sollte.«

Er runzelte die Stirn für einen Moment, als hätte ich eine Erinnerung in ihm geweckt, doch dann lächelte er wieder. Seine Augen wechselten zwischen meinen, dann seufzte er tief.

»Kein Problem. Aber sicher hast du gehört, dass ich ein guter Freund deines Vaters bin. Er sagte mir, dass du eine fleißige Schülerin bist. Hoffentlich wirst du uns dies hier demonstrieren. Dein Vater hat mich bereits genauestens über deine Lage informiert. Wie du vielleicht weißt, bekommt jeder Schüler einen persönlichen Bodyguard, denn niemand will, dass dir noch einmal etwas zustößt.«

Was? Das mit den Bodyguards ist deren Ernst? Ganz ruhig, Ezra. Beruhige dich!

»Das Schulgebäude befindet sich hinter dem Internat am Waldrand«, fuhr Direktor Harries fort. »Ich werde jemanden schicken, der dir alles zeigt und erklärt.«

Ich nickte nur, wobei ich schon überlegte, wie ich am besten flüchten konnte. Ich würde es hier keinen Tag aushalten.

»Zu deinem Apartment fährst du einfach mit dem Fahrstuhl hier gegenüber in den dritten Stock. Du wirst dein Zimmer gleich finden, denn davor wartet bereits dein Bodyguard. Er wird dir deine Karte geben und dich einweisen. Zero ist schon einige Jahre im Amt, er wird dich also gut beschützen. Solltest du noch Fragen haben, kannst du jederzeit zu mir kommen.«

»Okay, danke.« Ich lächelte und verschwand ohne ein weiteres Wort aus seinem Büro.

***

Ich stellte mich in den Aufzug und drückte den Knopf mit der Drei. Warten, bis das Bing ertönt, und dann auf den Bodyguard achten. Klang recht einfach, das würde sogar ich schaffen. Er hätte mir aber mal die Zimmernummer sagen können, also ehrlich! Andererseits hatte er ja kaum Zeit dazu gehabt, da ich förmlich aus seinem Büro geflohen war.

Der Aufzug stoppte und ich lugte in den Flur. Der Gang schien mir unendlich lang, aber ich entschied mich, erst einmal nach links zu gehen. Als ich um die Ecke bog, stieß ich beinahe mit einem jungen Mann zusammen.

»Ups, sorry«, murmelte ich, doch als ich sein Outfit sah, blieb ich stehen. Anzug, Stöpsel im Ohr, Krawatte. »Ähm, Verzeihung, aber bist du einer der Bodyguards?«, fragte ich, und es war mir verdammt peinlich.

»Ja, ich warte auf einen neuen Schüler. Ezra Kuhn.«

Er würdigte mich keines Blickes.

»Du meinst wohl: Schülerin. Ezra ist ein Mädchenname«, erwiderte ich mit einem Anflug von Schärfe.

»Ich diskutiere darüber nicht.«

Was für ein Idiot!

»Tja, dann bin ich wohl ein Junge. Ich bin Ezra Kuhn. Freut mich sehr, dich kennenzulernen.«

Das »sehr« betonte ich besonders gehässig. Jetzt sah er mich das erste Mal an. Er war hübsch! Verdammt hübsch sogar! Ich konnte ihn nicht weiter betrachten, denn er riss mich aus den Gedanken.

»Soll ich dir dann dein Zimmer zeigen?«, fragte er freundlicher und zog eine Karte hervor.

Ach, plötzlich kannst du nett sein?

Ich kniff die Augen zusammen und war wieder so mies gelaunt wie zuvor. Trotzdem beschloss ich, mich zusammenzureißen. Ich würde mir hier mehr Mühe geben und mein Temperament zügeln. Der Typ schloss auf und ging voraus. Mit offenem Mund blieb ich im Türrahmen stehen und sah mich um. Das sollte ein Zimmer sein? Das war ein verdammter Palast! Der Wohnraum hatte mindestens fünfzig Quadratmeter.

Im Wohnraum stand ein großes Doppelbett, außerdem ein Tisch, eine Schrankwand und mehrere Kommoden. Vor der riesigen Fensterfront war ein cremefarbenes Sofa platziert, vor dem jemand meine Koffer abgestellt hatte.

»Es gibt noch ein Bad«, sagte der Mann, als er meinen erstaunten Blick bemerkte, und führte mich weiter. Das Badezimmer war luxuriös eingerichtet. Dusche, Badewanne, zwei Waschbecken, Duschgel und alles Mögliche an Badezusätzen. Ich ging zurück in den Wohnraum, setzte mich auf das vom Abendrot geflutete Bett und blickte aus dem großen Fenster zu meiner Linken. Erst konnte ich nur ein paar Bäume sehen, dann fiel mein Blick auf das Schulgebäude. Ein Räuspern. Der Typ stand immer noch an der Tür.

