Copyright © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag, Paderborn 2016
Copyright der Originalausgabe: © 2013 by Guy Winch, Ph.D.
Die Originalausgabe ist 2013 unter dem Titel Emotional First Aid. Healing Rejection, Guilt, Failure and Other Everyday Hurts bei Hudson Street Press erschienen.
Übersetzung: Christa Broermann, Stuttgart
Coverfoto: © AlenaPaulus – istockphoto.com
Coverentwurf: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn
Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2016
Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn
ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-485-7
ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-504-5 (EPUB), 978-3-95571-506-9 (PDF), 978-3-95571-505-2 (MOBI).
Fragen Sie ein zehnjähriges Kind, was Sie tun sollen, wenn Sie sich erkältet haben, dann wird es Ihnen sofort empfehlen, sich ins Bett zu legen und Hühnersuppe zu essen. Fragen Sie weiter, was Sie bei einem aufgeschlagenen Knie unternehmen sollen, rät Ihnen das Kind, die Wunde zu säubern (oder eine antibakterielle Salbe aufzutragen) und zu verbinden. Kinder wissen auch, dass man bei einem Beinbruch einen Gips braucht, damit der Knochen wieder richtig zusammenwächst. Würden Sie sich erkundigen, warum diese Schritte notwendig sind, bekämen Sie zu hören, dass die Behandlung zur Heilung der Verletzungen beiträgt oder verhindert, dass die Krankheit schlimmer wird. Aus einer Erkältung könnte nämlich eine Lungenentzündung werden, eine Wunde könnte sich entzünden, und wenn ein Knochenbruch falsch zusammenwachse, könnten Sie nicht mehr richtig laufen, wenn der Gips wieder abgenommen wird. Wir bringen unseren Kindern schon sehr früh bei, wie sie für ihren Körper sorgen können, und normalerweise lernen sie diese Lektionen auch sehr gut.
Aber fragen Sie einen Erwachsenen, was Sie tun sollen, um den scharfen Schmerz einer Zurückweisung, den bedrückenden Schmerz der Einsamkeit oder die bittere Enttäuschung über einen Misserfolg zu mildern, und der Gefragte wüsste nur wenig darüber zu sagen, wie man diese gängigen seelischen Verletzungen behandeln kann. Fragen Sie weiter, was Sie tun sollen, um ein geschwächtes Selbstwertgefühl wieder zu stärken oder sich von Verlust und Trauma zu erholen, und Ihr Gesprächspartner wäre gleichermaßen hilflos. Fragen Sie, wie Sie mit zwanghaftem Grübeln oder nagenden Schuldgefühlen umgehen sollen, und Sie ernten wahrscheinlich betretene Blicke, verlegenes Von-einem-Fuß-auf-den-anderen-Treten und den hastigen Versuch, das Thema zu wechseln.
Mancher erklärt Ihnen vielleicht im Brustton der Überzeugung, das Hilfreichste sei, mit Freunden oder Angehörigen über diese Gefühle zu sprechen, weil doch wohl niemand, der professionellen Beistand bei seelischen Nöten anbietet, ernsthaft etwas dagegen einwenden könnte, über Gefühle zu sprechen. Doch während es in manchen Situationen eine Erleichterung sein kann, über seine Gefühle zu reden, kann es in anderen ausgesprochen schädlich sein. Weist man auf diese Gefahren hin, erntet man wieder betretene Blicke, erneutes Von-einem-Fuß-auf-den-anderen-Treten und einen weiteren klar erkennbaren Versuch, das Thema zu wechseln.
Dass wir wenig bis gar nichts zielgerichtet unternehmen, um die seelischen Verletzungen zu behandeln, die wir im Alltag erleiden, liegt ganz einfach daran, dass wir kein Handwerkszeug für den Umgang mit ihnen haben. Natürlich könnten wir in solchen Situationen den Beistand eines Therapeuten suchen, aber der ist oft weder leicht zu haben noch überhaupt nötig, denn die meisten seelischen Verletzungen, die wir im Leben erleiden, sind nicht so schwer, dass sie gleich professionelle Hilfe erfordern. Ebenso, wie wir nicht beim ersten Anzeichen von Husten oder Schnupfen gleich ein Zelt im Vorgarten unseres Hausarztes aufschlagen würden, können wir nicht jedes Mal zu einem Therapeuten laufen, wenn wir von einem oder einer Auserkorenen zurückgewiesen werden oder wenn unser Chef uns anbrüllt.
Doch während es in jedem Haushalt ein Medizinschränkchen mit Verbandszeug, Salben und Schmerzmitteln für die Grundversorgung körperlicher Alltagsverletzungen gibt, haben wir keine solche Hausapotheke für die kleineren seelischen Verletzungen parat, die wir uns im täglichen Leben holen. Dabei sind sie genauso häufig wie körperliche Verletzungen. Alle in diesem Buch besprochenen seelischen Wunden sind sehr alltäglich, und jede einzelne ist emotional schmerzhaft und kann uns psychischen Schaden zufügen. Dennoch hatten wir bislang keine allgemein gebräuchlichen Verfahren, um die dabei entstehenden Schmerzen, Nöte und Kümmernisse zu lindern, obwohl wir doch regelmäßig solche Verletzungen erfahren.
Eine Erste Hilfe bei solchen Wunden kann in vielen Fällen verhindern, dass solche Verletzungen unsere seelische Gesundheit und unser Wohlbefinden auf lange Sicht beeinträchtigen. Viele diagnostizierbare psychische Krankheiten, die von einem Facharzt behandelt werden müssen, ließen sich vermeiden, wenn wir unsere seelischen Wunden mit Erster Hilfe versorgen könnten, sobald wir sie erleiden. So kann etwa eine Neigung zum Grübeln schnell zu Angst und Depression führen, und Erfahrungen des Misserfolgs und der Zurückweisung untergraben leicht unser Selbstwertgefühl. Behandeln wir aber solche Verletzungen, beschleunigen wir nicht nur ihre Heilung, sondern tragen auch dazu bei, die Entwicklung von Komplikationen zu verhindern oder – falls doch welche eintreten – ihren Verlauf zu mildern.
