Die Handlung der Geschichte, sowie sämtliche Personen sind frei erfunden und entsprechen in keiner Weise der realen Geschehnisse oder lebenden Personen. Ähnlichkeiten mit Handlungen, Gegebenheiten oder Personen sind rein zufällig.

1. Auflage 2020

Copyright © Gudrun Leyendecker

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Lektorat: Friederike Ramin

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Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 9783752633221

Laura, meine Freundin, saß neben mir auf der Schlossterrasse und sah in den sommerlichen Sternenhimmel hinauf. „Wie seltsam ist es doch, dass ich hier in Sankt Augustine dieselben Sterne sehe wie Kevin in Amerika. Ich bin zwar gerade erst hier angekommen, aber ich vermisse ihn trotzdem schon.“

„Das kann ich mir vorstellen“, stimmte ich ihr zu und reichte ihr das halb gefüllte Weinglas, aus dem es dunkelrot funkelte. Die Flammen der Kerzen spiegelten sich im Glas. „Hatte er denn wirklich dieses Mal keine Rolle für dich in seinem neuen Film?“

„Es ist ein Kriegsfilm, oder besser gesagt, ein Antikriegsfilm. Die Szenen sind wirklich zum Teil sehr brutal. Vielleicht hätte mir Kevin eine Szene in diesen Film eingebaut, wenn ich darauf bestanden hätte, aber ich konnte mich in diesem Drehbuch wirklich nicht wiederfinden. Und da hat er natürlich im Moment wahnsinnig viel zu tun, wann also hätte ich besser die Gelegenheit als jetzt, dich und die Rossinis hier im Schloss zu besuchen?!“

Ich hob mein Weinglas in ihre Richtung. „Auf uns, liebe Laura! Und auf ein paar schöne Ferientage gemeinsam mit dir. Das Timing war wirklich ausgezeichnet, denn gerade jetzt ist Ermanno mit seinen Studenten für die Exkursion im Harz. Ich würde ihn sonst auch schrecklich vermissen, aber wir beide, du und ich, können natürlich jetzt einen kleinen Trip planen. Was hältst du von Italien?“

„Eine Super-Idee! Wir könnten da alte Erinnerungen auffrischen. Immerhin hast du in Selva Molini Ermanno kennengelernt, und auch ich habe da ein paar unvergessliche Stunden mit Kevin verbracht. Es gibt natürlich auch weiter südlich sehr schöne Gegenden. Was hältst du von der Toskana und Florenz? Ich wollte schon lange einmal die Ponte Vecchio und den Arno kennen lernen. Meinst du, Adelaide ist sehr von uns enttäuscht, wenn wir sie schon wieder mit Moro hier allein lassen.“

„Oh nein! Da musst du dir keine Sorgen machen. Ich weiß, dass die beiden übermorgen selbst Besuch bekommen. Rossinis Nichte Lucia kommt zu Besuch mit Adelaides Neffen Jasper. Und wenn ich richtig informiert bin, wollen sich die beiden sogar hier verloben. Die Rossinis sind also nicht allein, sondern haben ein paar liebe Menschen um sich.“

Laura überlegte. „Eine Verlobung? Dürfen wir uns da wegstehlen?“

Ich lachte. „Wie ich hörte, sind die beiden noch frisch verliebt. Sie werden uns gar nicht vermissen. Und ich bin davon überzeugt, dass es den beiden im Leben nie langweilig wird. Bevor sie sich ihre Liebe gestanden haben, sind sie ständig wie Streithähne aufeinander losgegangen. Vielleicht wird das sich das auch in Zukunft in ihrer Partnerschaft irgendwann einmal wiederholen.“

„Ich finde, sie sind ein hübsches Paar. Und so wiederholt sich auch ein bisschen die Geschichte. Damals haben sich Adelaide und Moro in Italien kennengelernt, vor so vielen Jahren. Und jetzt hat Moros Nichte aus Italien hier in Deutschland Adelaides Neffen kennen gelernt, und beide haben sich ineinander verliebt. Ich hoffe, sie fangen es ein bisschen schlauer an als ihre älteren Verwandten.“

Ich seufzte. „Ja, dass sich Moro und Adelaide erst trennten und viel später wiederfanden, dann erst im Alter heiraten konnten, das ist schon tragisch. Aber dafür sind sie jetzt umso glücklicher.“

„Wer ist jetzt glücklicher?“ fragte die Schlossherrin, die mit etwas Salzgebäck in einer Schale auf die Terrasse trat.