»Okay«, seufzte ich. »Jetzt erzähl mir mal etwas über dich. Über mich weißt du ja bestimmt schon alles.«

Er schaute mich nur verwirrt an, setzte sich aber schließlich doch auf das dem Bett gegenüberliegende Sofa. »Wie heißt du?«, fing ich an und schlug die Beine übereinander.

»Ist das von Bedeutung?«

War das ein Witz?

»Ja, ist es. Du arbeitest nun für mich und ich kann dich ja schlecht ›Bodyguard‹ oder ›Typ im schwarzen Anzug‹ nennen«, antwortete ich trocken.

»Mein Name ist Zero Fox.«

»Aha, und wie alt bist du?«

»Fünfundzwanzig.«

»Und wieso wurdest du mir zugeteilt? Ich bin eine Todesfee und bin bisher immer alleine zurechtgekommen«, hakte ich nach.

»Das ist mir bekannt. Ich bin aber trotzdem für Sie zuständig, damit Ihre Identität geheim bleibt und Sie nicht mehr in Gefahr geraten.«

»Bitte«, stöhnte ich. »Sag Ezra zu mir! Ich hasse es, wenn mich jemand siezt!« Ich wartete auf seine Bestätigung, und als keine Antwort kam, fuhr ich fort: »Wo wohnst du?«

»Bei Ihnen, äh, dir, hier nebenan«, antwortete Zero, ging zu einem der Regale und schob es mit Leichtigkeit beiseite. »Eine einfache Schiebetür«, erklärte er mit einem charmanten Lächeln und ging durch den Türrahmen. Ich folgte ihm. Sein Zimmer sah nicht viel anders aus als meins, nur …

»Und dein Bad? Gibts da so ne Gemeinschaftsdusche für Bodyguards oder so?«, fragte ich vorsichtig.

»Wir müssen uns ein Bad teilen.«

»Was?«

Wofür zahlte mein Vater so viel Geld?

»Keine Angst. Du wirst mich nie sehen.«

Er lächelte, wirkte aber selbst nicht glücklich bei dem Gedanken, sich mit mir ein Apartment teilen zu müssen. So viel zu einem guten ersten Eindruck.

»Und wieso hast du kein eigenes Zimmer? Du kannst jederzeit in mein Zimmer kommen oder musst hier durchgehen, um in deines zu kommen«, stellte ich empört fest.

Er seufzte genervt.

»Damit ich sofort bei dir bin, falls du angegriffen wirst. Und außerdem hat mein Zimmer noch eine eigene Tür.«

»Na wenigstens etwas.«

Klang logisch. War aber unzumutbar.

»Ich verschwinde nun. Falls etwas passiert, ruf mich einfach, indem du diesen Knopf drückst.«

Zero gab mir eine kleine Fernbedienung mit nur einem roten Knopf. Schließlich verzog er sich in sein Zimmer und zog das Regal vor den Eingang.

Willkommen in der WG, Ezra!

Ich fing an, meine Sachen auszupacken, schrieb meiner Mom eine SMS und machte mich schließlich bettfertig.

KAPITEL 3

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»Okay, hier die Regeln«, sagte ich am nächsten Morgen zu Zero, als wir auf dem Weg zum Frühstückssaal waren. »Erstens: Du betrittst meinen Raum nicht mehr nach zehn Uhr abends! Zweitens: Wenn du mich noch einmal siezt, werde ich wütend, und drittens wirst du mir nicht überallhin folgen!«

Sein Lachen verwirrte mich etwas, jedoch antwortete er deutlich: »Nummer eins lässt sich machen. Nummer zwei auch, nur mit Nummer drei gibt es ein Problem. Denn wenn dir etwas passiert, ist es meine Schuld.«

Ich schnaubte verächtlich. Ich kam mir vor wie in einem Gefängnis. Aber was sollte ich schon dagegen tun? Mir fiel nichts ein, also ließ ich das Thema erst einmal fallen und folgte ihm schweigend. Zero brachte mich bis zum Speisesaal, dann verabschiedete er sich.

Na geht doch!

Aber als ich den Saal betrat, standen überall weitere Bodyguards. Ein Schnauben entfuhr mir.

»Ich werde dich nach der Schule wieder abholen«, sagte Zero und sah sich prüfend um, als wolle er kontrollieren, ob auch wirklich genug Bodyguards anwesend waren.

»Aber … das sind doch nur zwanzig Meter!«

Er sah mich mit einem ernsten Blick an, der zeigte, dass er keine Widerrede duldete, und ich verstummte.

Ich befand mich in einem riesigen Saal, der nicht besonders voll war. Ungefähr hundert Schüler oder ein paar mehr. Ein Mädchen kam zielstrebig auf mich zu und begrüßte mich mit einem freudigen Lächeln.