Wenn die seelische Verletzung schwerwiegend ist, sollten emotionale Erste-Hilfe-Maßnahmen natürlich nicht den Gang zum Psychiater, Psychologen oder Therapeuten ersetzen, so wenig, wie eine gut ausgestattete Hausapotheke Ärzte und Krankenhäuser überflüssig macht. Aber während wir bei der körperlichen Gesundheit unsere Grenzen erkennen, gilt das oft nicht für unsere seelische Gesundheit. Die meisten erkennen, wann eine Schnittwunde so tief oder groß ist, dass sie genäht werden muss; wir können im Allgemeinen zwischen einer geschwollenen Prellung und einem Knochenbruch unterscheiden, und wir wissen auch, wann wir so dehydriert sind, dass wir eine Infusion oder Plasma brauchen. Aber wenn es um seelische Verletzungen geht, fehlt uns nicht nur das Wissen darüber, was wir dagegen unternehmen können, sondern wir sind noch nicht einmal imstande festzustellen, wann sie professionelle Hilfe erfordern. Die Folge ist, dass wir unsere seelischen Wunden oft lange vernachlässigen, bis sie uns so beeinträchtigen, dass wir nicht mehr wie gewohnt funktionieren. Wir würden niemals ein aufgeschlagenes Knie so lange unbehandelt lassen, bis wir nicht mehr richtig gehen können, aber seelische Verletzungen lassen wir so gut wie immer unbehandelt, oft genug sogar so lange, bis sie uns buchstäblich daran hindern, im Leben noch vorwärtszukommen.
Diese Diskrepanz zwischen unserer allgemeinen Kompetenz im Umgang mit Störungen der physischen Gesundheit und unserer völligen Inkompetenz in Bezug auf die psychische Gesundheit ist höchst bedauerlich. Gäbe es keine emotionalen Erste-Hilfe-Techniken und wäre es folglich unmöglich, diese seelischen Verletzungen zu behandeln, könnte man das ja noch hinnehmen. Aber so ist es nicht. In jüngster Zeit gab es Fortschritte auf zahlreichen Gebieten der psychologischen Forschung, die viele Behandlungsmöglichkeiten für eben jene seelischen Verletzungen ans Licht gebracht haben, die wir am häufigsten erleiden.
In jedem Kapitel dieses Buchs werden eine gängige psychische Alltagsverletzung sowie die verschiedenen Techniken emotionaler Erster Hilfe beschrieben, die wir anwenden können, um unseren seelischen Schmerz zu lindern und zu verhindern, dass das Problem sich verschlimmert. Diese wissenschaftlich fundierten Techniken können wir alle selbst anwenden, ganz ähnlich wie Erste-Hilfe-Maßnahmen für unsere körperlichen Erkrankungen, und wir können sie auch unseren Kindern weitergeben. Die Techniken in diesem Buch stellen die künftige Grundausstattung unserer Hausapotheke für die Seele dar, den Erste-Hilfe-Koffer für seelische Gesundheit, den wir auf unserem Weg durchs Leben mitnehmen können.
Als ich an der Universität mehrere Jahre in Klinischer Psychologie ausgebildet wurde, bekam ich häufig Kritik dafür zu hören, dass ich meinen Patienten sehr spezifische und konkrete Vorschläge zur Linderung ihres seelischen Schmerzes mitgab. „Wir sind hier, um tief gehende psychologische Arbeit zu leisten“, pflegte mich ein Supervisor zu ermahnen, „und nicht, um psychologisches Aspirin zu verabreichen – das gibt es nämlich gar nicht!“
Aber sofortige Erleichterung anzubieten und tiefgründige psychologische Arbeit zu leisten schließen einander nicht aus. Ich glaube, dass jeder Mensch Zugang zu emotionalen Erste-Hilfe-Maßnahmen haben sollte, ebenso wie zu allen anderen Behandlungsmöglichkeiten für die Versorgung seelischer Wunden. Im Laufe der Jahre habe ich mir angewöhnt, innovative Forschungsergebnisse aus Veröffentlichungen herauszudestillieren und in praktische Vorschläge und Behandlungsschritte umzusetzen, die die Patienten bei seelischen Alltagsverletzungen anwenden können. Der Hauptgrund dafür ist ganz einfach – sie funktionieren. Schon seit mehreren Jahren haben mich meine Patienten, Freunde und Angehörigen gedrängt, diese emotionalen Erste-Hilfe-Instrumente in einem Buch zusammenzustellen. Jetzt habe ich beschlossen, das auch zu tun, weil es Zeit ist, dass wir unsere seelische Gesundheit ernster nehmen. Es ist Zeit, eine Hygiene für psychische Gesundheit einzuführen, ebenso, wie wir Hygiene für Zähne und Körper betreiben. Es ist Zeit, dass wir alle eine psychologische Hausapotheke besitzen, in der sich die seelischen Entsprechungen für Verbandszeug, antibakterielle Salben, Eisbeutel und fiebersenkende Mittel befinden.
Denn wenn wir erst einmal wissen, dass es auch Aspirin für die Seele gibt, wäre es dumm von uns, es nicht zu nehmen.
Die Kapitel dieses Buchs decken sieben gängige Beeinträchtigungen ab, unter denen wir im täglichen Leben leiden: Zurückweisung, Einsamkeit, Verlust, Schuldgefühle, Grübeln, Scheitern und geringes Selbstwertgefühl. Obwohl sie als in sich abgeschlossene Kapitel geschrieben wurden, die auch für sich allein stehen können, empfehle ich Ihnen, das gesamte Buch zu lesen. Selbst wenn einige Kapitel keine unmittelbare Relevanz für Sie haben, hilft das Wissen darum, welche psychischen Verletzungen wir uns in verschiedenen Situationen zuziehen können, diese zu erkennen, wenn wir selbst oder unsere Freunde und Angehörigen künftig davon betroffen sind.
Jedes Kapitel ist in zwei Abschnitte unterteilt. Im ersten werden die spezifischen seelischen Wunden beschrieben, die jede Verletzung schlägt – auch jene, die wir oft gar nicht erkennen. So können wir es etwa für offensichtlich halten, dass Einsamkeit seelischen Schmerz verursacht, aber es ist uns vielleicht nicht klar, dass unbehandelte Einsamkeit so schwerwiegende Folgen für unsere körperliche Gesundheit hat, dass sie sogar unsere Lebenserwartung verkürzen kann. Nicht auf den ersten Blick sichtbar ist auch, dass einsame Menschen oft selbstschädigende Verhaltensweisen entwickeln, die sie dazu bringen, unbewusst eben die Menschen von sich zu stoßen, die ihrem Leiden abhelfen könnten.
Im zweiten Teil eines jeden Kapitels werden die Maßnahmen vorgestellt, die die Leser zur Behandlung der im ersten Teil besprochenen Verletzungen durchführen können. Ich gebe Ihnen allgemeine Richtlinien, um klarzustellen, wie und wann jede empfohlene Technik angewendet werden soll, und außerdem eine Zusammenfassung der Behandlung sowie „Dosierungsempfehlungen“. Weil dieses Buch eine psychologische Hausapotheke darstellt und keineswegs als Ersatz für medizinische oder psychologische Versorgung durch Fachleute dienen soll, beende ich jedes Kapitel mit Leitlinien dafür, wann ein Leser professionelle Hilfe bei einem Psychiater, Psychologen oder Therapeuten suchen sollte.