„Wir haben gerade von euch gesprochen“, beichtete Laura. „Oder seid ihr jetzt etwa nicht glücklich?“

„Wir genießen die Zeit, die uns noch bleibt, meine Liebe. In unserem Alter sind wir für jeden Tag dankbar, obwohl Moro schon oft von ziemlich starken Schmerzen geplagt wird. Wir versuchen einfach, aus allem das Beste zu machen. Und was habt ihr zwei hier schon wieder ausgeheckt?“

„Wir wollten nach Italien ausreißen, ein paar Tage dort Urlaub machen, wenn ihr nichts dagegen habt“, verriet ich ihr meine Pläne. „Oder passt das gerade nicht wegen Jaspers Verlobung?“

„Daran müsst ihr euch nicht stören“, tröstete uns Adelaide. „Ich glaube, das ist noch eine ziemlich interne Feier. Jasper hat mir verraten, dass er Lucia im Märchenpark, im Schwanenhaus den Ring überreichen will, dort wo er ihr gestanden hat, dass er sie liebt.“

„Wie romantisch“, fand Laura. „Die Szenen des Märchens vom hässlichen jungen Entlein sind dort im Märchenpark wirklich zauberhaft und naturgetreu nachgestellt. Hat nicht sogar Moro einige der Figuren selbst modelliert?“

„Oh ja“, antwortete Ada stolz. „Er hat für jede Szene das hässliche junger Entlein entworfen und liebevoll modelliert. Zuerst als winziges Küken, das gerade aus dem Ei geschlüpft ist, dann in allen Entwicklungsstufen und später als zerzauster, unfertiger Schwan. Er hat sogar die lebenden Schwäne aus Italien importiert, die jetzt hier im Teich herumschwimmen. Dieses Märchen hat uns beide schon immer fasziniert.“

Laura lächelte verstehend. „Ja, ich weiß. Auch wegen der Treue der Schwäne, weil ihr beide ein Musterbeispiel für echte Treue seid.“

„Also?“ Adelaide sah uns fragend an. „Was für Pläne habt ihr? Wollt ihr Marisa auf Sizilien besuchen?“

Laura nahm sich ein Stück vom Knabbergebäck. „Ganz so weit in den Süden muss es nicht sein. Aber im Prinzip hast du schon Recht, wir möchten wieder einmal nach Italien reisen. Gibst du uns deinen Segen dazu?“

Die ältere Dame lachte. „Auch wenn ich vom Alter her eure Großmutter sein könnte, ihr könnt schalten und walten, wie ihr wollt. Wann soll es losgehen?“

„Am liebsten gleich morgen früh“, entschied sich Laura. „Wenn wir gleich noch ein bisschen packen, steht dem von unserer Seite her nichts im Weg.“

Die Schlossherrin nickte. „Das finde ich gut, dass ihr gleich Nägel mit Köpfen macht. Dann verschwinde ich jetzt mal in die Küche und packe euch einen schönen Proviantkorb. Bis ihr in Italien seid, könnt ihr noch eine ganze Menge Hunger bekommen. Und aus meiner Erfahrung weiß ich, dass es einem unterwegs sowieso besser schmeckt. Möchtet ihr noch ein paar Reisetipps von Moro?“

Laura schüttelte energisch den Kopf und lachte. „Ach nein! Ein bisschen Abenteuer muss doch sein. Ich glaube, wir fahren erst einmal los in Richtung Brenner in den Süden. Und hinter Mailand nehmen wir dann die Karte heraus.“

In diesem Augenblick läutete die Glocke am Schlosstor und Adelaide kam ihren Pflichten als Hausherrin nach, eilig entfernte sie sich.