»Hi, ich bin Alena. Du musst Ezra sein. Falls du dich wunderst, woher ich das weiß, wir sind eine kleine Schule. Jeder kennt hier jeden. Ich bin in der nächsten Woche für dich zuständig.«

Ihre blonden Haare fielen in sanften Wellen um ihr rundes Gesicht und betonten ihre blauen Augen. Sie war hübsch. So wie alle hier. Das war der Vorteil daran, ein Halbdämon zu sein. Man war mit Schönheit gesegnet, wurde seltener krank und um einiges älter als normale Menschen.

»Also, die Bücher liegen schon in deinem Fach und hier ist der Schlüssel dafür.«

Lächelnd hielt sie ihn mir vor die Nase. »Komm, ich stell dir meine Freunde vor.«

Ich folgte ihr an einen Tisch, an dem noch zwei andere Schüler saßen.

»Hi, ich bin Liam.«

Dunkelblonde, kurze Haare. Graue Augen. Charmantes Lächeln. Der andere Junge würdigte mich keines Blickes. Er hatte dunkelbraune Haare, seine Augen waren auf sein Essen gerichtet.

»Und das ist Bran. Er ist manchmal etwas schüchtern«, feixte Liam und stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite, sodass Bran protestierend aufsah.

»Komm, wir holen uns etwas zu essen. Ich sterbe gleich vor Hunger«, schlug Alena vor. Ich nickte und folgte ihr. Das Buffet war riesig.

»Was für ein Luxus, nicht?«, schwärmte sie, während sie Cornflakes in eine Schüssel schaufelte.

»Bis auf das Teilen des Zimmers mit dem Bodyguard«, ergänzte ich und bekam ein überraschtes Lachen als Antwort.

»Also, ich finde das cool. Ich meine, wer will sich nicht mit einem gut aussehenden Typen das Apartment teilen, hm?«

Damit hatte sie nicht ganz unrecht. Zero hatte tatsächlich etwas an sich, mit seinem braunen Haar und den dunklen Augen. Er hatte volle Lippen und um seine Mundwinkel immer ein zaghaftes Lächeln. Außerdem hatte er tolle Wangenknochen.

Moment mal! Wer dachte denn bitte über Wangenknochen nach? Und vom Äußerlichen mal ganz abgesehen wirkte er außerdem total kalt.

Ich schüttelte den Kopf, um Zero aus meinen Gedanken zu bekommen, nahm mir zwei Marmeladenbrote vom Buffet und setzte mich mit Alena wieder zurück an den Tisch.

»Leute, ich habe die Lösungen für die Klassenarbeiten!«

Ein hübsches Mädchen mit kirschrotem Haar gesellte sich zu uns.

»Was? Du machst Witze! Woher hast du die, Kat?«

»Oh, hi, dich kenne ich nicht. Bist du die Neue? Mitten im Jahr? Wie kommt’s?«

Sie hatte ein wirklich süßes Lächeln.

»Ja, ich bin Ezra. Mein Dad hat es mit mir anscheinend nicht mehr ausgehalten, nun ja …«

»Was sind deine Fähigkeiten?«, meldete sich Liam zu Wort.

Ich zögerte. Sollte ich völlig fremden Leuten meine Stärken anvertrauen?

»Ich bin eine Todesfee«, antwortete ich kurz. Jetzt sah mich auch Bran interessiert an. »Mein Schrei lähmt.«

»Bekommst du auch Flügel?«

»Manchmal. Ich weiß noch nicht genau, wie ich sie bewusst einsetze.«

»Na ja, dafür bist du schließlich hier. Zweimal die Woche bekommst du Kampftraining«, fügte Bran hinzu.

»Was seid ihr für … Dämonen?«, fragte ich vorsichtig.

»Ich bin eine Höllenkatze.« Kat grinste. »Mein Biss ist giftig und mein Katzenschwanz so scharf wie ein Schwert.«

»Cool.« Katzenschwanz? Es passte zu ihr.

»Ich bin ein Schattengeist. Ist schwer zu beschreiben«, antwortete Liam.

»Er kann sich in eine Art Schatten verwandeln, dann sieht man ihn kaum, und er kann einfach so jemanden beobachten oder sogar umbringen. Er ist also eine Art Spion«, warf Alena ein.

»Wenn du es so sagst, klingt es ziemlich grausam«, sagte er. »Wir sind Halbdämonen. Wir können schlecht flauschig sein.«

Wir lachten. Die waren doch eigentlich ganz nett, oder? Fühlte es sich so an, mit seiner Clique zu frühstücken und herumzualbern?

»Ich bin übrigens eine Sirene.« Alena zwinkerte mir zu.

»Lass mich raten: Dein Gesang bringt alle Männer dazu, dir zu folgen, und deine Schönheit ist noch atemberaubender?«, riet ich.