Die Vorschläge in diesem Buch basieren auf aktuellen, hochkarätigen Studien, die von Fachleuten auf den Prüfstand gestellt und in hervorragenden wissenschaftlichen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden. Quellenangaben für alle diese Studien finden Sie in den Anmerkungen am Ende des Buchs.
Wo im Text männliche oder weibliche Bezeichnungen verwendet werden, sind die jeweils anderen Gender immer mitgemeint.
Von allen emotionalen Verletzungen, die wir im Leben erleiden, sind Zurückweisungen aller Art vielleicht die häufigsten. Bis wir die Grundschule durchlaufen haben, wurden wir bereits aus Spielgruppen ausgeschlossen, beim Sport als Letzte in ein Team gewählt, nicht zu Geburtstagspartys eingeladen, von alten Freunden fallen gelassen, die sich neuen Cliquen anschlossen, und von Klassenkameraden gehänselt oder gemobbt. Haben wir den Spießrutenlauf der unzähligen Ablehnungen in der Kindheit endlich hinter uns, entdecken wir nur allzu bald, dass uns als Erwachsene ein ganz neues Spektrum von Zurückweisungserfahrungen erwartet. Wir holen uns einen Korb bei potenziellen Partnern, werden von potenziellen Arbeitgebern abgelehnt und blitzen bei potenziellen Freunden ab. Unsere Ehepartner weisen unsere sexuellen Avancen zurück, unsere Nachbarn zeigen uns die kalte Schulter, und Familienmitglieder schließen uns aus ihrem Leben aus.
Zurückweisungen verursachen emotionale Kratzer und Schrammen, die uns seelisch unter die Haut gehen und bis ins Fleisch reichen. Manche sind so massiv, dass sie klaffende seelische Wunden reißen, die stark „bluten“ und sofortige Zuwendung erfordern. Andere sind wie seelische Papierschnittwunden, die gemein wehtun, aber nur wenig bluten. Angesichts der Häufigkeit, mit der wir Zurückweisungen der einen oder anderen Form erleben, könnte man annehmen, wir verstünden genau, wie sie sich auf unsere Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen auswirken, und wüssten ihre Folgen auch klar einzuschätzen. Aber dem ist nicht so. Wir unterschätzen den Schmerz, den Zurückweisungen auslösen, ganz gewaltig und ebenso die seelischen Wunden, die sie schlagen.
Zurückweisungen können vier verschiedene psychische Verletzungen verursachen, deren Schweregrad von der Situation und unserer augenblicklichen psychischen Gesundheit abhängt. Genauer gesagt, lösen Zurückweisungen einen so scharfen emotionalen Schmerz aus, dass er unser Denken beeinflusst, Wut in uns aufwallen lässt, unser Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl untergräbt und unser grundsätzliches Gefühl der Zugehörigkeit ins Wanken bringt.
Viele Zurückweisungen sind vergleichsweise harmlos, und unsere Verletzungen heilen mit der Zeit auch wieder. Aber selbst Wunden von relativ kleinen Zurückweisungen können sich ohne Behandlung „entzünden“ und psychische Komplikationen nach sich ziehen, die unser seelisches Wohlbefinden ernstlich beeinträchtigen. Erleben wir substanzielle Zurückweisungen, ist es wesentlich dringlicher, dass wir unsere Wunden mit emotionaler Erster Hilfe versorgen. Das minimiert nicht nur das Risiko von „Infektionen“ oder Komplikationen, sondern beschleunigt auch unseren seelischen Heilungsprozess. Um emotionale Erste Hilfe anwenden zu können und die vier durch Zurückweisung verursachten Wunden erfolgreich zu behandeln, brauchen wir ein klares Verständnis einer jeden von ihnen. Und wir müssen umfassend begreifen, wie unsere Gefühle, Gedankengänge und Verhaltensweisen durch Zurückweisungen geschädigt werden.
1. Seelischer Schmerz: Warum selbst lächerliche Zurückweisungen heftig schmerzen
Stellen Sie sich vor, Sie säßen zusammen mit zwei anderen Personen, die Sie nicht kennen, in einem Wartezimmer. Eine der beiden sieht einen Ball auf dem Tisch und wirft ihn der zweiten zu. Diese lächelt, schaut Sie an und wirft Ihnen den Ball zu. Nehmen wir an, Sie könnten gut fangen und werfen. Sie werfen den Ball also wieder der ersten Person zu, die ihn rasch der zweiten zuwirft. Doch statt ihn dann wieder Ihnen zuzuwerfen, wirft die zweite Person ihn zur ersten Person zurück und schließt Sie somit aus dem Spiel aus. Wie würden Sie sich in dieser Situation fühlen? Wären Sie verletzt? Würde sich Ihre Stimmung dadurch verändern? Wie stünde es um Ihr Selbstwertgefühl?
Die meisten würden die Idee, dieser banale Vorgang könne eine Wirkung haben, nur mit einem Achselzucken quittieren. Zwei fremde Personen haben mir in einem Wartezimmer einen blöden Ball nicht zugespielt, na und? Wen juckt das? Aber als Psychologen just diese Situation untersuchten, stellten sie etwas Bemerkenswertes fest.1 Es juckt uns nämlich doch, und zwar viel mehr, als uns klar ist. Diese Ballwurf-Szene ist ein gründlich erforschtes psychologisches Experiment, bei dem die beiden anderen Personen, die Sie nicht kennen, Verbündete des Versuchsleiters sind. Die Versuchsperson (die glaubt, alle drei würden darauf warten, für ein ganz anderes Experiment aufgerufen zu werden) wird dabei stets nach der ersten oder zweiten Runde Ballwerfen ausgeschlossen. Dutzende von Studien haben bewiesen, dass Menschen durchgängig von beträchtlichem seelischem Schmerz als Folge davon berichtet haben, dass sie aus dem Ballspiel ausgegrenzt wurden.
Diese Erkenntnisse sind vor allem deshalb so eindrucksvoll, weil im Vergleich zu den meisten Zurückweisungen, die wir sonst im Leben erfahren, der Ausschluss aus einem Ballspiel durch zwei Fremde ungefähr die mildeste Form der Ausgrenzung ist, die es gibt. Wenn ein so trivialer Vorfall einen beträchtlichen seelischen Schmerz auslösen kann (und außerdem unsere Stimmung und unser Selbstwertgefühl in den Keller rauschen lässt), bekommen wir eine Ahnung davon, wie schmerzhaft Zurückweisungen sein können, die uns wirklich etwas bedeuten. Deshalb kann es einen so gewaltigen Einfluss auf unser emotionales Wohlbefinden haben, wenn uns jemand fallen lässt, mit dem wir zusammen waren, wenn wir vom Chef gefeuert werden oder erfahren, dass sich unsere Freunde ohne uns getroffen haben.