Laura schenkte uns noch einmal Wein in die Gläser und wir bedienten uns mit Appetit am Salzgebäck. Als wir uns gerade einige Sternbilder am Firmament über uns genauer betrachteten, kehrte Ada mit einem Besucher zu uns zurück.

„Da ist jemand, der dich sprechen möchte Abigail“, wandte sie sich an mich. „Vermutlich ist es doch schon überall bekannt, dass du dich als Hobbydetektivin betätigt. Dieser junge Herr hier mit dem schönen Namen Benjamin Berg möchte dich in einer ganz dringenden Angelegenheit sprechen, und er bittet um deine Hilfe.“

Laura sprang auf. „Soll ich euch hier allein lassen?“

Aber der junge Mann winkte ab. „Nein, ich kenne Sie ja auch schon einige Jahre. Sie sind damals hier in Sankt Augustine gemeinsam mit dem Künstler Jérôme Tessier aufgetreten, mit dem großen Puppenspieler. Und später habe ich ihre Karriere verfolgt, nachdem sie nach Hollywood gegangen sind. Ich habe auch in der Zeitung gelesen, dass sie dort ihren wahren Vater gefunden haben, den größten Regisseur aller Zeiten: Johnny Deep. Und ich habe ebenfalls gelesen, dass Sie in Philadelphia die große Liebe Ihres Lebens gefunden haben, denn Regisseur Kevin Braun, mit dem Sie jetzt verheiratet sind. Ich weiß auch, dass Sie Abigails beste Freundin sind und schon viel miteinander erlebt haben. Bleiben Sie ruhig dabei sitzen, vielleicht können Sie mir auch gemeinsam weiterhelfen.“

Laura setzte sich wieder, Adelaide entfernte sich, und ich bat Benjamin, mir zu berichten, was er auf dem Herzen hatte, „Aber sagen wir doch Du zueinander“, schlug ich ihm vor.

Er kam direkt auf den Punkt. „Meine Freundin Natalie Hamacher ist in Frankreich spurlos verschwunden. Ich mache mir sehr große Sorgen. Vermutlich wunderst du dich, warum ich gerade zu dir komme, aber du kennst ihre Freundin gut, die gerade mit ihr in Frankreich ist. Erinnerst du dich an Renata, die Musikstudentin, die einmal Pianistin werden möchte?“

Ich nickte eifrig. „Aber natürlich! Sie ist ja durch ihr eigenmächtiges Handeln beim letzten Sommerfest hier im Schloss aufgefallen, als sie der adeligen Florence de la Maison das Collier entwendete. Wir haben sie dann in eine Falle gelockt und durch Videokameras entlarvt.“ „Ja, genauso war es. Da diese französische Adelige eine entfernte Großtante von ihr ist, hatte sie dann auch letztendlich von einer Anzeige abgesehen und ist inzwischen auch daran interessiert, Renata kennen zu lernen. Deswegen hat sich dann meine Verlobte auch bereit erklärt, mit nach Frankreich zu fahren, irgendwohin in die Gegend von St. Tropez, wo diese Florence augenblicklich ihren Sommer verbringt.“

„Und wieso ist deine Braut jetzt verschwunden?“ fragte ich etwas naiv.

„Das weiß ich auch noch nicht so genau. Zurzeit sind aber auch einige Unwetter in Südfrankreich in dieser Gegend. Das letzte Lebenszeichen, das ich von ihnen bekommen habe, war von einem Campingplatz an einem Fluss, der Tarn heißt. Und gerade dort habe ich auch von Unwettern gehört. Natürlich könnt ihr euch denken, dass ich bereits auch mit der Polizei gesprochen und mich dort erkundigt habe. Aber im Moment weiß man gar nichts von Renata und meiner Verlobten.“

„Und was ist mit dem Telefon?“ erkundigte sich Laura.