Mein Vater hatte mir mal von einer Sirene erzählt, die er kannte. Wenn sie sich verwandelte, bekam sie lange, blaue Haare und die längsten Beine, die er je gesehen hatte.

»Wow, ja. Das stimmt.« Sie sah mich verblüfft an.

»Ich muss los«, meinte Bran plötzlich »Bis nachher in der Schule.« Er lächelte kurz und stand auf. Er hatte mir seine Fähigkeiten nicht verraten. Interessiert sah ich ihm nach. Er schien geheimnisvoll und verschlossen, aber er hatte bestimmt einen guten Kern.

»Wir gehen auch mal. In fünfzehn Minuten beginnt der Unterricht«, sagte Alena.

Wir stellten unsere Teller auf das Fließband, das das dreckige Geschirr in die Küche brachte, und machten uns auf den Weg ins Schulgebäude. An jeder Tür standen Bodyguards.

»Gehören die zu jemandem?« Ich zeigte auf die Männer.

»Nein. Die stehen hier überall, da wir zur Schulzeit unsere Bodyguards nicht an unserer Seite haben«, erklärte Kat.

»Und was machen sie, wenn wir weg sind?«

»Dann haben sie frei. Feiern wahrscheinlich.« Alena grinste.

Sie erklärte mir noch ein paar weitere Sachen und ich versuchte mir alles zu merken. Danach wusste ich, wo sich die Spinde und die Toiletten befanden, wo der beste Platz zum Lernen war und welche Plätze ich besser meiden sollte.

***

Der erste Schultag war anstrengend. Das Schulgebäude war nicht sonderlich groß und trotzdem verirrte ich mich gefühlt zehn Mal. Man kam sich vor wie in einem Dorf. Von allen Seiten wurde ich angestarrt und wie Frischfleisch analysiert. Ich war erleichtert, als die Klingel die letzte Stunde beendete und ich mich auf den Weg zum Internatsgebäude machen konnte. An der Treppe wartete ich mindestens zehn Minuten auf Zero, bis ich feststellen musste, dass er wohl nicht kommen würde, und allein zurück zu meinem Zimmer schlenderte.

»Und, wie war dein erster Schultag? Hattest du Spaß?«, begrüßte Zero mich grinsend, als ich die Tür zum Apartment öffnete.

»Ich dachte, du holst mich ab? Was machst du in meinem Zimmer?«

Er erhob sich vom Sofa.

»Ich wollte testen, ob du allein zurückfindest, und ich habe nur ein winziges Zimmer. Hier ist es viel heller.«

»Du scheinst deinen Job ja richtig ernst zu nehmen, wenn du mich allein herumgeistern lässt.« Ich warf meinen Rucksack lieblos neben die Couch und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien und ich konnte etwas frische Luft gebrauchen. »Ich gehe spazieren. Will mich mal umsehen. Bis später.«

»Ich komme mit dir«, sagte er und kam auf mich zu.

Na ja, einen Versuch war es wert gewesen. Zusammen machten wir uns auf den Weg nach unten, standen im Aufzug schweigend nebeneinander. Ab und zu schielte ich zu ihm hoch. Wie er da stand in seinem Anzug, mit den Händen vorne überkreuzt und starrem Blick geradeaus.

»Hast du irgendwelche Hobbys?«, fragte ich, um die Stille zu brechen.

»Ich passe auf, dass kleine Kinder ihre Fähigkeiten unter Kontrolle haben.«

»Danke, so genau wollte ich es gar nicht wissen«, schnaubte ich.

Er lächelte, wahrscheinlich darüber, dass ich mich über seine Antwort ärgerte. Die Aufzugtüren öffneten sich wieder und wir traten nach draußen. Die Sonne wärmte nicht sonderlich, trotzdem schloss ich die Augen und genoss die Strahlen, die meine Nase kitzelten.

»Ich will in den Wald«, sagte ich und steuerte auf den kleinen Weg zu, der in das dunkle Gebirge führte.

»Kommt nicht infrage.« Zero packte mein Handgelenk.

»Hey! Wenn du nicht mitkommen willst, dann geh! Ich brauch keinen Babysitter!«

Wie ein Kleinkind riss ich mich los und rannte, so schnell ich konnte, in das düstere Gestrüpp. Ich hörte Zero meinen Namen rufen, aber ich hatte einen guten Vorsprung. Auf gewisse Weise fand ich es lustig, wie er verzweifelt versuchte, seinen Job zu machen. Plötzlich hörte ich einen Knall, etwas streifte mich. Ein Schuss!

KAPITEL 4

Vignette

Schreiend fiel ich zu Boden und umklammerte meinen Arm. Dumpfe Stimmen. Jemand zog mich grob nach oben. Ein Mann. Schwarze Haare und … schwarze Augen! Ich erschrak, wollte mich aus seinem Griff winden, aber er war zu fest.