Was die Zurückweisung von beinahe jeder anderen negativen Emotion in unserem Leben unterscheidet, ist die Intensität des Schmerzes, den sie auslöst. Wir vergleichen den emotionalen Schmerz, den uns eine herbe Zurückweisung zufügt, häufig mit einem Schlag in die Magengrube oder einem Messerstich in die Brust. Zwar haben die wenigsten von uns je einen Messerstich in die Brust bekommen, aber als Psychologen Versuchspersonen baten, den Schmerz einer Zurückweisung mit körperlichen Schmerzen zu vergleichen, die sie schon erlebt hatten, gaben sie an, er sei durchaus mit der Heftigkeit der Schmerzen vergleichbar, die eine Geburt oder eine Krebsbehandlung mit sich bringt!2 Im Gegensatz dazu sind andere emotional schmerzhafte Erfahrungen wie große Enttäuschung, Frustration oder Angst zwar außerordentlich unangenehm, verblassen jedoch im Vergleich mit der Zurückweisung hinsichtlich des schieren Schmerzes in den Eingeweiden, den sie verursachen.
Aber warum schmerzen Zurückweisungen so viel stärker als andere seelische Verletzungen?
Die Antwort liegt in unserer entwicklungsgeschichtlichen Vergangenheit.3 Menschen sind soziale Wesen; von unserem Stamm oder unserer sozialen Gruppe abgelehnt zu werden hätte in unserer prähistorischen Vergangenheit bedeutet, dass wir den Zugang zu Nahrung, Schutz und Sexualpartnern verloren hätten, was unser Überleben außerordentlich erschwert hätte. Ausgegrenzt zu werden kam einem Todesurteil gleich. Weil die Folgen eines Ausschlusses so extrem bedrohlich waren, entwickelte unser Gehirn ein Frühwarnsystem, das uns alarmiert, sobald wir das Risiko eingehen, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden: Sobald wir auch nur eine Andeutung von sozialer Zurückweisung erfahren, wird ein scharfer Schmerz ausgelöst.4
Gehirnscans zeigen sogar, dass beim Erleben von Zurückweisung genau die gleichen Gehirnbereiche aktiviert werden wie beim Erleben von körperlichen Schmerzen.5 Wie eng die beiden Systeme miteinander verknüpft sind, zeigte sich, als Wissenschaftler einem Teil der Versuchspersonen ein Schmerzmittel (Paracetamol) gaben, ehe sie mit ihnen das tückische Ballwurf-Experiment mit der Ausgrenzungserfahrung machten. Diese berichteten von erheblich weniger seelischem Schmerz als Versuchspersonen, die kein Schmerzmittel bekommen hatten.6 Leider gilt das nicht auch für andere negative Emotionen wie Verlegenheit, sodass Paracetamol völlig unwirksam ist, wenn wir uns im Datum der Halloween-Party in unserem Büro geirrt haben und als Marge Simpson verkleidet am Arbeitsplatz erscheinen.
Bei Zurückweisung hilft Vernunft nicht weiter
Martha und Angelo kamen in die Paartherapie, um etwas gegen ihren häufigen Streit zu unternehmen. Angelo war sechs Monate zuvor aufgrund von Personalabbau in seiner Firma entlassen worden, und Martha warf ihm vor, dass er es einfach nicht schaffte, sich eine neue Stelle zu suchen. „Ich habe zwanzig Jahre für dieses Transportunternehmen gearbeitet“, erklärte Angelo mit einer Miene, die noch immer zeigte, wie verletzt er war. „Diese Leute waren meine Freunde! Wie konnten sie mir das antun?“
Anfangs hatte Martha noch mit ihm gefühlt, aber inzwischen reagierte sie immer ungeduldiger auf Angelos Unfähigkeit, sich von dem emotionalen Schlag zu erholen und sich nach einer neuen Arbeit umzusehen. Es zeigte sich schnell, dass Angelo von sich selbst ebenso frustriert war wie seine Frau. Er versuchte, sich zu motivieren und durch Zureden zu Taten aufzuraffen, aber er fühlte sich einfach völlig überwältigt von seinem emotionalen Schmerz. Er versuchte, sich zur Vernunft zu bringen und die Verletzung loszulassen und zu „überwinden“, aber nichts half.
Viele finden es schwierig, sich das Gefühl des Verletztseins nach einer Zurückweisung auszureden. Dass wir Ablehnungen aller Art als so niederschmetternd empfinden, liegt unter anderem daran, dass uns Vernunft, Logik und gesunder Menschenverstand normalerweise wenig nützen, wenn es darum geht, unserem Schmerz die Schärfe zu nehmen. Ein Beispiel dafür liefert eine Computerversion des Ballwurf-Experiments (namens Cyberball), bei dem Versuchspersonen aus dem Spiel ausgeschlossen wurden und anschließend von den Versuchsleitern erfuhren, dass dieser Ausschluss vom Computerprogramm nach dem Zufallsprinzip gesteuert wurde. Die Entdeckung, dass die Zurückweisung nicht einmal „echt“ war, trug jedoch wenig dazu bei, ihren Schmerz zu lindern.7 Wissenschaftler sind hartnäckig, also erzählten sie einer anderen Gruppe von Versuchspersonen, sie seien von Mitgliedern des Ku-Klux-Klans ausgeschlossen worden.8 Ganz gewiss würde doch die Zurückweisung durch Leute, die sie verachteten, weniger schmerzen. Aber keineswegs, es tat noch genauso weh. Die Forscher versuchten es sogar mit der Ersetzung des Cyberballs durch das Animationsbild einer Cyberbombe, die so programmiert war, dass sie jederzeit explodieren und denjenigen „töten“ konnte, der sie gerade hatte.9 Aber die Versuchspersonen empfanden ebenso viel Schmerz über die Ausgrenzung, wenn sie die Cyberbombe nicht bekamen, wie wenn sie beim Cyberball übergangen wurden!
Zurückweisungen beeinträchtigen unsere Fähigkeit zu logischem und klarem Denken auch noch in anderer Weise.10 So genügte etwa allein die Aufforderung, sich an Beispiele massiver Zurückweisung zu erinnern, damit Versuchspersonen bei anschließenden IQ-Tests, Tests des Kurzzeitgedächtnisses, Messungen der Fähigkeit zum logischen Schlussfolgern und der Entscheidungsfähigkeit erheblich schlechter abschnitten.