„Bei beiden ist das Telefon aus. Ich konnte bisher auch telefonisch niemanden erreichen. Was soll ich nur machen?“

Laura dachte wie immer spontan und praktisch. „Wir wollten morgen früh nach Italien aufbrechen für eine kleine Urlaubsreise. Dann ändern wir eben unser Ziel und fahren nach Südfrankreich. Einverstanden?“

„ Wirklich? Das wäre fantastisch! Ich kann einen Wohnwagen besorgen, dann müssen wir uns da nicht um Hotels kümmern. Um diese Zeit ist nämlich immer alles besetzt in diesen speziellen Urlaubsgebieten. Geht das für euch?“

„Warum nicht?!“ fand ich. „Unsere letzte Tour starteten wir mit dem Wohnmobil. Warum sollte das nicht auch mit dem Wohnwagen gehen. Bist du auch zur Abfahrt bereit, Benjamin? Wann sollen wir losfahren?“

„Ich habe jetzt die letzte Nacht aus lauter Sorge kein Auge zugemacht. Da lege ich mich jetzt lieber noch ein paar Stündchen aufs Ohr. Schließlich möchte ich euch wohlbehalten nach Frankreich bringen. Ich hole euch um Fünf Uhr in der Frühe am Schlosstor ab? Seid ihr damit einverstanden?“

Wir zeigten ihm unsere Zustimmung durch Kopfnicken. „Gut“, meinte Laura. „Dann treffen wir jetzt auch alle Vorbereitungen. Und erst einmal eine gute Nacht, soweit wie möglich.“

*

Es wurde gerade hell, als wir am anderen Morgen in den Pkw einstiegen. Adelaide stand am Schlosstor und winkte uns nach, als Benjamin das Auto zur Allee hin lenkte.

„Hier ist das Wetter jedenfalls ganz passabel“, fand Laura, als sie es sich auf dem Rücksitz bequem machte. „Fährst du mit dem Navi oder kennst du die Strecke auch so, Ben?“

„Solange wir noch in Deutschland sind, brauche ich das Navigationsgerät nicht. Aber spätestens hinter der Grenze werde ich es doch sicherheitshalber einmal anschalten. Ich habe übrigens inzwischen auch immer wieder versucht, mit den beiden telefonisch in Verbindung zu kommen. Aber es hat nicht geklappt. Die Polizei wusste dort nichts von einer oder zwei vermissten Frauen.“

„Dann fangen wir doch einmal mit der Theorie an“, überlegte Laura. „In welche Richtungen gehen denn deine Vermutungen? Was könnte alles mit Natalie passiert sein, Ben?“

„Eine ganze Menge, befürchte ich. Sie könnte verunglückt sein, das könnte mit einem normalen Unfall zusammenhängen oder aber mit den Unwettern, von denen ich in der Region etwas gehört habe. Aber es gibt natürlich auch noch ganz andere Möglichkeiten. Zum Beispiel könnte sie auch dort entführt worden sein, vor einiger Zeit habe ich auch von einem solchen Fall in Südfrankreich gehört. Vielleicht haben sich die beiden aber auch nur bei einem Ausflug, einer Wanderung in der Natur verlaufen und keinen Empfang mit den Handys. Und dann gibt es aber auch noch die Möglichkeit, dass sich Natalie dort in einen anderen verliebt hat und einfach mit ihm durchgebrannt ist.“

„Da hast du dir aber bisher schon eine ganze Menge Gedanken gemacht, Benjamin“, fand ich. „Aber so aus der Ferne kann man da natürlich nicht weiterkommen. Es ist gut, dass wir direkt vor Ort suchen und auch Leute befragen können. Vermutlich ist es am besten, wenn wir dort zuerst zur Polizei gehen und auch in den Krankenhäusern nachfragen.“

„Genau das machen wir dort“, entschied er. „Das habe ich mir auch schon so gedacht. Ach, wahrscheinlich könnt ihr euch gar nicht vorstellen, welche Sorgen ich mir über Natalie mache. Sie ist sonst wirklich unheimlich zuverlässig. Daher weiß ich, dass schon irgendetwas Besonderes geschehen sein muss.“