»Ah, was ein bezaubernder Zufall! Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen. Vorerst war ich etwas geschockt, als ich meine Freunde verbrannt in der alten Fabrik fand. Ich schätze mal, wir hatten dich unterschätzt. Aber ich glaube, du bist nicht mehr ganz so stark, wenn du nicht mehr schreien kannst, oder?«

Seine Augen färbten sich rot, er näherte sich meinem Hals, hielt mir den Mund zu, sodass ich nicht schreien konnte. Die Männer, die um uns herum auftauchten, sahen uns lüstern zu, und ich bekam noch mehr Panik. Plötzlich durchfuhr mich ein stechender Schmerz. Er trank mein Blut! Wie ein Vampir! War er auch ein Halbdämon? Ich wurde schwächer und auch meine Kraft wirkte gegen ihn nicht. Er war mächtig. Ich fiel einfach zu Boden. Hatte er mich losgelassen? Geschrei und der Geruch nach Blut folgten. Dann war alles still.

»Ezra! Hey!«

Ich öffnete die Augen.

»Bleib da! Komm schon!«

Meine Sicht wurde klarer. Vor mir stand Zero, seine Augen glühend lila und er war vollkommen in Schwarz gekleidet. Aus seinem Rücken ragten zwei große, gefiederte Flügel. Er war ein Todesengel!

»Und ich hab dir noch gesagt, geh nicht in den Wald. Aber nein, Miss Perfect muss ihr eigenes Ding durchziehen! Der Typ heißt Kera, ich kann nicht fassen, dass er sich traut, hier aufzukreuzen. Er wird schon seit Langem gesucht. Er ist ein Blutwolf. Blut macht ihn mächtig und Dämonenblut noch viel mehr. Ich werde sofort Mr Harries davon berichten, wenn wir zurück sind.«

Er half mir hoch, langsam konnte ich wieder klar denken.

»Ich kenne ihn«, wisperte ich. »Er hat mich schon einmal gejagt.«

»Was will er von dir?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Das letzte Mal hat er mein Blut abgezapft und eben hat er mir doch tatsächlich in den Hals gebissen. Wo ist er?«

Zero seufzte. »Abgehauen. Er hat die Zeit genutzt, in der ich mich verwandelt habe. Er war wohl nicht auf einen Kampf aus.«

Ich blieb stehen und lächelte ihn aufrichtig an.

»Danke, Zero.«

»Das ist doch mein Job.«

Das war ja mal etwas ganz Neues! Zero antwortete nicht sarkastisch oder beleidigend.

»Aber beim nächsten Mal hörst du auf mich, klar? Ich fühle mich wirklich wie ein Babysitter.«

Und da war er wieder.

Als wir wieder im Apartment waren, verarztete Zero mich zunächst. Er hatte wieder seine menschliche Gestalt angenommen. Als er sich meinen Biss genauer angesehen hatte, war er nach draußen geeilt und erst einige Zeit später zurückgekommen.

»Wo warst du?«, fragte ich, als er sich neben mich setzte und eine Kompresse an meinen Hals drückte. Ein brennender Schmerz durchzuckte mich.

»Au! Was ist das?«

»Halt jetzt still!« Er strich konzentriert über meine Wunde. »Das Mittel hilft gegen Entzündungen. So ein Biss ist gefährlich. Hier …« Er zückte eine kleine Kette mit einem Amulett in der Form eines Sichelmondes. »Diese Kette wurde in Agrimonia getränkt. Sie wird dich vor unerwarteten Flüchen schützen.«

»Flüchen?«

Hatte Kera gezaubert?

»Ja, der Biss ist ein Fluch.«

Zero fragte mit einer Handbewegung, ob er mir die Kette umlegen dürfte. »Trage sie immer. Und wenn es nur in deiner Hosentasche ist. Lege sie nie länger als zwanzig Minuten ab. Hast du mich verstanden?«

Oje, auf etwas so Kleines aufpassen? Darin war ich noch nie gut gewesen.

»Hey, hast du verstanden?«, wiederholte er ernst.

»Ja, habe ich«, murmelte ich zurück.

Um Punkt zehn zog er sich in sein Zimmer zurück. Ich zog mich um und legte mich in das große Bett. Nun war ich bereits zwei Tage hier. Kurz bevor ich einschlief, strich ich noch einmal über das kühle Metall der Kette und betrachtete sie genauer. Im Mond waren einzelne Muster zu erkennen, die sich wie ein Faden durch ihn hindurchzogen. In der Mitte war ein kleiner blauer Stein befestigt, der kaum auffiel. Ich merkte, wie meine Augenlider schwerer wurden, und kuschelte mich in mein Kissen.

***

»Man ist aber auch wirklich nirgendwo sicher!«, schimpfte Alena am nächsten Morgen beim Frühstück. Ich hatte ihr erzählt, dass Kera mich am Tag zuvor angegriffen hatte.