Zurückweisungen im Bereich der Liebe entfalten eine besonders starke Wirkung: Sie stiften große Verwirrung in unserem Kopf und trüben unser gesundes Urteilsvermögen selbst dann, wenn sie extrem früh in einer Beziehung auftauchen oder sogar noch, ehe eine „Beziehung“ überhaupt existiert (Trennungen nach langen oder tiefen Beziehungen kommen in Kapitel 3 zur Sprache). Ein junger Mann, mit dem ich gearbeitet habe, flog nach Europa, um eine Frau zu „überraschen“, die er in einem einwöchigen Sommerurlaub kennengelernt hatte. Dabei hatte sie ihm klipp und klar gesagt, sie sei nicht an einer weiteren Beziehung interessiert. Er litt aber noch immer unter dieser Zurückweisung und redete sich ein, seine unerwartete „romantische Geste“ würde „ihr Herz zum Schmelzen bringen und ganz sicher bewirken, dass sie ihre Meinung änderte“! Die Frau war so erschrocken, als er eines Tages in aller Frühe vor ihr stand, dass sie etwas ganz anderes änderte: Sie tauschte die Schlösser aus! Die Verzweiflung, die manche Zurückweisungen auslösen, kann durchaus dazu verleiten, eine romantische Geste mit einer unheimlichen zu verwechseln.
2. Wut und Aggression: Warum Türen zu Bruch gehen und gegen Wände gehämmert wird
Zurückweisungen lösen häufig Wut und aggressive Impulse aus, die einen mächtigen Drang in uns wecken, sie an jemandem auszulassen, besonders an denen, die uns zurückgewiesen haben. Notfalls tun es aber auch unbeteiligte Dritte.11 Die unzähligen Türen und Wände, die von gerade zurückgewiesenen Männern und manchmal auch Frauen mit Fäusten durchschlagen wurden, können ein Lied davon singen (wobei allerdings solche aus Ziegeln und solidem Holz meist die lachenden Dritten sind). Diese Gefahren im Hinterkopf zu haben ist auch wichtig, wenn wir die Zurückweisenden sind. Selbst wenn die Person, die wir abweisen wollen, eigentlich herzensgut ist, könnte doch unsere Sammlung von Hummelfiguren ernstlich in Gefahr geraten.
Damit wir Menschen, die gegen Wände hämmern und Figuren kaputt schlagen, nicht allzu hart verurteilen, sollten wir uns vor Augen halten, dass selbst die banalsten Zurückweisungen auch bei den Edelmütigsten hoch aggressive Tendenzen wecken. Ein Beispiel dafür liefert uns das bereits besprochene Cyberballspiel. Nach einer Runde gab man den Versuchsteilnehmern die Möglichkeit, eine unschuldige Person (die, wie deutlich erklärt wurde, nicht an der Ballwurf-Partie beteiligt gewesen war) mit unangenehm lautem weißem Rauschen zu beschallen. Zurückgewiesene Versuchsteilnehmer belästigten die Unschuldigen mit viel lauterem und längerem Lärm als Teilnehmer, die man nicht ausgeschlossen hatte. Bei anderen Versuchsreihen zwangen ausgegrenzte Teilnehmer unschuldige Personen dazu, viermal so viel scharfe Soße zu essen, scheußlich schmeckende Getränke zu sich zu nehmen oder Tonaufnahmen mit extrem aversiven Reizen anzuhören wie nichtausgegrenzte Teilnehmer. Falls Sie sich fragen, wie oft die Wissenschaftler, die hinter solchen Experimenten stecken, von Machern von Reality-TV-Shows dazu angeworben werden, ekelerregende Aufgaben für ihre Kandidaten zu entwerfen – ich habe keine Ahnung.
Leider drückt sich unsere Tendenz, auf Zurückweisung mit Wut zu reagieren, auch noch auf viel ernstere und folgenschwerere Weise aus. Massive und wiederholte Zurückweisungserfahrungen können eine Art von Aggression auslösen, die weit über den Bereich von weißem Rauschen oder scharfer Soße hinausgeht. Wenn seelische Wunden dieser Art nicht behandelt werden, „infizieren“ sie sich sehr schnell, und die psychische Gesundheit des Betreffenden ist stark gefährdet. Berichte über Aggressionsverhalten mit Selbst- oder Fremdverletzungen infolge von Zurückweisung tauchen regelmäßig in den Nachrichten auf. Verschmähte Liebhaber, die sich rächen wollen, gefeuerte Angestellte, die Amok laufen, und die schreckliche Selbstmord-Epidemie gemobbter Kinder sind nur ein paar Beispiele dafür, was passiert, wenn die seelischen Verletzungen, die chronische und schwerwiegende Zurückweisungen auslösen, unbehandelt bleiben.
Im Jahr 2001 hat das Büro des Surgeon General of the United States einen Bericht veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass soziale Ablehnung ein größerer Risikofaktor für Gewalttaten von Jugendlichen ist als die Mitgliedschaft in einer Gang, Armut oder Drogenkonsum.12 Durch Zurückweisung verletzte Gefühle spielen auch eine wesentliche Rolle bei Gewalt zwischen Liebespartnern.13 Viele Gewalttaten werden von Eifersucht und dem Verdacht der Untreue ausgelöst, die eng mit dem Gefühl der Zurückweisung verknüpft sind. Als Wissenschaftler 551 Fälle untersuchten, in denen Männer ihre Frauen umgebracht hatten, stellten sie fest, dass die Hälfte der Morde die Reaktion auf eine tatsächliche oder unmittelbar bevorstehende Trennung war. Männer, die ihre Frauen getötet haben, geben später sogar oft zu, dass sie unfähig waren, mit dem Gefühl der Ablehnung fertigzuwerden.
Bei Untersuchungen von Amokläufen an Schulen, einschließlich der Tragödie in Columbine von 1999, kam heraus, dass dreizehn von fünfzehn Tätern starke persönliche Ablehnung und Ausgrenzung durch ihre Mitschüler erfahren hatten.14 In vielen Fällen nahmen die Schützen gezielt diejenigen Mitschüler ins Visier, die sie in der Vergangenheit gemobbt, gehänselt oder abgelehnt hatten, und erschossen sie als Erste.
Wir alle erleben immer wieder ein kleineres oder größeres Maß an Zurückweisung, und Gott sei Dank tauchen nur die allerwenigsten von uns als Folge davon in den Schlagzeilen auf. Doch der Zusammenhang zwischen Zurückweisung und Aggression ist sehr eng, und wir sollten uns unbedingt klarmachen, dass der durch Ablehnungen aller Art verursachte Schmerz manche zu Verhaltensweisen treiben kann, die sie sonst nie an den Tag gelegt hätten.