„Erzähl uns doch etwas von ihr“, forderte ihn Laura auf und verteilte eine Runde Pfefferminz-Bonbons. „Also, wie habt ihr euch zum Beispiel kennengelernt? Ich finde, das sagt immer sehr viel über eine Beziehung aus.“

„Bei uns war es gar nicht so spektakulär, am Anfang“, begann Benjamin. „Wir haben uns im Blumenviertel von Sankt Augustine kennengelernt. Ganz nah an der Vinigrette, dem kleinen Flüsschen beim Gedenkhaus für Benjamin Wohlfarth.“

„Ach, da weiß ich Bescheid“, erinnerte sich Laura. „Das ist doch der Schriftsteller gewesen, der vor dem Zweiten Weltkrieg viele schöne Gedichte geschrieben hat und später von den Nazis verfolgt wurde. Seine Bücher wurden zum großen Teil vernichtet. Abigail hat dafür gesorgt, dass einige seiner Schriften nun wieder im Museum in Rossinis Schloss liegen und von den Besuchern angeschaut werden können. Hast du rein zufällig denselben Vornamen?“

„Nein. Das ist kein Zufall, man hat mich nach ebendiesem Schriftsteller benannt. Er war ein Urgroßonkel von mir, daher kenne ich seine Lebensgeschichte. Schon als Kind hat mich alles über ihn interessiert, und als jetzt vor zwei Jahren das Häuschen, wo er sich vor den Nazis versteckte, Gedenkstätte wurde, habe ich mich sehr darüber gefreut. Am Wochenende bin ich öfters dorthin spaziert und eines Tages stand dort eine junge Frau und hielt dort auch eine stille Andacht.“

„Kannte sie ihn auch? War sie auch mit Wohlfarth verwandt?“ versuchte Laura zu kombinieren.

„Das habe ich sie auch gefragt, als sie so dastand. Nein sie war nicht mit ihm verwandt. Sie hatte in der Zeitung von Sankt Augustine darüber gelesen. Sie war auch bei der Eröffnung des Museums zugegen, aber nein, ihr Anliegen war ein ganz anderes. Sie sah mich aus großen traurigen Augen an. „Ich finde das Ganze so schrecklich, was damals geschehen ist. Wenn ich daran denke, leide ich mit all diesen verfolgten Menschen. Wir sind jetzt aus einer anderen Generation, aus einer Generation, der es heute besser geht. Und deswegen haben wir den Auftrag, alles besser zu machen als unsere Vorfahren. Natürlich kann man die schrecklichen Dinge, die damals geschehen sind, nicht wieder gutmachen. Aber man sollte es wenigstens versuchen.“ Ich sagte ihr, dass ich ihr Recht gebe und fragte sie, was sie denn tut, um etwas besser zu machen. „Ich schreibe Bücher“, erzählte sie mir. „Ich bin Deutschlehrerin und habe Germanistik und Geschichte studiert. Da habe ich einmal die Möglichkeit bei meinen Schülern viel Aufklärungsarbeit zu leisten. Und andere Menschen, die ich dabei nicht erreiche, für die schreibe ich Bücher.“ Das fand ich gut und sagte es ihr auch, aber sie winkte nur ab. „Ich habe noch viel mehr gutzumachen, denn mein Urgroßvater ist nicht verfolgt worden, er gehörte zu den Verfolgern.“ Ich stutzte und war erstaunt. „Dein Urgroßvater war Nazi?“ Sie nickte traurig. „Ich habe ihn sogar noch gekannt, da war er schon sehr alt. Natürlich habe ich ihn auch gefragt, warum er da als Junge und als junger Mann mitgemacht hat. Er wollte mir verständlich machen, dass sie alle verführt worden seien von den großen Parolen des Führers und seinen Leuten. Natürlich habe man sie auch gelockt mit einem scheinbar sicheren sozialen Netz. Auch seien sie aus ihrer Erziehung heraus nicht so fähig gewesen, sich eine eigene Meinung zu bilden, anders als die Jugend von heute, die angeleitet wird, sich selbst Gedanken zu machen. Aber ich fand, dass das alles vielleicht zu einer Erklärung, nicht aber zu einer Entschuldigung reicht, und habe immer wieder mit ihm diskutiert, bis er dann eines Tages, als er sehr alt war, starb. Und weil er nichts mehr tun konnte, habe ich mir geschworen, etwas zu tun. Ich will die Menschen aufwecken, ihnen vor Augen führen, wie dünn das Eis ist, auf dem wir jetzt stehen, wo es so viel Rassismus gibt.“