»Ist dir das schon häufiger passiert?« Kats Stimme hatte einen besorgten Unterton.

Ich bejahte.

»Dann ist es ja gut, dass du jetzt hier bist. Ich wurde schon als Kind in meinen Fähigkeiten trainiert, damit sie mal so ausgeprägt sind wie jetzt«, gab Alena an und warf ihre blonden Haare zurück.

»Ach ja, und warum bist du dann noch hier?«, fragte Bran. Ich musste mir ein Lachen verkneifen.

»Morgen ist Kampfstunde. Das ist übrigens jeden Mittwoch. Da es mehrere Neue gibt, wird der Kampfplan erst heute Abend ausgehängt«, erklärte Kat.

»Kampfplan?«, fragte ich verwundert.

»Wir können nicht alle gleichzeitig trainieren, aus Sicherheitsgründen. Deshalb werden wir immer in Zweierteams eingeteilt, die zu bestimmten Zeiten üben. Das kann sich von dreizehn bis zwanzig Uhr ziehen.«

»Okay. Ich hoffe, ich kann mir das alles merken«, seufzte ich und wir machten uns auf zum Unterricht. Abgesehen von den Bodyguards, den Sondertrainingseinheiten und der Überschönheit der Halbdämonen war es doch immer noch ein normales Internat.

Als die letzte Stunde ausfiel, beschloss ich, in mein Zimmer zurückzukehren, um den fehlenden Stoff nachzuholen. Alena und Kat wurden von ihren Bodyguards abgeholt. Ich würde Zero nicht zu mir rufen, denn ich war froh darüber, kurz allein zu sein. Trotz des ausgefallenen Unterrichts war es bereits vier Uhr.

»Und du willst wirklich nicht mit in den Park?«, fragte Kat noch einmal und umarmte mich zum Abschied.

»Nein, ich will noch ein bisschen was für die Schule machen.« Ich umarmte auch Alena.

»Aber das kannst du doch auch in den Herbstferien. Die fangen schon in zwei Wochen an.«

»Ich mach das lieber heute. Aber ein anderes Mal komme ich gerne mit euch.«

Ich fand es schön, dass wir uns nach zwei Tagen schon recht vertraut waren. Es war ungewöhnlich. Und noch ungewöhnlicher war es für mich, dass ich so schnell Vertrauen gefasst hatte. An meiner alten Schule hatte sich niemand für mich interessiert außer meinem Geschichtslehrer, der immer ein bisschen auf mich geachtet hatte, und Cary-Ann. Aber sie hatte sich nicht einmal gemeldet, seit ich fortgegangen war. Anscheinend war ich ihr doch nicht so wichtig gewesen, wie ich gedacht hatte, aber um ehrlich zu sein kümmerte es mich kaum. Ich hatte mich selten meinen Mitschülern verbunden gefühlt und manchmal war es mir vorgekommen, als merkten sie, dass ich anders war.

Gedankenverloren blickte ich den beiden Mädchen und ihren Bodyguards, ziemlich aufgeweckten und humorvollen Zwillingen, hinterher.

Ich stieg in den Aufzug und drückte den Knopf für die dritte Etage.

Die sollten wirklich die Aufzugsmusik ändern!

Oben angekommen lief ich den Flur entlang. Der rote Teppich, der sich durch den gesamten Gang zog, wirkte sauber und edel, wie auch der Rest des Internats. Ich zog die Schlüsselkarte hervor. Ein Klicken ertönte und die Tür öffnete sich. Der Raum war leer, mein Bett war gemacht und die Rollläden waren nach oben gezogen worden. Von Zero gab es keine Spur. Leise schob ich das Regal beiseite und betrat sein Reich.

»Zero?« Ich lugte um die Ecke zu seinem Bett und konnte sein braunblondes Haar zwischen der weißen Bettwäsche entdecken. So ein fauler Sack! Ich ging ein paar Schritte vor und wiederholte seinen Namen etwas lauter. Erst jetzt erkannte ich, dass er nicht allein war. Eine junge Frau rekelte sich in seiner Umarmung und blickte auf.

»Ezra!«, rief Zero entsetzt und schreckte hoch. »Was machst du schon hier?«

»Ich … Sorry!«, stotterte ich und hielt mir eine Hand vor die Augen, um nicht auf seinen nackten Oberkörper zu starren. Ich tippelte rückwärts aus dem Zimmer und schob hastig das Regal wieder an seinen Platz. Sowie ich allein war, konnte ich mein Kichern nicht mehr unterdrücken.

Einige Zeit später stürmte Zero wütend in mein Zimmer. Mittlerweile lag ich ausgestreckt auf meinem Bett und war in ein Buch vertieft. Ich hatte schon einiges aufgeholt und ruhte mich nun ein wenig aus. »Wie wärs beim nächsten Mal mit Anklopfen? Und warum warst du nicht in der Schule? Laut meinem Plan hättest du bis fünf Unterricht gehabt«, fragte er, eine Zornesfalte auf seiner Stirn.