3. Beschädigtes Selbstwertgefühl: Wie wir uns treten, wenn wir schon am Boden liegen
Eine tiefe oder wiederholte Zurückweisung zu erleben ist für unser Selbstwertgefühl außerordentlich schädlich. Selbst die Erinnerung an eine frühere Ablehnung genügt, damit unsere Selbstachtung vorübergehend deutlich absinkt.15 Betrüblicherweise belassen wir es selten dabei, und unser Selbstwertgefühl bezieht noch mehr Prügel. Wir steigern unsere Zurückweisungserfahrungen nämlich oft noch dadurch, dass wir extrem selbstkritisch werden – was letztlich bedeutet, dass wir uns treten, wenn wir schon am Boden liegen. Diese Reaktion ist sehr häufig, kann aber leicht bewirken, dass die seelischen Kratzer und Schrammen der ursprünglichen Zurückweisung sich „entzünden“ und dadurch unsere psychische Gesundheit erst recht schwächen.
Angelo verlor die Stelle bei seinem Transportunternehmen, weil seine ganze Abteilung einer Maßnahme zur Kostensenkung zum Opfer fiel, aber dennoch erlebte er den Rauswurf als sehr persönlich („Diese Leute waren meine Freunde! Wie konnten sie mir das antun?“). Da er die Entlassung personalisierte, hatte Angelo das Gefühl, seine Freunde wollten ihn nicht mehr und seine langjährigen Kollegen würden ihn im Stich lassen. Er mied den Kontakt mit allen anderen von seiner früheren Firma, weil er überzeugt war, bei der Kommunikation mit ihnen würde er ihre Missbilligung, Enttäuschung oder Missachtung direkt zu spüren bekommen. Dabei waren diese Ängste völlig unbegründet. Als Freunde und ehemalige Kollegen sich bei ihm meldeten (was sie natürlich taten), antwortete er nicht auf ihre E-Mails und Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, selbst wenn sie Hinweise auf neue Stellen enthielten. Nach einigen Monaten hörten seine Freunde dann auf, sich um ihn zu bemühen, und zogen sich zurück. Nach Angelos Auffassung bestätigte ihr Schweigen nur seine Befürchtung, sie hätten sich von vornherein nichts aus ihm gemacht.
Mit dieser Haltung ist Angelo nicht allein. Wir alle haben die Tendenz, Ablehnungen viel zu persönlich zu nehmen und Schlüsse über unsere Schwächen aus ihnen zu ziehen, auch wenn nur wenig darauf hindeutet, dass diese Annahmen gerechtfertigt sind. Denken Sie an eine Gelegenheit zurück (selbst wenn Sie dafür weit zurückgehen müssen), bei der Sie von jemandem in Sachen Liebe zurückgewiesen wurden. Haben Sie sich dabei ertappt, dass Sie alles aufgelistet haben, was vielleicht mit Ihnen nicht stimmt? Haben Sie sich vorgeworfen, Sie seien nicht attraktiv genug oder geistreich genug oder schlau genug oder reich genug oder jung genug oder alles zusammen? Haben Sie gedacht: „Das passiert mir doch einfach immer!“ oder „Niemand wird mich je lieben!“ oder „Ich werde nie jemanden finden!“? Persönliche Zurückweisungen sind selten so persönlich, wie wir sie erleben, und selbst wenn, liegt es nur selten an einem so vernichtenden Urteil über alle unsere Schwachstellen.
Zusätzlich zu dieser unnötigen Personalisierung von Zurückweisungen neigen wir auch dazu, sie übermäßig zu verallgemeinern, selbst wenn wir keinerlei Grund dafür haben (etwa mit dem Gedanken „Das passiert mir doch einfach immer!“ oder „Ich werde nie jemanden finden!“). Oder wir üben unbegründete Selbstkritik, weil wir annehmen, wenn wir uns anders verhalten hätten, hätten wir die Ablehnung vermeiden können. Selbstkritik ist gerade im Anschluss an Zurückweisungen in der Liebe besonders problematisch, denn viele verbringen Stunden damit, zu analysieren, was sie gesagt oder getan haben, weil sie verzweifelt nach dem „entscheidenden falschen Zug“ suchen (z. B. „Warum habe ich so lange gewartet, ehe ich sie angerufen habe?“ oder „Hätte ich nur die Finger von diesem letzten Drink gelassen!“ oder „Vielleicht war es zu früh, ihr meine Sammlung von Elmer-Fudd-Unterwäsche zu zeigen.“).
Tatsächlich ist es außerordentlich selten, dass ein einziger falscher Zug entscheidend ist (allerdings muss ich zugeben, dass es vermutlich gar keinen richtigen Zeitpunkt dafür gibt, einer Frau seine Sammlung von Elmer-Fudd-Unterwäsche zu zeigen). Die häufigsten Gründe dafür, dass wir als künftige Partner (oder Bewerber um eine Stelle) abgelehnt werden, sind eher, dass ganz allgemein die Chemie nicht stimmt, dass wir nicht die spezifischen Bedürfnisse einer Person oder Firma zum aktuellen Zeitpunkt erfüllen oder dass wir nicht der engen Definition des gesuchten Gegenübers oder Mitarbeiters entsprechen. Viel seltener liegt es daran, dass wir vielleicht irgendwelche entscheidenden falschen Schritte gemacht haben oder fatale Charakterfehler hätten.
Diese Denkfehler haben keinerlei nützlichen Zweck und verstärken nur den Schmerz, den wir ohnehin schon empfinden, indem sie überflüssige und höchst unzutreffende Selbstvorwürfe obendrauf packen, die unser bereits angeschlagenes Selbstwertgefühl noch mehr kränken. Zurückweisungen schmerzen schon genug – wir brauchen auf keinen Fall noch zusätzlich Salz in unsere Wunden zu streuen oder uns zu treten, wenn wir bereits am Boden liegen.
4. Bedrohung für unser Zugehörigkeitsgefühl
Unser Selbstwertgefühl ist unter anderem deshalb so leicht durch Zurückweisung zu verletzen, weil zu unserer Grundausstattung ein fundamentales Bedürfnis gehört, uns von anderen akzeptiert zu fühlen.16 Wird unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit lange Zeit nicht befriedigt, entweder weil wir so viel Zurückweisung erlebt haben oder weil uns die Gelegenheit fehlt, unterstützende Beziehungen aufzubauen, kann sich das stark auf unsere körperliche und seelische Gesundheit auswirken und großen Schaden anrichten.
Manche Menschen müssen mit so schwierigen Lebensumständen zurechtkommen, dass die Befriedigung ihres Zugehörigkeitsgefühls zu einer enormen Herausforderung werden kann. David, ein junger Mann, mit dem ich vor einigen Jahren gearbeitet habe, hatte in dieser Hinsicht wesentlich höhere Hürden zu nehmen als die meisten anderen. Seine Geschichte hat mich etwas gelehrt: Wenn wir im Laufe unseres Lebens erst einmal wiederholt profunde Ablehnung erfahren haben, kann es zu einem sehr schweren Kampf werden, einen Platz in der Welt zu finden und das Gefühl zu entwickeln, wir würden dazugehören.