Laura staunte. „War das nicht ein komisches Gefühl, zu wissen, dass Natalies Urgroßvater ein Nazi gewesen war?“

„Nein. Ich sah, dass es ihr leid tat, was ihre Vorfahren geduldet hatten. Nein, unsere Vergangenheit stand uns beiden niemals im Wege. Wir sind dann damals an diesem Tag noch zusammen spazieren gegangen, und wenn wir auch nicht die Nachtigall gehört haben, so doch einige andere Singvögel, die sich dort in den Büschen wieder aufhalten. Und dann ging alles sehr schnell. Wir haben uns fast jeden Tag getroffen und waren sehr neugierig aufeinander. Es hat ihr sehr gefallen, dass ich Organist bin, und sie ist oft zu mir in die schöne Barockkirche von Sankt Augustine gekommen, um mir beim Orgelspiel zuzuhören.“

Laura räusperte sich etwas verlegen. „Wie war es mit deinen Verwandten? Haben da einige überlebt?“

„Nein, nur sehr wenige. Nur mein Großvater mit seiner Frau, die früh genug nach Amerika geflohen waren. Alle anderen, die hiergeblieben sind, sind gestorben oder umgebracht worden. In den letzten Wochen haben Natalie und ich auch gut zusammengearbeitet. Wir haben sogar begonnen, gemeinsam ein Buch zu schreiben. Es heißt: „Lasst das Herz nicht schweigen“ und soll auch gegen das Vergessen kämpfen. Deswegen wollte Natalie auch nicht lange wegbleiben, es liegt uns nämlich viel daran, dieses Buch bald zu veröffentlichen.“

„Da wünsche ich dir viel Erfolg!“ Laura war beeindruckt. „Ihr scheint gut zueinander zu passen. Ihr habt sogar ein gemeinsame Interessen.“

Er nickte. „Ja, das ist ein besonderes Geschenk. Ich vermisse sie so, ich muss sie unbedingt so schnell wie möglich wiederfinden.“

„Wir versprechen dir, alles dafür zu tun“, teilte sie ihm voller Überzeugung mit.

*

Von der französischen Grenze an nahmen wir die Autobahn trotz der hohen Mautkosten. Wir fuhren über flaches Land, Wiesen und Felder schienen an uns vorbeizufliegen. Benjamin meinte, dass wir auf diesem Wege schnell vorankommen könnten, aber die Geschwindigkeitsbegrenzungen, besonders für ein Gespann erlaubten keine extremen Beschleunigungen.

Im Radio brachten sie jetzt vermehrt Nachrichten über heftige Regenfälle, Unwetter und Überschwemmungen im Süden Frankreichs.

Benjamin machte ein besorgtes Gesicht. „Es ist ein schlechtes Zeichen, dass sich die beiden nicht melden. Gewiss, ihre Handys könnten im Wasser unbrauchbar geworden sein. Aber was ist mit ihnen selbst? Schließlich gibt es doch überall Telefone, warum haben Sie denn da nicht aus der nächstgelegenen Ortschaft angerufen?“

Laura beruhigte ihn. „Bei sehr starken Unwettern wird oft auch das Telefonnetz gestört. Häufig gibt es in einsameren Gegenden noch Überlandleitungen. Da können dann schon einmal Verbindungen für längere Zeit unterbrochen sein. Das habe ich selbst schon in einigen Ländern erlebt. Telefonleitungen sind sehr empfindlich, selbst in dem fortschrittlichen Amerika hatte ich in einem wichtigen Moment keine Verbindung zu meinem Vater nach Hollywood.“