»Die letzte Stunde ist ausgefallen. Und wie soll ich bitte an ein Regal anklopfen, hm?«

Als er noch einen Schritt auf mich zumachte, schob ich nach: »Was? Hat dir eine nicht gereicht?«

Mit angespanntem Kiefer blieb er stehen und schnaubte verächtlich. Schließlich drehte er sich um und verschwand ohne ein weiteres Wort in seinem Zimmer. Oder hatte ich da gerade doch das Wort »Zicke« gehört? Ich konnte über seine offensichtliche Abneigung mir gegenüber nur lachen und zog eine Jogginghose und mein Schlafshirt für die Nacht an.

KAPITEL 5

Vignette

»Die Kampfpläne sind da«, rief Kat freudig und rannte zum Schwarzen Brett im Flur. Einige Schüler tummelten sich bereits davor, um selbst zu sehen, wer ihnen als Partner für das Kampftraining zugeteilt worden war.

»Ja! Alena, wir sind zusammen! Und Liam, du mit Bran!«

»Und ich?«

Meine Hoffnung schwand, da alle, die ich kannte, nun vergeben waren.

»Bei dir ein Jack Frost«, las Liam laut vor. Ich blickte ihn verwirrt an.

»Haha, Scherz, ein Conan Foster ist dein Partner.«

Ich stöhnte auf. »Wer ist das?«

Alenas belustigter Blick verwirrte mich.

»Er ist ein richtig guter Kämpfer, aber normalerweise hat er immer dieselbe Partnerin. Ich weiß nicht, ob du glücklich sein solltest oder besorgt. Er ist sehr ehrgeizig, aber wir haben nicht viel mit ihm zu tun.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Na super! Woher wisst ihr von seinen Kampfkünsten?«

»Glaub mir, Ezra: Diese Schule ist wie ein Dorf. Weiß es einer, weiß es jeder!«

***

»Kommt schon Leute, Bücher aufschlagen!«, rief Mr Adams und klatschte zweimal in die Hände. Der Geschichtslehrer war ein eher zierlicher Mann mit kurzen, blonden Haaren, die bereits langsam einer Glatze wichen, und einem liebenswürdigen Lächeln. Dazu trug er seltsamerweise jeden Tag eine Sonnenbrille. Mr Adams drehte sich zur Tafel und schrieb das Geschichtsthema an.

»Mr Fitz, denken Sie, ich sehe Sie nicht?«

Eine Sekunde später tauchte er hinter Liam auf und riss ihm sein Handy aus der Hand. Mr Adams war ein Teleporter!

»Man könnte meinen, dass Sie es nach zwei Jahren endlich begriffen hätten«, knurrte er und schaltete das Handy aus, legte es dann auf das Lehrerpult und drehte sich wieder zur Tafel.

Am Ende der Stunde flüsterte Kat mir zu: »Achtung, gleich kommts … Drei, zwei, eins.«

In dem Moment löste sich Liam in eine Art Schatten auf, der langsam über den Boden in Richtung Pult schlich. Er umhüllte das Handy und ließ es langsam zurück zu seinem Tisch wandern.

»Krass!«

»Aber so was von«, stimmte Kat mir zu.

Als die Schulklingel ertönte, standen alle Schüler erleichtert auf.

»Was machst du jetzt noch?«, fragte Alena, als wir den Flur entlanggingen.

»Ich schätze, Zero holt mich ab. Dann erledige ich den riesigen Berg an Hausaufgaben und später gehe ich zu meiner ersten Kampfstunde.«

»Wow, du bist ja eine echte Streberin.« Alena lachte.

»Nein, nur … im Moment. Komm schon!«

»Morgen. Park. Keine Widerrede!« Sie lächelte mich frech an.

Seufzend stimmte ich also zu und hielt nach Zero Ausschau. Schon von Weitem konnte ich ihn und Mirko, Alenas Bodyguard, warten sehen.

Ich verabschiedete mich von meiner Freundin.

»Wie war dein Schultag?«, fragte Zero, nachdem wir uns begrüßt hatten.

»Tu nicht so, als würdest du dich für mich interessieren«, murrte ich, als wir in den Fahrstuhl einstiegen. Es ging mir tierisch auf die Nerven, dass ich kaum eine Minute für mich hatte.

»Wann lässt du endlich mal die Leine locker? Ich schaff diese paar Meter auch allein.«

Plötzlich lachte er leise, was mich etwas verwirrte. »Du bist die Einzige, die sich so dagegen wehrt«, sagte er und schaute immer noch mit einem amüsierten Lächeln geradeaus an die Fahrstuhlwand.