David wurde mit einer genetischen Krankheit geboren, die sich normalerweise auf viele Körpersysteme auswirkt und die Lebenserwartung drastisch senkt (die meisten Kinder mit dieser Krankheit sterben schon, ehe sie zwanzig Jahre alt sind). Obwohl David eine relativ milde Form dieses Gendefekts hatte, brauchte er doch während seiner ganzen Kindheit zahlreiche Operationen und musste oft ins Krankenhaus. Davids Krankheit beeinträchtigte nicht nur seine Gesundheit, sondern auch sein Aussehen. Probleme mit der Skelettmuskulatur führten zu einem schwankenden Gang, und sein Gesicht sah auffallend anders aus als andere Gesichter. Er hatte eine flache Oberlippe, einen sehr ausgeprägten Unterkiefer und eine krankhaft veränderte Zahnstellung. Außerdem gab es Probleme bei der Regulierung des Speichelflusses, sodass ihm leicht Speichel aus dem Mund lief.
Kinder mit einer schwereren Form von Davids Krankheit haben oft so weitreichende körperliche Behinderungen und lebensbedrohliche medizinische Probleme, dass sie keine Regelschule besuchen können. Da David eine mildere Form hatte (und die Intelligenz bei dieser Krankheit nicht beeinträchtigt ist), konnte er als eines der wenigen Kinder mit dieser Störung eine normale Grundschule und High School in seinem Heimatort besuchen. Aber für dieses „Privileg“ bezahlte David einen sehr hohen Preis. Sein Aussehen, seine mangelhafte Muskelkoordination und seine Tendenz zum Speichelfluss, sobald er sich konzentrierte, führten dazu, dass er jeden Tag grausame Zurückweisungen von seinen Klassenkameraden erfuhr, und zwar durch seine gesamte Schulzeit hindurch.
David wurde nie zu Partys eingeladen, hatte praktisch keine Freunde und saß jeden Mittag beim Essen und in jeder sonstigen Pause allein da. Dass seine Muskeln so schwach und unkoordiniert waren, hinderte ihn daran, an sportlichen Aktivitäten nach der Schule oder an privatem Sport und Spiel mit den Jungen der Nachbarschaft teilzunehmen. Seine wenigen Versuche, bei außerschulischen Angeboten für behinderte Kinder mitzumachen, endeten ebenfalls enttäuschend. Da er relativ „gesund“ war, stand er viel besser da als die anderen (manchmal konnte er buchstäblich als Einziger auf den Füßen stehen), sodass er auch in diese Programme nicht hineinpasste. Das Ergebnis war, dass Davids grundlegendes Bedürfnis nach Zugehörigkeit während seiner ganzen Kindheit und Teenagerjahre unbefriedigt blieb. Die regelmäßigen (und manchmal groben) Zurückweisungen, die er erlitt, fügten ihm großen seelischen Schmerz zu.
Ich lernte David kennen, als er gerade die High School abgeschlossen hatte und einige Monate später an einem Community College ein Studium beginnen wollte. Einerseits war er schon freudig erregt, weil er aufs College gehen sollte, aber die Aussicht auf eine neue Runde schmerzhafter Zurückweisungen durch eine neue Peergroup erfüllte ihn andererseits auch mit Schrecken. Seine wohlmeinenden Eltern versicherten David, Collegestudenten seien „reifer“ und toleranter als die Schüler einer High School, und es werde für ihn viel leichter sein „dazuzugehören“ als bisher. Aber die lebenslange Ablehnung hatte sich verheerend auf Davids Selbstwertgefühl ausgewirkt, und er fürchtete, es werde anders kommen. „Sie werden einen einzigen Blick auf mich werfen und sich abwenden“, sagte er in unserer ersten Sitzung. „Und das sind noch die Netten. Die Gemeinen drehen sich weg und lachen hinter meinem Rücken.“
Ich stimmte David zu, dass der erste Eindruck für ihn problematisch sein konnte (denn ich sah keinen Sinn darin, etwas zu leugnen, was ihn die Erfahrung bereits sein Leben lang gelehrt hatte), deshalb fragte ich ihn, ob er einen Plan habe, wie er diesen ersten Eindruck korrigieren konnte, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Wir begannen zu überlegen, wie er mit möglichen sozialen Interaktionen umgehen könne, und es stellte sich schnell heraus, dass Davids soziale Fähigkeiten vollkommen unterentwickelt waren. Jahrelange Entfremdung von anderen und der Mangel an Erfahrungen im Umgang mit ihnen bedeuteten, dass es David in normalen Alltagssituationen oft schwerfiel, das Richtige zu sagen oder zu tun, wie er auch bereitwillig zugab.
Wir beschlossen, den Sommer über an seinen sozialen Fähigkeiten zu arbeiten. Wir griffen uns ein paar alltägliche soziale Situationen heraus und übten im Rollenspiel ein, wie er sich verhalten konnte. David akzeptierte auch, dass anfängliche harte Ablehnungsreaktionen durch Mitstudenten wahrscheinlich nicht im engeren Sinne persönlich waren, sondern eher die Folge davon, dass ihnen seine krankheitsbedingten Probleme fremd waren und dass sie sich im Umgang mit behinderten Menschen unbehaglich fühlten. Also suchten wir in einem Brainstorming nach Möglichkeiten, Befangenheit oder Spannung zu mindern, die sein unsicherer Gang und sein Speichelfluss bei seinen Mitstudenten hervorrufen konnten (etwa, indem er darüber scherzte, wenn es gerade passend war). Als der September begann, fühlte sich David bereit, seinen Weg am College anzutreten. Er fürchtete sich zwar noch immer davor, vielleicht wieder abgelehnt zu werden, aber er hatte dennoch das Gefühl, jetzt viel besser dafür gerüstet zu sein, mit sozialen Situationen umzugehen. Wir vereinbarten die nächste Sitzung für die erste Woche nach Beginn seines Unterrichts.