Er blickte sie etwas misstrauisch an. „Aber über einen so langen Zeitraum? Die Telefongesellschaften sind stets bemüht, solche Störungen schnellstmöglich zu beseitigen. Ich habe einfach ein ungutes Gefühl. Eine von den beiden Frauen wird doch vielleicht eine Möglichkeit oder einen Weg finden, mich benachrichtigen zu können. Es gibt doch auch die Post, wo man Telegramme aufgeben kann.“

„Na ja, in irgendeinem kleinen Nest gibt es nicht immer eine Post. Und die Leute überall werden jetzt erst einmal damit beschäftigt sein, nach Unwettern die dringendsten Schäden zu beheben. Es ist jetzt wichtig, dass wir uns alle keine allzu große Sorgen machen, sondern einen kühlen Kopf behalten. Sonst sind wir alle schon nervlich fertig, bevor wir im Süden Frankreichs ankommen. Denkt daran, wir müssen alle fit sein, wenn wir eine eventuell mühsame Suche starten wollen.“

„Du hast ja Recht“, gab Benjamin zu. „Aber ich kann einfach nicht gegen meine Gefühle ankämpfen. Dazu liebe ich Natalie zu sehr, um jetzt einfach sachlich bleiben zu können.“

Um die Großstädte herum herrschte reger Verkehr und auf dem Autobahnkreuz von Lyon bog unser Fahrer in eine falsche Ausfahrt, sodass uns einige Zeit verloren ging, bis wir wieder auf unserer vorschriftsmäßigen Strecke waren.

Ganz unvorbereitet traf uns eine neuerliche Störung.

Wir hatten die Autobahn hinter uns gelassen und suchten den Campingplatz am Tarn, von wo aus sich Renata und Natalie das letzte Mal gemeldet hatten, da verfuhr sich Benjamin in einer kleinen Straße und musste wenden.

Leider hatte er beim Rückwärtssetzen übersehen, dass sich auf dem Boden eine scharfe, nach oben stehende Metallkante befand, und so gab es einen kurzen Ruck und eine leichte Erschütterung. Benjamin stellte den Motor ab und besah sich draußen den Schaden, den er am Wohnanhänger entdeckte.

„Wir haben einen platten Reifen, aber das muss uns nicht weiter stören. Mein Onkel, der mir den Anhänger geliehen hat, hat mir von einem Ersatzrad berichtet, das unter dem Wagen auf einem Gestell angebracht ist. Wir müssen also jetzt den Anhänger nur kurz hochbocken, das Ersatzrad herausnehmen und anstelle des defekten Reifens wieder anmontieren.“

„Sollen wir dir helfen?“ erkundigte ich mich.

„Nein, das ist nicht nötig. Ihr könnt euch inzwischen die Füße etwas vertreten. Ich schätze, dass ich die Sache bald im Griff haben werde.“

„Und was machen wir inzwischen?“ wandte sich Laura an Benjamin.

„Hier in der Nähe ist ein hübscher kleiner Ort. Le Rozier heißt der, glaube ich, oder so ähnlich. Dort gab es auch eine Bäckerei, die sehr appetitlich aussah. Vielleicht findet ihr irgendetwas für einen kleinen Imbiss.“

„Eigentlich hat uns Adelaide genug Wegzehrung mitgegeben. Aber du hast schon Recht, wir sind hier in Frankreich, die kleinen Kuchen sind oft köstlich, das Baguette ebenfalls und die Croissants möchte ich auch probieren.“ Mit unseren Handtaschen bewaffnet stapften Laura und ich auf das Dorf zu. Hübsche, kleine Häuser zeugten von einer anmutigen Bescheidenheit. Wir fanden eine ländliche Bäckerei, in der uns der Duft von frischem Brot entgegenströmte und suchten ein paar appetitliche Gebäckstücke aus, die uns die Verkäuferin in dekorativen Papiertüten verpackte. Ich war froh, dass sie Laura nicht erkannte, und so langen Vorstellungen entgehen konnte, weil ich hoffte, dass wir bald wieder weiterfahren konnten.