Gut, mich anzugucken war natürlich auch sehr schwierig.

»Warum sollte ich wie ein Hund auf dich hören? Weil du älter bist? Oder stärker? Oder am besten noch, weil du ein Mann bist?«

»Nein. Weil du noch schwach und unerfahren bist!«

Endlich sah er mich an, sein Gesicht war ernst.

Touché.

Trotzdem war er ein Idiot! Aber ich hielt meinen Mund.

Als wir oben angekommen waren, warf ich die Schulsachen auf mein Bett und zog meine Jacke aus.

»Darf ich mich wenigstens alleine umziehen?«, fragte ich scharf, als ich merkte, dass Zero sich gegen das Sofa lehnte und mich ansah.

Er hob resignierend die Hände, verzog sich dann aber hinter das Regal, ohne zu widersprechen. Seitdem ich ihn gestern mit dieser Frau erwischt hatte, war er recht kühl zu mir. Egal.

Ich zog mich aus bis auf die Unterhose. Zum Training würde ich Leggins und ein enges Top tragen. Schließlich war das ja eine Art Sport, oder?

***

Zero begleitete mich nach unten in das Schulgebäude und von dort in den Keller. Es war ein einziges Labyrinth dort unten, aber er lief so flink, als wäre er jeden Tag hier.

»Wohin? Welcher Raum?«, fragte er im Gehen und schaute auf die Schilder an den Türen.

»319, glaub ich.«

»Glaubst du.« Er rollte mit den Augen und suchte weiter, bis er vor einer der Türen stehen blieb.

»Hier ist Raum 319. Drück den Knopf, wenn ich wiederkommen soll!«

Ich nickte und klopfte an die Tür, ehe ich sie öffnete. Ich musste zugeben, dass ich aufgeregt war. Ich war nicht besonders talentiert darin, neue Freunde zu finden oder überhaupt auf fremde Menschen zuzugehen. Das machte die ganze Situation ziemlich schwierig für mich.

Der Raum war recht groß. Die Wände waren ausgepolstert und auch auf dem Boden lagen dünne, blaue Matten. An einer Ecke befand sich ein großes Fenster, vor dem ein Junge auf einer Bank gegen das Fenstersims gelehnt saß und etwas auf einen Block schrieb.

»Hallo?« Es war zwar eher eine Frage als eine Begrüßung, aber er sah auf.

»Hi«, antwortete er und lächelte kurz. »Du bist dann wohl meine neue Trainingspartnerin, was? Ezra, richtig?«

»Ja, Ezra Kuhn. Und du bist vermutlich Conan!«

Er nickte. »Hast du schon oft trainiert?«

»Nein. Ehrlich gesagt noch nie. Ich bin neu hier.«

»Und davor?«

Mittlerweile war ich zu ihm gegangen und setzte mich neben ihn.

»Auch nicht. Mein Vater hat mich in diese Schule gesteckt, weil er der Meinung ist, dass ich mich nicht wehren könne. Dabei habe ich das fast immer geschafft, nur manchmal ist es etwas eskaliert.«

»Okay. Ich schätze, Daniel wird bald kommen.«

»Daniel?«

»Unser Trainer. Ich bin auch noch in der Lehre. Aber er ist cooler als im Unterricht. Glaub mir.«

In diesem Moment ging die Tür auf und Mr Adams trat ein.

»Sorry, Leute, aber ich sag euch, diese Katze, die immer die Fische aus dem Teich stiehlt, ist stärker, als sie aussieht … Oh, hallo, Claire! Hast du einen neuen Haarschnitt? Und ein neues Gesicht?« Er starrte mich an.

»Haha, sehr lustig, Daniel. Das ist Ezra. Ich habe dir doch gestern schon gesagt, dass Claire die Schule gewechselt hat.« Conan klang etwas genervt.

»Moment mal, das ist unser Trainer? Und du duzt ihn?«

»Wie du siehst, bin ich sehr vielfältig.«

Mr Adams grinste. Wie immer trug er seine Sonnenbrille, dazu nun ein schwarzes T-Shirt und Jeans.

»Ja, unter anderem ist er auch mein Onkel«, gab Conan mit einem verlegenen Grinsen zu, und Mr Adams setzte sich zu uns.

»Hi, ich bin Daniel Adams. Kennen wir uns schon?«, lächelnd reichte er mir die Hand, und ich schüttelte sie zögerlich.

»Ezra Kuhn. Ich habe Sie in Geschichte.«

»Ah ja, ich erinnere mich! Nenn mich ruhig Daniel, aber das bleibt unter uns, das heißt, in der Schule zu keinem einen Mucks, okay?«

Ich nickte sprachlos.

Daniel sprang auf und klatschte fröhlich in die Hände. »Auf gehts, Ladys, dann zeigt mir mal, was ihr könnt!«

»Sie kann noch gar nichts.«