Als David dann meine Praxis betrat, war ihm sein Schmerz schon auf den ersten Blick anzusehen. Er ließ sich auf meine Couch fallen und seufzte tief. „Am ersten Tag kam ich früh zur ersten Unterrichtsstunde und setzte mich in die erste Reihe“, erzählte er. „Sonst setzte sich niemand mehr dorthin. Als ich ebenfalls früh zur zweiten Stunde kam, setzte ich mich in eine mittlere Reihe. Die Reihe vor mir füllte sich und die Reihe hinter mir auch, aber niemand setzte sich in meine Reihe. Auch zur dritten Stunde kam ich früh, aber diesmal wartete ich bis kurz vor Beginn des Unterrichts und setzte mich dann zwischen zwei Leute. Ich sagte ‚hallo‘, und sie nickten. Einer davon rückte nach ein paar Minuten zwei Plätze von mir weg. Der andere schaute mich nicht mehr an und stürzte davon, sobald der Unterricht aus war. Und mit allen anderen ging es mir genauso. Die Leute starrten mich an, als dächten sie, ich könne sie nicht sehen, oder sie schauten einfach weg. Niemand redete mit mir. Niemand nahm Blickkontakt zu mir auf, nicht einmal die Lehrkräfte.“
Ich war über Davids Bericht außerordentlich enttäuscht. Nachdem er so viele körperliche und seelische Belastungen gemeistert und so extreme soziale Zurückweisung erlebt hatte, lag es mir sehr am Herzen, dass er eine positive Erfahrung machte. Meine Hoffnungen waren nicht unvernünftig groß gewesen, und ich glaubte, dass selbst ein Minimum an sozialer Akzeptanz für sein Selbstwertgefühl und seine Lebensqualität Wunder gewirkt hätte. Wir hatten monatelang daran gearbeitet, wie David negative erste Eindrücke vielleicht korrigieren konnte. Doch wenn seine Mitstudenten ihn weiterhin mieden, wenn sich niemand neben ihn setzen oder seinem Blick begegnen wollte, wenn niemand bereit war, mit ihm zu reden, würde eine solche Korrektur extrem schwierig für ihn werden.
Davids Stimmung war im Keller, und ich fürchtete, er könnte in die Verzweiflung abgleiten. Die seelischen Wunden durch die lebenslangen Zurückweisungen gingen sehr tief, und David hatte bereits mehr emotionalen Schmerz erleiden müssen als die meisten Leute in ihrem ganzen Leben. Ich war entschlossen, David zu helfen, die Dinge zum Besseren zu wenden. Obwohl seine erste Woche so enttäuschend gewesen war, glaubte ich, es sei noch zu früh, alle Hoffnung aufzugeben. Aber wenn er auch nur die geringste Chance auf Erfolg haben wollte, musste er zuerst die neuen Wunden behandeln, die die gerade erlittenen Zurückweisungen geschlagen hatten.
Viele Zurückweisungen sind schwerwiegend (wie die von Angelo), wiederholen sich (wie Mobbing in der Schule oder am Arbeitsplatz) oder beides (wie Davids stets neue Ausgrenzung durch Gleichaltrige und Klassenkameraden). In solchen Situationen kann es erhebliche Risiken mit sich bringen, wenn wir unsere seelischen Wunden nicht behandeln. Doch nicht jede Zurückweisung erfordert seelische Erste Hilfe. Beispielweise hätten sich vermutlich die „Überlebenden“ des Ballwurf-Experiments auch vollständig von dieser Erfahrung erholt, wenn man sie nicht umfassend über den wahren Sinn und Zweck der Studie aufgeklärt hätte (was natürlich bei allen geschah). Öffnen wir also unser psychologisches Arzneischränkchen und schauen uns an, welche Behandlungsmöglichkeiten wir haben.
Allgemeine Behandlungsrichtlinien
Zurückweisungen können vier verschiedene seelische Wunden verursachen, von denen jede irgendeine Form emotionaler Erster Hilfe erfordern kann: Anhaltenden inneren Schmerz, Wut und aggressive Impulse, Schädigung unseres Selbstwertgefühls und Minderung unseres Gefühls, dazuzugehören. Wie bei allen Wunden ist es auch bei Verletzungen durch Zurückweisung am besten, sie so rasch wie möglich zu behandeln, um das Risiko einer „Infektion“ und psychischer Komplikationen zu vermeiden. Bitte beachten Sie, dass es hier nur um Erste-Hilfe-Maßnahmen geht, die jedoch unpassend oder nicht ausreichend sein können, sobald es um tiefer gehende Zurückweisungserfahrungen geht oder um solche, die sich massiv auf unsere seelische Gesundheit auswirken. Am Ende des Kapitels gebe ich Ihnen Leitlinien, wann Sie einen Psychiater, Psychologen oder Therapeuten konsultieren sollten.
Einige der gleich folgenden Maßnahmen lindern mehr als eine Art von Wundschmerz, andere wirken speziell auf eine. Die Maßnahmen sind in der Reihenfolge aufgeführt, in der sie durchgeführt werden sollten. Die Maßnahmen A (Umgang mit Selbstkritik) und B (Wiederbelebung des Selbstwertgefühls) zielen in erster Linie auf seelischen Schmerz und angeschlagenes Selbstwertgefühl, während Maßnahme C (Wiederherstellung der sozialen Verbundenheit) das bedrohte Zugehörigkeitsgefühl betrifft. Jede dieser drei Behandlungsmaßnahmen trägt auch dazu bei, Wut und aggressive Impulse zu verringern. Maßnahme D (Absenken der Sensibilitätsschwelle) ist optional, da sie unangenehme emotionale Nebenwirkungen haben kann.
Maßnahme A: Treten Sie der Selbstkritik entgegen
Zwar ist es wichtig, dass wir nach unserem eigenen Anteil an einer Zurückweisung fragen, damit wir offenkundige Fehler korrigieren und solche Erfahrungen künftig vermeiden können, aber das erfordert Fingerspitzengefühl. Allzu oft führt unser Versuch, zu verstehen, „was schiefgegangen ist“, zu einer übermäßigen Personalisierung oder Verallgemeinerung der Zurückweisung oder dazu, dass wir uns im Anschluss übertrieben stark selbst kritisieren. Ohne Not alle möglichen Fehler in unserem Charakter, an unserer äußeren Erscheinung oder unserem Verhalten festzustellen wird unseren augenblicklichen Schmerz nur noch steigern, die seelische Blutung verstärken und unsere Heilung erheblich verzögern. Daher ist es viel hilfreicher, uns lieber mit etwas zu freundlichem Blick zu betrachten, wenn wir unsere Rolle bei einer Zurückweisung bewerten, als uns für irgendwelche Fehler oder Mängel zu kritisieren.
Dennoch kann der Drang zur Selbstkritik in solchen Situationen außerordentlich stark sein. Um zu verhindern, dass wir uns treten, wenn wir schon am Boden liegen, müssen wir dazu fähig sein, mit unserer kritischen inneren Stimme zu streiten und zu einer wohlwollenderen Sichtweise von uns selbst zu gelangen. Um dieses innere Streitgespräch zu gewinnen, brauchen wir gute Argumente, die wir einsetzen können, um zu einem ausgewogeneren Urteil darüber zu gelangen, wie es zu der Zurückweisung gekommen ist.
ÜBUNG
Wie Sie der Selbstkritik entgegentreten
Gegenargumente für Zurückweisungen beim Dating