Als wir zum Gespann zurückkehrten, sah uns Benjamin genervt entgegen.

„Ich musste den Automobilclub anrufen, weil die Sache gar nicht so einfach zu lösen ist. Dieses Gestell für das Ersatzrad mag zwar im Allgemeinen recht praktisch sein, aber durch die niedrige Schieflage des Anhängers, lässt es sich gar nicht unter dem Wagen entfernen. Die Dame am Telefon war recht freundlich und konnte mir berichten, dass gleich zwei Monteure nicht allzu weit von uns gerade beschäftigt sind. Sie will uns den schicken, der schneller fertig ist mit seiner Arbeit. Und sie hoffte, dass das nicht allzu lange dauern wird.“

„Wir haben ganz gut eingekauft in der Bäckerei“, verriet ihm Laura. „Hast du Appetit auf frisches Gebäck?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein, im Augenblick wünsche ich mir nur, dass ich mit dem Ersatzrad weiter vorankomme.“

Von dem Monteur war weit und breit nichts zu sehen, und nach einer Weile konnten wir unseren Fahrer doch noch dazu überreden, mit uns ein kleines Picknick zu machen.

Etwa eine dreiviertel Stunde später erschien der Monteur und sah sich das Malheur mit fachmännischem Blick an. Obwohl er sein eigenes Spezialwerkzeug mit sich führte, brachte er es ebenfalls nicht fertig, mit seinem Wagenheber den Anhänger in die geeignete Lage zu bringen, um das Reserverad entfernen zu können.

Inzwischen hatten sich um uns herum schon ein paar Schaulustige versammelt, die uns mit Rat und Tat zur Seite stehen wollten. Man sah es Benjamin an, dass er über diesen unfreiwilligen Zwischenstopp alles andere als erfreut war, und er bemühte sich, seine Nervosität nicht zu zeigen.

Von einem der nahen Campingplätze sahen wir ein Wohnmobil herankommen. Offenbar erkannte der Fahrer die Notlage und hielt neben uns an. Ganz wider Erwarten zauberte er tatsächlich einen riesigen Wagenheber hervor, mit dem er den Anhänger in eine geeignete Position versetzen konnte. Aber damit war es nicht getan. Nun begann für die diversen Monteure die Hauptarbeit: das gesamte Gestell musste abmontiert werden, damit man in den Besitz des Ersatzrades gelangen konnte.

Als dies dann endlich gelungen war, ging alles etwas einfacher und schneller. Das Rad wurde gewechselt, der Kasten wieder eingebaut, und unser Gespann war mithilfe aller Helfer rundherum wieder fahrbereit.

Wir atmeten befreit auf, zeigten uns erkenntlich und bedankten uns bei den freundlichen Menschen, die uns zur Weiterfahrt verholfen hatten.

Durch diese Verspätung erreichten wir den Campingplatz, auf dem sich Renata und Natalie zuletzt aufgehalten hatten, erst in der Dunkelheit.

*

Der Besitzer des Campingplatzes gab uns freundlich Auskunft. „Sie müssen sich keine Sorgen machen, hier ist kein Mensch zu Schaden gekommen. Obwohl wir hier ein ganz schlimmes Hochwasser hatten, und es hier im Tal einen Wasserspiegel gab, der sechseinhalb Meter über dem normalen Spiegel stand, ist den Menschen hier nichts passiert. Glücklicherweise konnten wir die Situation schon rechtzeitig voraussehen.“

Er berichtete uns ausführlich und sich mehrere Male wiederholend, dass auf seinem Campingplatz niemand zu Schaden gekommen sei, aber alle Gäste vorsichtshalber wegen des großen Hochwassers evakuiert worden seien.

„Und was wissen Sie von Natalie Hamacher und ihrer Freundin Renata?“ erkundigte sich Benjamin.